2024

Nichts als Imperialismus

Wien, 27. 2. 2024

In den acht Jahren seiner Amtszeit hat US-Präsident Ronald Reagan mehr Geld für Militär ausgegeben, als die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis dahin verwendet haben: „In eight years Ronald Reagan spent $ 2.5 trillion on the military, more than was expended in all the years since World War II.“[1] Folglich wuchs die Staatsschuld der USA auch um ein Vielfaches, nämlich von 900 Milliarden auf 2,7 Billionen Dollar, also eine Verdreifachung in acht Jahren.[2] Diese exorbitante Steigerung der Rüstungsausgaben hatte den Zweck, endgültig und für alle Zeit den einzigen Widersacher einer US-Weltherrschaft zu bezwingen, nämlich die Sowjetunion und deren verbündete Staaten. Als schließlich die Sowjetunion angesichts der massiven Aufrüstung der USA kapitulierte und somit totgerüstet wurde, kannte die Begeisterung der imperialistischen Staaten über ihren Sieg im Kalten Krieg keine Grenzen und diese kosteten ihren Triumph aus, indem sie Repräsentanten der nun besiegten sozialistischen Staaten unnachsichtig verfolgten und ihrer „gerechten“ Strafe zuführten.

Ein Motiv für die endgültige Erledigung des feindlichen Systems war auch die Überakkumulationskrise der Westmächte. Nachdem diese bereits Kapital in Staaten der Dritten Welt exportiert hatten, die nun von den Zinsforderungen des Finanzkapitals heimgesucht wurden, und die Verwertungsmöglichkeiten des vorhandenen Kapitals an ihre Grenzen stießen, war die ohnehin prinzipiell inakzeptable Beschränkung eines globalen Kapitalismus durch den Sowjetblock einfach nicht mehr auszuhalten. Um also eine massive Entwertung überschüssigen, weil über keine Verwertungsmöglichkeiten verfügenden Kapitals zu verhindern, musste die Schranke der Kapitalverwertung beseitigt werden, die in der Existenz der realsozialistischen Staaten bestand. Der Sieg über den Systemgegner im Kalten Krieg war daher zu einer immer dringenderen Notwendigkeit für den Fortbestand des Kapitalismus geworden. Zudem war die Industrie des realen Sozialismus nicht für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt eingerichtet, sondern diente den Interessen eines sozialistischen Staates, und so war es einfach zu bewerkstelligen, diese Gebiete zu desindustrialisieren, also ihnen sozusagen die Entwertung des Kapitals aufzuhalsen, die sonst die führenden kapitalistischen Nationen hinnehmen hätten müssen. So aber konnte dieses Kapital sich in den ehemaligen Ostblock ausdehnen und alles aneignen, was in irgendeiner Form kapitalistisch verwertbar war, und wenn es nur gut ausgebildete Arbeiter zu Löhnen für die unqualifizierte Arbeit sogenannter „Hilfsarbeiter“ waren. Das überschüssige und nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital hatte also nun wieder Möglichkeiten zum Kapitalexport und die 1990er-Jahre waren von einer entsprechenden Goldgräberstimmung mit nun wieder beschleunigter Kapitalakkumulation geprägt. Alle jene wirtschaftlichen Einrichtungen, die nur der lokalen Versorgung dienten, wurden eliminiert und durch Niederlassungen der für den Weltmarkt produzierenden multinationalen Konzerne ersetzt. Dadurch konnten die ehemaligen Volksgenossen endlich die keineswegs ersehnte Bekanntschaft mit den vermeintlichen Propagandalügen ihres früheren sozialistischen Staates über reale kapitalistische „Errungenschaften“ machen: Arbeits- und Obdachlosigkeit, hohe Preise für Lebensmittel, Mieten, Energie und Verkehr, unzureichende oder unerschwingliche medizinische Dienstleistungen, wenige, dafür aber kostspielige Plätze für Kinderbetreuung etc. Ganz erstaunt mussten sie feststellen, dass es in einem kapitalistischen Unternehmen keineswegs gestattet war, während der Arbeitszeit einkaufen zu gehen, dass Krankheit oder Schwangerschaft möglichst zu vermeiden sind. Endlich wurde das früher im Sozialismus so eintönige Leben wieder spannend und die Persönlichkeit konnte sich in der Bewährung von Existenzängsten entwickeln und wachsen. Die darüber bereits wenige Jahre nach der sogenannten „Wende“ einsetzende „Ostalgie“ sprach natürlich nur dafür, dass es sich bei diesem Menschenschlag um eine vom realen Sozialismus, unter dem sie doch angeblich so gelitten hatten, verdorbene Sippschaft handeln konnte. Gefährlich konnte der sich hier äußernde Unmut auch nicht werden, schließlich gab es hier keine benachbarte Staatsgewalt, welche diese Unzufriedenheit und deren Sehnsüchte zur Aufwiegelung gegen ihre Herrschaft hätte fördern können, wie das von der BRD gegen die DDR praktiziert worden war.

