Freiheitsillusionen jenseits des Klassenbewusstseins

Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ erklären Marx und Engels das Proletariat zum Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft, der sie zugutehalten, dass sie die Menschen dazu bringe, sich keine Illusionen über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse zu machen, weil sie gezwungen seien, „ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“.[1] Damit widerspricht Marx allerdings seiner eigenen Behauptung in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, dass die „bedrängte Kreatur“ der Religion als eines betäubenden Opiums bedürfe, wohl um das Grauen zu bewältigen, das ihr nüchterner Blick offenbart. Der Religion als illusorischem Glück des Volkes müsse daher die „Forderung seines wirklichen Glücks“[2] entgegengesetzt werden. Und weil die Religion zwar auf illusorische Weise den Menschen Glück verspricht, damit aber ihren Glücksanspruch immerhin auch gelten lässt, gibt es auch die Auffassung, dass in diesem religiösen Glücksversprechen ein Ansatz zur Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins bestehen könnte. Nicht nur sein nüchterner Blick, sondern auch seine Illusionen sollen demnach ein Anlass zur Hoffnung sein, dass das Proletariat der bürgerlichen Gesellschaft den Gehorsam verweigere. Überdies werde die Verelendung des Proletariats dessen revolutionäre Gesinnung schüren und spätestens in Krisen der Kapitalakkumulation zu revolutionären Umstürzen führen.

Ebenso wie die Religion bereits einen Glücksanspruch erhebe, den verwirklichen zu wollen ein Zeichen revolutionärer Gesinnung sei, lasse sich auch die Verheißung der Freiheit nutzen, die ein freier Bürger nun einmal habe, der sich auch ganz allein für die Erfolge und Misserfolge im Gebrauch seiner Freiheit verantwortlich halten darf. Die Freisetzung leibeigener Bauern von ihrem bisherigen Grund und Boden sorgt schließlich dafür, dass diese nicht mehr von ihren Gutsherren abhängig sind. Weil Letztere keine Verwendung mehr für sie haben, werden die Bauern von ihren Produktionsmitteln ausgeschlossen und sollen ihre Freisetzung zur Lohnarbeit als Freiheit begrüßen, weil sie sich nun auf sich allein gestellt sind und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um Zugang zu Produktionsmitteln zu erhalten. Als doppelt freie Lohnarbeiter sind sie zwar keine Knechte mehr, nachdem sie von ihren Herren vertrieben wurden, weil diese ihrer nicht mehr bedürfen, sie sind aber auch „frei“ von allen Mitteln zur Erhaltung ihres Lebens, weil diese im Eigentum ihrer früheren Herren verbleiben. Sie haben nun der Vermehrung des kapitalistischen Eigentums ihrer früheren Herrschaften zu dienen und sind zur Erhaltung ihres Lebens auf den Lohn angewiesen, den diese nun als Kapitalisten fungierenden Herren zu zahlen bereit sind. Bei Rosa Luxemburg erscheint diese doppelte Freiheit einerseits in der „süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit“, die darin besteht, dass nun alle Menschen als freie Bürger mit gleichen Rechten gelten, die sich um ihren wirtschaftlichen Erfolg bemühen dürfen, ungeachtet der Mittel, über die sie dafür verfügen. Diese Schale verhülle aber andererseits „den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit“, der darin besteht, dass die einen Bürger die Produktionsmittel besitzen, während die anderen von diesen ausgeschlossen sind und nur über ihre Arbeitskraft verfügen, mit der sie ohne Zugang zu Produktionsmitteln nichts anfangen können. Die süße Schale der formalen Gleichheit und Freiheit sei aber ein Anreiz für die auf Lohnarbeit angewiesenen Bürger, „die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen“.[3]

Nicht nur die Ängste und Mühen ihrer Existenz sollen also die Einsicht proletarischer Bürger in die Notwendigkeit revolutionärer Erhebung hervorbringen, sondern auch die illusorischen Glücksversprechen der Religion sowie die Illusionen von Gleichheit und Freiheit, die sich aus ihrer bürgerlichen Existenzweise ergeben würden. Marxistische Intellektuelle der Zwischenkriegszeit hegten daher die Hoffnung, dass proletarische Bürger aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenssituation als geschädigte und leidende Menschen sowie wegen der Enttäuschung ihrer Glücks- und Freiheitsversprechen eine revolutionäre Gesinnung entwickeln würden. Diese revolutionär gestimmten Bürger, so dachten sie, müssten die sozialistischen Bewegungen nur noch stimulieren, affirmieren und organisieren. Als sich jedoch nicht nur ihre Deklassierung befürchtende Kleinbürger, sondern auch proletarische Massen schließlich zur Unterstützung der Faschisten entschlossen, herrschten Ratlosigkeit und Resignation. Weil die ökonomischen Prozesse nicht automatisch den revolutionären Umsturz herbeiführten, weil dieser Ökonomismus sich als falsch erwies, untersuchte Wilhelm Reich den sogenannten „subjektiven Faktor“,[4] also die psychologische Verfassung der bürgerlichen Individuen.

