2024

Die Rätsel der Elfriede Hammerl

Wien, 10. 10. 2024

In der Ausgabe Nummer 25 der Zeitschrift profil vom 22. Juni 2024 „rätselt“ Elfriede Hammerl darüber, weshalb sie auf der Plattform X (davor Twitter) für die Bezeichnung von Erben als „Nichtsnutze“ angegriffen worden ist. Vor allem folgende Aussage scheint anstößig gewesen zu sein: „Nichtsnutzige Erb:innen habe ich sie genannt, weil sie – als Erb:innen – von keinem Nutzen für die Gesellschaft, also die Mitmenschen sind.“[1] Darüber hinaus würden diese von ihrem ererbten Vermögen auch noch einen schädlichen Gebrauch machen, indem sie mit ihren riesigen Jachten die Umwelt belasten.

Soweit ich Hammerls folgender Darstellung der gegen sie geäußerten Vorwürfe entnehmen kann, ist die Bezeichnung von Erben als „nichtsnutzig“ nicht wegen der Verwandtschaft dieser Bezeichnung mit dem faschistischen Begriff des unwerten, weil unnützen Lebens kritisiert worden. Einige Kritiker beklagen zwar die Verletzung der so bezeichneten Menschen in ihrer Menschenwürde, vor allem aber scheinen sich einige Kritiker daran gestoßen zu haben, dass dieser Begriff des „Nichtsnutzes“ hier keineswegs angebracht sei: „Milliardäre sind schließlich durch Fleiß und Leistung zu ihren Milliarden gekommen, sollen sie dafür bestraft werden?“, entgegen sie Elfriede Hammerl. Sie kennen zwar durchaus Nichtsnutze, halten Erben jedoch keineswegs dafür. Nichtsnutze sind für sie vielmehr die Empfänger von Sozialhilfe, weil diese ja vom Staat kommt, während die Erben gerade nicht der öffentlichen Hand zur Last fallen, sondern im Gegenteil sogar einen Beitrag zur Finanzierung des Staates leisten, indem sie Steuern zahlen. Wie hoch diese Steuern sind, ist für diesen Gedankengang von untergeordneter Bedeutung, wesentlich ist, dass Reiche überhaupt Steuern zahlen, damit den Staat alimentieren, während Sozialhilfeempfänger von den sozialstaatlichen Einrichtungen Geld erhalten und damit dem Staat nicht nur nichts nützen, sondern ihn sogar etwas kosten, also belasten. Weil gemäß dieser Logik nicht mehr Steuern von Reichen, sondern Einsparungen im Sozialbereich sachlich geboten und „gerecht“ scheinen, meint Hammerl einen Neid auf Sozialhilfeempfänger zu erkennen und klagt über „eine merkwürdige Welt, in der es manchen besser geht, sobald es nur den Schlechtergestellten noch schlechter geht“.