Vorhandene Reproduktionsstrukturen zu zerstören, um dem kapitalistischen Zugriff gemäße gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, war immer schon die Voraussetzung für imperialistische Expansionen gewesen. Auch darauf weist Michael Parenti bereits in seinem Buch aus dem Jahr 1995 hin, indem er den Mythos der Unterentwicklung kritisiert, der schon immer als Rechtfertigung für Eroberungen gedient hat. Überlegen waren die Mächte des Westens und des Nordens vor allem in der Gewalt ihrer Waffen: „Superior firepower, not superior culture, has brought the Europeans and Euro-North Americans to positions of supremacy that today are still maintained by force, though not by force allone.“[3] Nicht allein Gewalt, sondern die herrschende Wirtschaftsordnung sowie die dazu passenden Ideologien, die immer wieder vorgebrachten „Werte“ erhalten den imperialistischen Staaten ihren Vorsprung in Form wirtschaftlicher und technologischer Überlegenheit. Und bis vor kurzem war es auch keine militärische Herausforderung, wenn eine Nation aus der Reihe tanzte und sich herausnahm, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen, die nicht im Sinne der Weltordnungsmächte waren. Da gibt es so viele Fälle von Interventionen, über die Buch zu führen eine mühselige Arbeit wäre. Parenti erwähnt hier unter anderen die militärische Intervention der USA unter Reagan gegen Grenada, die vor allem deswegen erwähnenswert ist, weil hier tatsächlich einmal der Vergleich mit dem Konflikt von David gegen Goliath passend ist. Mit seinen 102.000 Einwohnern war Grenada wahrlich keine Bedrohung für die USA und es war auch kein wichtiger Handelspartner, der dadurch weggebrochen wäre. Aber nachdem dort eine reformistische Regierung Landreformen, Programme öffentlicher Gesundheitsfürsorge und Ausbildung sowie Genossenschaften durchsetzte, mussten die USA andere Staaten von solchen „Abenteuern“ abschrecken. Nun herrschen dort wieder die gewünschten wirtschaftlichen Verhältnisse: „Today, with its unemployment at new heights and its poverty at new depths, Grenada is once again firmly bound to the free market world.“[4] Solche Interventionen gab es in großer Zahl, Parenti erwähnt neben Grenada noch Vietnam, Nordkorea, Kambodscha, Laos, Libanon, Philippinen, Panama, Libyen, Irak und Somalia, vor dem Zweiten Weltkrieg hatten bereits die Philippinen und die gerade entstandene Sowjetunion, China, Nicaragua, Haiti, Kuba, Mexiko, Honduras und Panama die zweifelhafte „Ehre“, vom US-Militär heimgesucht zu werden. Darüber hinaus unterstützten die USA finanziell und mit militärischer Ausrüstung jede Menge autoritärer Staaten, die Massaker an ihrer Bevölkerung ausübten und Folterungen durchführten, nämlich die Türkei, Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), Tschad, Pakistan, Marokko, Indonesien, Honduras, Peru, Kolumbien, El Salvador, Haiti, Kuba (unter Batista), Nicaragua (unter Somoza), Iran (unter dem Schah), die Philippinen (unter Marcos) und Portugal (unter Salazar).[5]