Soziales Elend bei gleichzeitigem Versprechen der Freiheit, der Gleichheit und des Glücks, das sich bei entsprechender Anstrengung einstellen würde und dennoch immerzu ausblieb – all dies galt als günstige Bedingung für eine Revolution. Diese blieb jedoch aus, weil viele Bürger es vorzogen, weiterhin an der Selbstbehauptung als Privateigentümer festzuhalten, deren Erfolg sich auch einstellen sollte, wenn sie nicht daran gehindert würden. Wilhelm Reich aber meinte erkannt zu haben, dass die Aussicht auf Freiheit und Gleichheit nicht eine revolutionäre Gesinnung begünstigen, sondern Angst und Schrecken verbreiten würde. Zum Schutz vor dieser als Bedrohung wahrgenommenen Freiheit würden sich die Bürger einen starken Staat wünschen, eine autoritäre Herrschaft. Die Wurzel dieser Angst sieht er in einer repressiven Sexualmoral, welche Angst vor sexueller Freiheit und Selbstbestimmung schürt, weil dies für die Selbstbehauptung als Privateigentümer eine Gefahr darstelle. Für die Selbstdisziplin, die zur Selbstbehauptung in der Konkurrenz der Privateigentümer notwendig ist, sorge das Regime des als Familienoberhaupt herrschenden Vaters, das im Über-Ich verinnerlicht werde. In dieser Konstellation erhalte auch Freuds Begriff des Ödipus-Komplexes seinen rationalen Gehalt. Die Psychoanalyse sei daher hilfreich für „die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie“, ihre Weiterentwicklung durch Wilhelm Reichs Sexualökonomie sei aber erforderlich zur Erklärung der „soziologischen Gründe“[5] für die Verdrängung und Unterdrückung der Sexualität.

Eigentlich müsste also die ökonomische Lage der proletarischen Bürger deren Klassenbewusstsein und damit deren revolutionäre Gesinnung hervorbringen, wenn nicht die Sozialisierung in der Familie zur Unterwerfung unter die Herrschaft des Vaters führen würde, deren Verinnerlichung jeden Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals im Keim ersticke. Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Existenzweise erscheinen damit nicht mehr als die süße Schale, deren Genuss laut Rosa Luxemburg zur Umgestaltung auch des herben Kerns sozialer Ungleichheit und Unfreiheit motivieren würde, sondern als Bedrohung, die nach dem Schutz autoritärer Herrschaft verlangt. Dass die ökonomische Lage proletarischer Bürger auch angesichts noch so großen Elends keineswegs zu einem revolutionären Bewusstsein führen muss, wird hier durch die psychologischen Besonderheiten der bürgerlichen Sozialisierung erklärt. Diesem Standpunkt liegt der Gedanke fern, dass die ökonomische Lage ganz unterschiedlich beurteilt werden kann und je nach den Schlüssen dieser Urteile verschiedene Überzeugungen hervorbringt. So lässt sich gerade in der Affirmation der freien Selbstbehauptung als Privateigentümer die Hinwendung zum Faschismus erklären, der die vermeintlichen Hindernisse dieser Selbstbehauptung zu beseitigen beansprucht, die sich in den betrügerischen Geschäftspraktiken von Agenten des feindlichen Auslands oder welch beliebigem Wahn auch immer zeigen würden. Sexualunterdrückung gilt dem Selbstverständnis eines erfolgstüchtigen bürgerlichen Subjekts mittlerweile auch als Schwäche, denn dieses zeichnet sich vielmehr durch den Erfolg eines Verführers aus, der sich auch mit seinen sexuellen Eroberungen als Sieger in Szene zu setzen weiß. Wenn Wilhelm Reich in seinem letzten Lebensabschnitt Sexualunterdrückung nicht mehr mit dem Kapitalismus verbindet, sondern mit dem Totalitarismus, der Faschismus und Sozialismus gemeinsam sei, wenn somit freier Sexualverkehr und freier Kapitalverkehr für ihn zusammengehören, ist das daher nur konsequent. Der linke Anarchismus von Deleuze und Guattari im „Anti-Ödipus“ und der Anarcho-Kapitalismus einer Ayn Rand weisen hier eine Gemeinsamkeit auf, die weder ihnen noch sonst jemandem jemals aufgefallen sein dürfte.


[1] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 465

[2] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1, S. 379

[3] Rosa Luxemburg, zit. n. Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Hamburg 2007, S. 197

[4] Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Gießen 2020, S. 34

[5] Ebd., S. 36 f.

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