Diese merkwürdige Welt ist für Hammerl ein Rätsel. Wie kommt es nur dazu, fragt sie sich, dass die Menschen keinen Unterschied zwischen Erwerbseinkommen und Kapitalerträgen machen, denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich erklären, dass sie zur Verteidigung der Reichen antreten. Milliardenvermögen kommen nämlich nicht durch Lohnarbeit zustande, stellt sie richtigerweise fest, auch mit Überstunden schaffen es fleißige Angestellte, Bauarbeiter oder Tellerwäscher niemals, so viel Geld zur Seite zu legen, dass sie irgendwann Millionen angespart hätten, von Milliarden ganz zu schweigen. Eigenartigerweise enthält Hammerls Richtigstellung aber auch eine Bestätigung des kritisierten Standpunktes und damit einen Widerspruch: „Der viel zitierte Tellerwäscher wird nicht durch Tellerwaschen zum Millionär, sondern dadurch, dass er, statt weiter Teller zu waschen, geschickt als Geschäftsmann agiert“, behauptet sie. Wenn sie geschäftliches Geschick zur Ursache des Reichtums erklärt, widerspricht sie ihrer nur wenige Zeilen davor geäußerten Feststellung, dass Milliardenvermögen aus Kapitalerträgen stammt, „weil sich Kapital unter günstigen Rahmenbedingungen ohne jede Arbeitsleistung des oder der Vermögenden vermehrt“. Wie verhält es sich nun wirklich? Ist es das Geschick eines Geschäftsmannes oder sind es günstige Rahmenbedingungen, die zu Kapitalwachstum führen? Besteht das Geschick des Geschäftsmannes dann im Erkennen oder in der Herstellung günstiger Rahmenbedingungen für die Verwertung seines Kapitals? Klar, wenn der Kapitalismus gerade eine großflächige Reichtumsvernichtung im Zuge imperialistischer Kriege hingekriegt hat, sind die Rahmenbedingungen bei den Kriegsverlierern zunächst einmal ungünstig, weil sie über keine Zahlungsfähigkeit verfügen. Hat aber die siegreiche Nation ein strategisches oder wirtschaftliches Interesse an ehemaligen Kriegsgegnern, so stattet sie diese mit Zahlungsfähigkeit aus und ermöglicht ihnen dadurch einen Wiederaufbau, der dem Kapitalwachstum günstige Bedingungen bietet. So sind die USA nach dem Zweiten Weltkrieg mit der BRD verfahren, um diese als Frontstaat gegen den sozialistischen Staatenblock einzurichten, weshalb es in diesem Fall keinen Versailler Schandfrieden gab, wie nach dem Ersten Weltkrieg, sondern den Marshall-Plan, um kapitalistisches Wachstum anzustoßen.

Vielleicht meint Hammerl aber auch nur, dass noch so geschickte Geschäftstätigkeit nicht erfolgreich ist, wenn keine günstigen Verwertungsbedingungen für das Kapital bestehen, weil wieder einmal eine Überakkumulationskrise und in deren Folge Krieg herrschen. Günstige Bedingungen allein verbürgen aber auch laut Hammerl keinen kapitalistischen Erfolg, dafür braucht es auch geschäftliches Geschick, wie sie selbst feststellt, sodass sich das Kapital gerade nicht „ohne jede Arbeitsleistung des oder der Vermögenden vermehrt“. Damit ist sie den scheinbar einfältigen Menschen, die nicht zwischen Erwerbseinkommen und Kapitalerträgen unterscheiden können, allerdings viel näher, als sie meint. Denn genau darauf zielt ja die Verteidigung der weniger betuchten Bürger ab, dass sich Kapital nämlich nicht von selbst vermehre, sondern es dafür Geschick und Köpfchen brauche, dass also auch für Kapitalerträge die individuelle Leistungsfähigkeit der Bürger die Basis sei. Hammerl hingegen äußert die Vermutung, dass sich Kleinbürger und Lohnabhängige mit ihren eher unterdurchschnittlichen Einkünften gerne zur Mittelschicht zählen, „um sich sozial aufzuwerten“. Deswegen würden sie Angriffe auf Reiche als Angriffe auf sich selbst betrachten, zumal sie darin von Reichen bestärkt würden, die sich zur Vorbeugung gegen Neid selbst gerne als Mittelschicht darstellen, weil es ja immer ein paar Leute gebe, die noch reicher sind als sie. Schlüssiger scheint mir für diese Verteidigung des kapitalistischen Reichtums jedoch die Bedeutung der Leistungsideologie, die ein Lebenselixier der bürgerlichen Gesellschaft darstellt und insofern das zeitgemäße Opium ist, das für Marx noch die Religion war. Denn wenn es von der eigenen Leistung abhängen soll, was man erreicht, dann hat man sein Geschick ja prinzipiell in der Hand und könnte es selbst zu einem Superreichen bringen! Umgekehrt soll sich natürlich jeder Mensch selbst die Schuld dafür geben, wenn sein Erfolg ausbleibt. Dann hat er sich entweder zu wenig angestrengt oder war einfach nicht geschickt genug.