Weil solche Handlungen der USA von der gängigen historischen Forschung wenn nicht ignoriert, so zumindest relativiert werden, drängt sich der Schluss auf, dass es nicht die Gewalt der Staaten ist, anhand welcher die USA ihre Feinde „erkennen“. Es verhält sich vielmehr umgekehrt so, dass ihre Feinde natürlich keine Gewalt ausüben dürfen, weil sie damit natürlich ihrer Herrschaft dienen, welche die USA und ihre Verbündeten beseitigen wollen. Also nur deshalb, weil sie nicht ihren, ja sogar feindlichen Zwecken dienen, werden nahezu beliebige bis lächerliche Anschuldigungen gegen die nicht gefügigen Staaten erhoben. Nicht anders verhält es sich natürlich mit den Vorwürfen im gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine, dass Russland jede Menge grauenhafte Kriegsverbrechen begangen habe. Der Krieg von Russland gegen die Ukraine unterscheidet sich von den soeben aufgezählten US-Interventionen in zweifacher Hinsicht: Die USA kämpfen nicht mit offiziellen eigenen Truppen und bei Russland handelt es sich um eine Macht, die sich nicht so einfach militärisch bezwingen lässt. Da trifft es sich natürlich gut, dass die USA und die übrigen Westmächte sich auf Waffenlieferungen beschränken können, während den Blutzoll die Menschen in der Ukraine zu leisten haben.

Bekanntlich besitzen die USA außerhalb ihres eigenen Territoriums mehr als 800 Militärstützpunkte, während Russland laut Auskunft des CDU-Politikers Roderich Kiesewetter nur „über knapp 20 verfügt“,[6] was auch immer man sich unter „knapp 20“ vorstellen soll. (Ist eine Militärbasis vielleicht nur halb fertig?) Herr Kiesewetter findet das auch vollkommen in Ordnung, weil die USA mit ihren militärischen Einrichtungen ja nur den Frieden sichern, der offensichtlich zu deren Nutzen eingerichtet ist, weil er sonst ja kaum gefährdet wäre. Deswegen habe sich Russland ja auch die Ausbreitung der NATO bis an seine Grenzen gefallen zu lassen, während dessen Reaktion darauf mit dem Krieg in der Ukraine nur seine imperialistischen Ambitionen offenbare. Dass Russland angesichts dieser Logik viel mehr Ursache hat, sich durch die Expansion der NATO bedroht zu sehen, darf nicht gelten, denn Russland erweise sich dadurch erstens als paranoid und zweitens als imperialistische Macht. Wenn Russland in der Ukraine nicht gewinnen darf, weil es dadurch Appetit auf weitere Eroberungsfeldzüge bekommen könnte, soll das umgekehrt allerdings nicht die Paranoia der Westmächte beweisen.

Spätestens hier zeigt sich der Nutzen falscher Urteile über den Imperialismus, den die Geschichtswissenschaft auf dessen kolonialistische Ursprünge beschränkt wissen will. Dieser „territoriale Imperialismus“, wie Parenti den Kolonialismus nennt, bezweckte die Herrschaft über fremde Gebiete, um diese exklusiv den nationalen Interessen der Eroberer verfügbar zu machen. Das hatte allerdings den Nachteil, dass die neuen Herren für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft einen beträchtlichen Aufwand betreiben mussten, den sie besser einer lokalen Herrschaft aufbürden, die sie nur dann mit militärischen Mitteln zur Räson bringen müssen, wenn sich diese nicht an die von den imperialistischen Mächten bestimmte Weltordnung hält. Daher waren und sind die USA weniger am Besitz von Kolonien interessiert, als an den von ihnen festgelegten Handelsbeziehungen, deren desaströse Folgen von eigenständigen Nationen allein zu bewältigen sind: „Historically U.S. capitalist interests have been less interested in acquiring more colonies than in acquiring more wealth, preferring to make off with the treasure of other nations without bothering to own and administer the nations themselves.“[7] Dass es mittlerweile dadurch jede Menge sogenannter gescheiterter Staaten (failed states) gibt, ist gleichgültig, solange sich diese nicht als Störung der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Ordnung bemerkbar machen.

Um jederzeit an jedem Ort militärisch gegen die „Feinde der Demokratie und der Menschenrechte“ vorzugehen, benötigen die „Friedensmissionen“ des US-Militärs entsprechende Ressourcen, weshalb auch die Militärausgaben nicht mehr gesunken sind, nachdem Reagan diese zu einem neuen Höhenflügen gebracht hatte, obwohl damit der große Systemgegner zum Eingeständnis seiner Niederlage gezwungen worden war. Mit dem Rechtsbewusstsein, überall für Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu sorgen, kennt die Gewalt auch keine Schranken in ihrem Kampf gegen die Feinde dieser höchsten Werte, die erst wirklich einen Menschen ausmachen würden. Und so besteht immerhin hier eine Kontinuität mit der kolonialistisch geprägten Frühform des Imperialismus, der seine Kolonialisierung fremder Gebiete ja auch damit rechtfertigte, dass dadurch die „barbarischen Heiden“ mit den humanistischen Werten des Christentums beglückt werden sollten. Nun werden diese „Barbaren“, als welche seit 2022 vor allem Russen gelten, eben mit den humanistischen Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten bekannt gemacht, in einer jede Gewalt rechtfertigenden Art und Weise, für die nur ihre Uneinsichtigkeit verantwortlich sei. Und so erklärt sich auch, weshalb die Gewalt der imperialistischen Mächte als deren selbstverständliches gutes Recht zu gelten hat und darüber auch nicht peinlich genau Buch zu führen ist, ganz im Gegensatz zu deren Gegnern. Deswegen existiert hier auch kein Erinnerungsvermögen, „das in der Bundesrepublik lediglich gefragt ist, wenn es um ostelbische Immobilien und Ländereien geht“,[8] wie Dieter Kraft so treffend formuliert hat. Sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dürfen die Massaker des Imperialismus mildernde Umstände in Anspruch nehmen, welche dessen Gegnern natürlich keineswegs zugestanden werden. Die dafür erforderlichen Rechtfertigungsmanöver entsprechen zwar der Vorgangsweise von Winkeladvokaten, wie Dieter Kraft sagt, aber in ihrem Fall sind imperialistische Staaten nicht so kleinlich, auch wenn die Beanspruchung eines Kriteriums „nur für sich und die eigene Sache (…) gerade die Definition für Dogmatismus auf theoretischer und Heuchelei auf moralischer Ebene (ist)“.[9] Und so gilt Stalin womöglich deswegen als Inkarnation des Bösen, weil er für eine Entwicklung steht, „ohne die Russland heute wahrscheinlich eine Kolonie wäre und keine militärische Weltmacht“.[10] Um dieses Verhältnis umzukehren, lassen die Westmächte derzeit die Ukraine gegen Russland kämpfen.


[1] Michael Parenti: Against Empire, San Francisco 1995, S. 166: In acht Jahren gab Ronald Reagan 2,5 Billionen Dollar für das Militär aus, mehr als in all den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg aufgewandt worden war. (eigene Übersetzung)

[2] Ebd., S. 167

[3] Ebd., S. 8: Überlegene Feuerkraft, nicht überlegene Kultur hat die Europäer und die Euro-Nordamerikaner zu Positionen der Vorherrschaft gebracht, die noch heute durch Gewalt aufrechterhalten werden, wenn auch nicht durch Gewalt allein. (eigene Übersetzung)

[4] Ebd., S. 42: Heute, mit seiner Arbeitslosigkeit auf neuen Höhen und seiner Armut in neuen Tiefen, ist Grenada erneut fest in die Welt der freien Marktwirtschaft eingebunden. (eigene Übersetzung)

[5] Ebd., S. 37 ff.

[6] Roderich Kiesewetter am 25. 8. 2022 in Beantwortung einer Frage vom 24. 8. 2022, https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/roderich-kiesewetter/fragen-antworten/warum-unterhalten-die-usa-ueberall-in-der-welt-an-die-1000-militaerbasenrussland-hat-angeblich-nur-20, aufgerufen am 26. 2. 2024.