Es ist aber nicht nur der Gedanke, dass jeder reich werden könnte, wenn er nur entsprechend leistungsfähig wäre, der Rechtfertigung und Verteidigung der Reichen veranlasst, sondern auch der Dienst, den dieser Reichtum der Gesellschaft bringt, soll für ihn sprechen. Dieser Dienst bestehe ja nicht nur in der Finanzierung des Staates durch Steuern, wie gering diese im Verhältnis zum besteuerten Reichtum auch sein mögen, sondern auch in der Schaffung von Arbeitsplätzen, heißt es da. Und um diesen „Dienst“ leisten zu „können“, dürfen die Steuern auch nicht zu hoch ausfallen, lautet die Konsequenz dieses Urteils. Dass das Kapital für diesen „Dienst“ entschädigt werden muss und daher die Löhne sowie Sozialabgaben auch nicht zu hoch ausfallen dürfen, liegt damit ebenso auf der Hand. Hoch dürfen allein die Staatseinnahmen und das Kapitalwachstum sein. So ist das nun einmal in dieser Gesellschaft, deswegen nennt sie sich auch „kapitalistisch“. Und es spricht auch nicht gegen das Kapital, wenn es angesichts der Arbeitslosigkeit seinen „Dienst“ scheinbar nur mangelhaft erfüllt. Hier werde schließlich nur das Kapital an der Verrichtung seiner Leistungen gehindert, durch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen, durch zu hohe Löhne und Steuern oder was für Hirngespinste auch immer dem individuellen Belieben anheimgestellt sind. Da der Staat das Kapitalwachstum als Grundlage seiner Macht und Handlungsfähigkeit eingerichtet hat, hängt eben alles andere vom Gelingen dieses Wachstums ab und wäre es daher kontraproduktiv, den Reichtum zur Versorgung unnützer Hungerleider anstatt für weiteres Kapitalwachstum einzusetzen. Das sieht heutzutage auch die Klasse der Besitzlosen so, denn schließlich ist ein Arbeitsplatz das höchste Gut für jene Menschen, die von Lohnarbeit leben müssen, weil ihnen sonst Armut, Krankheit und Elend drohen. Hammerls Klage darüber, dass es eine merkwürdige Welt sei, in der Sozialhilfe immer zu hoch ist, während die Bewältigung einer Wachstumskrise des Kapitals sogar kosten dürfe, was es wolle, ist insofern äußerst weltfremd. Nicht das Bedürfnis nach Schlechterstellung der Sozialhilfeempfänger verlangt nach Einsparungen im Sozialbereich, sondern das Bewusstsein davon, dass Ausgaben für Bildung und Gesundheit zwar notwendige, aber möglichst gering zu haltende Kosten dafür sind, dem Kapital die Bedingungen für sein Wachstum zur Verfügung zu stellen, auf das es ankommt. Natürlich besteht gegen Sozialhilfeempfänger auch immer der Verdacht, dass sie ihren Beitrag zur Verringerung dieser Kosten verweigern und sich nicht um ein Arbeitseinkommen bemühen würden, deswegen sollen sie auch möglichst schlecht von der staatlichen Unterstützung leben, um genötigt zu sein, jede noch so beschissene und schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen.

Weil es keineswegs jedem gelingt, sich in der Konkurrenz der Marktwirtschaft erfolgreich zu behaupten, gelten in der kapitalistischen Gesellschaft Reiche nicht als „nichtsnutzig“, sondern im Gegenteil als höchste Respektspersonen, um deren Gunst sich der Staat bemüht. Daher will er Reiche nicht mit Steuern vergraulen, sondern ihnen gute Bedingungen zur weiteren Entfaltung ihres Reichtums, also für das weitere Wachstum ihres Kapitals bieten.