[7] Michael Parenti: Against Empire, a. a. O., S. 15: Historisch hatten US-Kapitalisten weniger in Interesse am Erwerb von mehr Kolonien als an der Aneignung von Reichtum, sie zogen es vor, sich mit dem Reichtum anderer Nationen davonzumachen als sich damit zu plagen, diese Nationen selbst zu besitzen und zu verwalten. (eigene Übersetzung)

[8] Dieter Kraft: Friedenspolitischer Ratschlag, in: Constanze und Dieter Kraft: Einsichten und Widersprüche. Texte aus drei überwältigten Jahrzehnten, Kassel 2020, S. 108

[9] Domenico Losurdo: Stalin: Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, S. 327, zit n. Dieter Kraft: Stalin – eine schwarze Legende, in: Constanze und Dieter Kraft: Einsichten und Widersprüche, a. a. O., S. 335

[10] Dieter Kraft: Stalin – eine schwarze Legende, a. a. O., S. 333

Die Demokratie ist in Gefahr!

Wien, 19. 2. 2024

So lautet die Klage angesichts einer angeblich wachsenden Anzahl von Menschen, die eine stabile Ordnung durch die starke Hand eines Diktators dem „Chaos“ vorziehen würden, das sie in einer freien und demokratischen Gesellschaft am Werk sehen. Damit steht auch schon fest, dass eine Kritik der Demokratie nur gegen deren Urheber sprechen kann. Diese seien nicht in der Lage, Verantwortung für ihr Dasein zu übernehmen, weder als wirtschaftliche noch als politische Subjekte. Und da es einen beklagenswerten Zustand darstellen soll, wenn die Demokratie in Gefahr sei, ist wohl auch kaum eine andere Schlussfolgerung möglich als jene, dass diese Gefahr nur ein Zeichen mangelnder demokratischer Reife sein könne. Da die Demokratie als ein bedingungslos hohes Gut gilt, dessen Kritik sich von vornherein verbietet, spricht deren Kritik nur gegen ihre Kritiker. Dennoch drängt sich hier die Frage auf, wie es sein kann, dass eine als derart vernünftig geltende Einrichtung wie die Demokratie so viel Feindseligkeit hervorruft. Dies einfach mit mangelnder demokratischer Reife abzutun, macht es sich hier wohl doch zu einfach.

Wäre die Demokratie jener zwanglose Zusammenhang, für den sie sich hält und als welchen sie sich darstellt, so ließe sich nicht erklären, wie es in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt zu Unstimmigkeiten, unüberbrückbaren Konflikten und Feindschaften, ja zu Hasstiraden und Feindbildern kommen könne. Umgekehrt lässt sich aus diesen Phänomenen darauf schließen, dass die Vorstellung nicht haltbar ist, wonach es sich bei der Demokratie um eine selbstbestimmte freie Gesellschaft und nicht um eine Form von Herrschaft handle. Dennoch denkt jeder bei der Warnung vor einer Gefahr für die Demokratie sofort an die Abschaffung von Selbstbestimmung und Freiheit, als deren Hort ja die bürgerliche Gesellschaft insgesamt gilt. Diese versteht sich als Zusammenhang, in welchem die Bürger allein gemäß ihren Interessen und daher ohne äußeren Zwang miteinander verkehren. Wozu es dann aber der Ermächtigung einer politischen Herrschaft bedürfte, müsste man sich nun fragen. Um dieser Frage zu entgehen, lohnt es sich zu bestreiten, dass es sich bei der Demokratie im Wesentlichen um nichts weiter als eine spezifische Form staatlicher Herrschaft handelt. Dann denken eben alle bei der Warnung, dass die Demokratie in Gefahr sei, an die drohende Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, nicht aber an eine Herrschaft, deren Nutznießer um ihren Nutzen bangen, den keineswegs alle Bürgern daraus ziehen, die zum Großteil als dessen Mittel zu agieren genötigt sind.

Würde eine sozialistisch orientierte Staatsmacht davor warnen, dass der Sozialismus in Gefahr sei, so bestünde die Reaktion keineswegs in der Anteilnahme an dieser Sorge, sondern es würde sich Genugtuung breitmachen, dass endlich eintreffe, was schon längst fällig sei. Genauso ist es ja geschehen, als die realsozialistischen Staaten ihre Staatsräson aufgaben, weil der Kapitalismus darin überlegen schien, sich als Herrschaft in einer Welt voller konkurrierender Staaten zu behaupten. Dass hier auch jede Menge von außen geschürte Unzufriedenheit und Verblendung der ehemaligen Volksgenossen wirkte, die alles für Propagandalügen hielten, was ihnen über den Kapitalismus erklärt worden war, sei hier nur am Rande erwähnt. Für die hier von mir vorgetragenen Erläuterungen genügt es festzuhalten, dass bei „Sozialismus in Gefahr“ hierzulande jeder sofort denkt: „Na, was denn sonst und na endlich und Gott sei Dank“, während bei dem Ruf „Demokratie in Gefahr“ jeder sofort erbleicht und sich von der maßlosen Herrschaft einer Diktatur bedroht sieht. Damit ergibt sich allerdings die Frage, wie und wodurch denn die Demokratie in Gefahr geraten könne, wenn sich doch alle für sie begeistern und angesichts ihrer Gefährdung sofort für ihre Rettung einsetzen. Wie soll diese Gefahr also möglich sein, wenn doch die Demokratie für alle nur Vorteile bringe?

Ist man der Auffassung, dass die Demokratie allen Menschen nützlich sei, so kann man sich die Abwendung von ihr nur so erklären, dass die Menschen diesen Nutzen gar nicht mehr erkennen und darüber hinaus die Demokratie für selbstverständlich halten würden. Letzteres sei vor allem deshalb gefährlich, weil dadurch das Bewusstsein verloren gehe, dass die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigt werden müsse. Wer aber sollen diese Feinde sein? Hier fallen dem demokratischen Sachverstand sofort psychische Abgründe ein, die in jedem Menschen schlummern würden. So könne es als mühsam erscheinen, mit Argumenten für die eigenen Auffassungen werben und um Beschlüsse ringen zu müssen, anstatt diese einfach machtvoll durchzusetzen. Viele würden einfach nicht die Geduld für demokratische Entscheidungsprozesse aufbringen, die ihnen daher nur als Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Interessen erscheinen. Oder es seien bestimmte Menschen deswegen mit der Demokratie nicht zufrieden, weil sie ihrer Herrschsucht keinen Raum gebe, während andere sich nur zu gerne einem Führer unterwerfen würden, weil sie sich lieber an Befehle klammern, anstatt selbst Entscheidungen treffen und verantworten zu müssen.

Es gibt aber auch Stimmen, die befürchten, dass demokratische Prozesse den Staat der Unvernunft seiner Bürger ausliefern würden. Anstatt vernünftig zu sparen und den vorhandenen Reichtum für zukünftige Generationen zu bewahren, würden die Bürger diesen verschwenden und über ihre Verhältnisse leben. So ist das eben bei verantwortungslosen Menschen, denen es an der richtigen Härte zur Selbstbehauptung in der Konkurrenz mangelt. Solche Charaktere wollen nicht nur, dass andere für sie entscheiden, was zu tun sei, sondern sie wollen sich auch in der sozialen Hängematte gehen lassen. Und weil die Führer des Staates wieder gewählt werden wollen, würden sie eher die Pleite des Staates riskieren, indem sie die Bürger mit Sozialleistungen verwöhnen, als ihre Bestätigung im Amt zu riskieren. Seltsamerweise wird der Vorwurf, dass die Demokratie die Herrschaft des Staates gefährde, allerdings nicht als Gefahr für die Demokratie beurteilt. Das könnte natürlich daran liegen, dass insgeheim jeder weiß, wie sehr demokratische Ermächtigung und staatliche Herrschaft zusammenhängen. Denn um mehr als die Bestätigung dieser Herrschaft geht es ja in einer demokratischen Wahl nicht. Deswegen ist ja auch keine Partei zur Wahl zugelassen, die nur ein Anliegen durchsetzen will, denn ein solches „imperatives Mandat“ ist in der Verfassung verboten. Jede Partei, die sich um die Führung des Staates bewirbt, muss konsequenterweise ein Herrschaftsprogramm vorweisen, in dem sie präsentiert, welchen Gebrauch sie von den Ämtern machen will, um die sie sich in der Wahl bewirbt. Und dieser Gebrauch ist natürlich durch die staatliche Funktion dieser Ämter bestimmt. Darüber ist auch kein Politiker an irgendeinen Auftrag bzw. ein imperatives Mandat seiner Wähler gebunden, denn das würde als Unterwerfung unter partikulare Interessen und daher als undemokratisch gelten.

Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass die bürgerliche Demokratie nicht jenes Paradies ist, als welches sie gelten will. Die staatlichen Funktionen, für die sich Politiker bewerben, stehen fest und beschränken deren Handlungsspielraum. Was auch immer sich ein Wähler bei seiner Stimmabgabe denkt oder davon erhofft, spielt in Wirklichkeit keine Rolle und daher handeln sich die Politiker den Vorwurf der Lüge und der Heuchelei ein. Die Haus- und Hofberichterstattung in Gestalt der Medien klagt daher über Politikverdrossenheit, weil mangelnde Zustimmung zur bürgerlichen Herrschaft als Gefahr für diese betrachtet wird. Und spätestens hier könnte einem auffallen, dass die Klage um eine Gefahr für die Demokratie nichts anderes als die Sorge um die Aufrechterhaltung bürgerlicher Herrschaft ist. Zu dieser aber passt die Demokratie viel besser als eine Diktatur, weil sie dem Anspruch der Selbstbestimmung entspricht, der sich in der bürgerlichen Konkurrenz als Nötigung zur Selbstbehauptung geltend macht. So wie die Bürger an der Konkurrenz trotz all der Misserfolge, die sie hierin erleiden, als Mittel ihrer Selbstbehauptung festhalten sollen, weil ganz abstrakt oder prinzipiell ihr Erfolg darin möglich wäre, sollen sie in der diese Konkurrenz überwachenden und regulierenden Staatsgewalt ihr Mittel sehen und sich für die demokratische Ermächtigung ihrer Staatsführung begeistern. Richtig begeistert und daher um den Fortbestand dieser Herrschaft besorgt sind natürlich die Nutznießer dieser gesellschaftlichen Verhältnisse, während die Konkurrenzverlierer eher keinen Grund haben, an diesen festzuhalten.

Um für die Herrschaft der Demokratie zu werben, soll sich jeder deren Abwesenheit als tyrannische, diktatorische oder auch autoritäre Herrschaft, somit als totale Unterwerfung seiner Person vorstellen, angesichts deren er mit der Demokratie doch bestens bedient sei, weil diese der Herrschaft Schranken setze. Da trifft es sich auch gut, dass es so etwas wie das Bedürfnis nach Herrschaft an sich nur als Ersatzprogramm für ausbleibenden Konkurrenzerfolg in sadomasochistischen Beziehungen gibt. Üblicherweise dient Herrschaft nämlich bestimmten Zwecken, die im Falle der bürgerlichen Gesellschaft eben für eine große Mehrheit alles andere als bekömmlich sind und daher herrschaftlicher Einrichtungen bedürfen. Die Schädigung anderer Menschen ist zwar in der Regel nicht der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sie wird aber sofort in Kauf genommen, wenn sie für die Maximierung von Profit erforderlich ist oder auch nur scheint. Um diese Schädigungen als vertretbar hinzustellen, ist es natürlich auch hilfreich, sich noch viel schlimmere Leiden vorzustellen, die einen erwarten würden, wenn nicht die Demokratie herrschte, sondern ein Diktator. Weil dieses Mittel aber zunehmend seinen Dienst versagt, was mit dem zunehmenden Elend zusammenhängen könnte, das auf dieses Mittel angewiesene Menschen zu bewältigen haben, wird die Gefahr für die Demokratie von jenen beschworen, die dieses Mittels nicht bedürfen, weil sie zu den Nutznießern bürgerlicher Herrschaft gehören. Diese einfache Wahrheit soll natürlich niemand begreifen, sondern in der Gefahr für die Demokratie einen Schaden für sich sehen, obwohl dieser bereits in der Demokratie vorhanden ist.