Wenn man schon die falsche Vorstellung pflegt, dass es die Aufgabe des kapitalistischen Reichtums sei, die von diesem ausgeschlossenen Menschen mit Jobs zu versorgen, so könnte man den Reichen die Existenz von Arbeitslosen auch zum Vorwurf machen, weil sie dann ja ihrer Aufgabe nicht entsprechen würden. Genau umgekehrt schließen die Bürger jedoch, dass sich darin zeige, um was für eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe es sich bei der Schaffung von Arbeitsplätzen handle. Weil diese Leistung so schwer zu erbringen sei und gleichzeitig für das Leben der vielen besitzlosen Menschen so wichtig ist, können die Reichen gar nicht genug verdienen, um der Bedeutung ihrer Tätigkeit gerecht zu werden. Zumindest dem produktiven Kapital wird dies zuerkannt, beim Finanzkapital, das ja nichts schafft, sondern nur rafft, wie schon die Nazis wussten, ist das schon zweifelhaft; Finanzkapitalisten halten viele wirklich für nichtsnutzige Parasiten, obwohl sie doch gar nichts anderes machen, als die Anbahnung kapitalistischen Geschäfts zu betreuen und zu begleiten, das ohne ihre Vermittlungstätigkeit gar nicht zustande käme. Auch ein Immobilienmakler erzeugt bekanntlich nichts, sorgt aber dafür, dass Verkäufer und Käufer zueinander finden. Genauso verhält es sich in der Beziehung von produktivem Kapital und Finanzkapital. Und solange es keine Verwertungskrisen des Kapitals gibt, halten die Menschen sich mit ihren Vorbehalten gegen das Finanzkapital auch zurück und schätzen dessen Leistungen für das produktive Kapital und die nicht nur von diesem, sondern auch vom Finanz- und Versicherungssektor geschaffenen Arbeitsplätze. Und weil man dem Kapital nun schon einmal für seine Arbeitsplätze und seine Löhne dankbar sein soll, kennt die Bewunderung dieser außergewöhnlichen und vortrefflichen Menschen mittlerweile gar kein Halten mehr, in deren berufenen Händen das Geld doch viel besser als beim Staat aufgehoben sei. Auch deswegen verteidigen ganz normale Bürger die Reichen gegen höhere Steuern und präsentieren deren Spenden als Beweis dafür, dass es sich hier wirklich um verantwortungsbewusste Menschen handle, die ihr Geld sinnvoll einsetzen würden: „Die Reichen sind doch eh freiwillig freigiebig, heißt es mit Verweis auf großzügige Spenden einzelner Mäzene“, stellt Hammerl fest und fragt sich, warum dann nicht auch Lohnabhängigen freigestellt werde, ob sie etwas spenden wollen, anstatt besteuert zu werden. Na, weil die dieses Geld doch nur für sich verwenden würden, lautet hier vermutlich der Einwand, schließlich müssten sie sich dann nicht mehr nur mit jenen Gütern zufrieden geben, die ihrem durch Steuern und Sozialabgaben reduzierten Nettoeinkommen zur Verfügung stehen.

Reiche verdienen ihren Reichtum, weil sie diesen durch ihre Geschäftstätigkeit selbst erwerben, während Politiker genauso wie Sozialhilfeempfänger auch nur vom Staat leben. Deswegen kann sich ein Trump als Rebell gegen das politische System aufstellen, dem es als Kapitalist viel mehr um das Wohl der Arbeiter gehe, für die er und seinesgleichen ja schon mit ihren Arbeitsplätzen so rührend und umsichtig sorgen würden. Dieser Würdigung seiner „großartigen“ Leistungen konnte sich das Kapital nicht immer erfreuen. Es gab einmal eine Zeit, da wäre dieser Standpunkt „nicht einmal auf Protest gestoßen, sondern hätte nur Lacherfolge erzieht“, wie Freerk Huisken bemerkt hat.[2] Damals gab es aber auch noch ein gewisses Klassenbewusstsein oder zumindest eine Ahnung davon. Mittlerweile gilt die bürgerliche Gesellschaft aber als egalitär, weil jedem zumindest theoretisch die Möglichkeit offensteht, es zu Reichtum zu bringen. Heutzutage geben sich Kapitalisten wie Donald Trump als revolutionäre Systemsprenger, die mit den Parasiten der politischen Klasse aufräumen, die sie ohnehin für Linke halten. Und einen Grund dafür, dass auf Lohnarbeit angewiesene Menschen sich für diese begeistern sollten, gibt es ja wirklich nicht, auch wenn es für Trump ebenso keinen gibt. Der hat genauso wie die FPÖ und die AFD allerdings den Bonus, dass er den etablierten politischen Mächten lästig ist. Nur wegen des Ärgernisses, das Trump und Co für die herrschenden Regierungsparteien darstellen, wegen ihrer Störung des normalen politischen Alltags erhalten diese massiven Zulauf von Menschen, die mit ihnen nichts als die Wut auf das System gemeinsam haben, die ein Trump so wirkungsvoll in Szene zu setzen und zu bedienen weiß.

Es müsste also Frau Hammerl nicht ein solches Rätsel sein, dass durchschnittliche Menschen zur Verteidigung der Reichen antreten. Auf deren Reichtum kommt es nun einmal in einer kapitalistischen Gesellschaft an, diesen zu bewahren und zu vermehren, ist in der Regel auch den Erben ein Anliegen, die mit ihrem Geld eben Besseres anzufangen wissen, als es zu verschenken oder „für ein gerechteres Steuersystem“ einzusetzen, wofür Marlene Engelhorn von Hammerl gelobt wird. Die ganze bürgerliche Gesellschaft mitsamt der sie verwaltenden und beherrschenden Staatsgewalt hängt vom kapitalistischen Reichtum und dessen erfolgreicher Vermehrung ab, da ist es nicht erstaunlich, wenn die Hüter dieses Reichtums allgemein bewundert werden. Solche Wertschätzung nicht zu teilen, fällt nur einer Minderheit ein, die von dieser Gesellschaft und ihrem Reichtum überhaupt nichts hält, weil sie weiß, dass dieser auf der proletarischen Armut beruht, der nur Einzelne entrinnen können, wenn sie einen Klassenwechsel schaffen, aber niemals die ganze Klasse, deren Armut die Quelle des kapitalistischen Reichtums ist.


[1] Elfriede Hammerl: Alles Mittelschicht. Über die rätselhafte Verwechslung von Erwerbseinkommen und Kapitalerträgen, in: profil 25, 22. Juni 2024, S. 19, alle weiteren Zitate, sofern nicht angegeben, stammen aus dieser Quelle.

[2] Freerk Huisken: Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw., Hamburg 2007, S. 139

Antifaschismus als imperialistische Ideologie

Wien, 19. 7. 2024

In der Zeitschrift profil[1] findet sich ein Interview mit dem Autor Martin Pollack unter dem Titel „Wir sind gut beraten, mit dem Schlimmsten zu rechnen!“. Als unehelicher Sohn eines auf der Flucht vor den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ermordeten Nazis namens Gerhard Bast sieht er sich von der faschistischen Vergangenheit unmittelbar betroffen und zur Wachsamkeit gegenüber der Gefahr des Faschismus auserkoren. Mit dem Schlimmsten zu rechnen, meint daher das Erstarken autoritärer und faschistischer Staatsformen, von welchen die Demokratie bedroht sei. Mit dem Schlimmsten rechnen allerdings auch jene, welche vor islamischem Faschismus warnen, weil demokratische Staaten dessen Gefahr unterschätzen und vor notwendigen Gegenmaßnahmen zurückschrecken würden. Wenn Herr Pollack feststellt: „In der Disziplin des Zuwartens sind wir leider Weltmeister“ (S. 62), so würden ihm darin Politiker der AFD und der FPÖ gewiss zustimmen, nur dass diese das zögerliche Vorgehen gegen den politischen Islam und die illegale Migration beklagen, während Pollack sich gerade die konsequente Bekämpfung solcher Parteien wünscht, die ihm als ausländerfeindlich sowie rassistisch und daher als rechtsextrem gelten. Pollack kann sich anscheinend Faschismus nur als Werk weißer Menschen vorstellen, während ihm die Vorstellung eines islamischen Faschismus als Propaganda rechter Islamophobie gilt. Daher hat er kein Problem damit, Russland als „mörderisches Regime“ (S. 64) zu bezeichnen, auch wenn er damit die Russenfeindschaft der Nazis fortsetzt. Hierin vermag er keine „Geschichtsvergessenheit“ (S. 62) zu erblicken, die doch die Gefahr in sich berge, dass nochmals passieren könnte, was nur durch die Beschäftigung mit der Geschichte zu vermeiden sei. Originalton Pollack: „Wir sind gut beraten und aufgefordert, uns mit der Geschichte zu beschäftigen und genau hinzusehen, was geschehen ist. Sonst passiert es abermals.“ (S. 62)

Die Geschichte soll man sich also genau ansehen, weil nur dadurch die Gefahren zu erkennen seien, die in der Gegenwart bestehen. Das hört sich ungefähr so an, als wüsste Pollack an dieser Gegenwart gar nichts auszusetzen, wenn ihm nicht der Blick auf die Geschichte zur Verfügung stünde, der erst zeige, welche Gefahren diese Gegenwart aufweise und was hier erneut geschehen könnte. Dieser Gedanke ist insofern absurd, als einerseits die Gegenwart erst durch die Geschichte zu begreifen sei, andererseits aber diese Gegenwart erst begriffen werden muss, um eine Beziehung zur Geschichte herzustellen. Und hier kommt es sehr darauf an, welche Schlüsse sowohl aus vergangenen als auch aus gegenwärtigen Zuständen und Ereignissen gezogen werden. Der Blick auf die Geschichte klärt hier überhaupt nichts, denn es hängt immer von den Auffassungen des urteilenden Subjekts ab, welche Lehren es der Geschichte entnehmen will. Pollacks Hinweis, dass man genau hinsehen müsse, was passiert sei, nimmt die so zustande gekommene Differenz der Urteile zur Kenntnis, ohne deren Ursachen zu begreifen, und führt sie daher darauf zurück, wie genau die urteilenden Subjekte hingesehen haben. Allein der Umstand, dass für Pollack Russland als „Reich des Bösen“ gilt, ihm dabei aber keinerlei Übereinstimmung mit der Position der Nazis auffallen will, offenbart die Abhängigkeit seines historischen Blicks von seinen politischen Überzeugungen. Daher gilt ihm Russland als Wiedergänger des Nazi-Reichs, weil es ohnehin schon zu Zeiten der Sowjetunion genau wie dieses eine Diktatur gewesen sei und sich wieder zu einer autoritären Herrschaft entwickle. Dass die zahlreichen NGOs imperialistischer Mächte wegen ihrer Zersetzung der politischen Stabilität Russlands inzwischen großteils verboten oder staatlicher Kontrolle unterworfen sind, reicht ihm als Beweis für die Anklage Russlands als autoritäres Regime. Der Krieg in der Ukraine bestätigt erst recht seine Auffassung, dass hier eine Nation mit imperialistischen Ambitionen am Werk sei, die mit Gewalt darauf reagiere, dass sie den Herausforderungen einer freien Gesellschaft nicht gewachsen sei.

Pollacks historischer Blick erweist sich als blind gegen die politischen Veränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Vorstellung, dass sich eine faschistische Herrschaft genau auf jene Weise wie die Nazis artikulieren und vielleicht sogar noch deren Symbole übernehmen würde, ist ohnehin an Albernheit nicht zu überbieten. Mit der ängstlichen Fixierung auf ein Wiedererstarken des Faschismus in seinen bekannten historischen Formen entgeht Pollack daher, dass sich imperialistische Politik auch ganz hervorragend mit demokratischer Herrschaft vereinbaren lässt und autoritäre Regierungsformen eher eine Sache unterlegener Nationen sind, die durch mehr staatliche Eingriffe die Produktivität ihres nationalen Standorts für das Anlage suchende Kapital zu erhöhen versuchen. Abgesehen davon haben auch führende imperialistische Staatsmächte keinerlei Skrupel beim Durchgreifen, wenn demonstrierende Massen ihren politischen Anliegen in die Quere kommen. Hier gilt das aber als Verteidigung der Demokratie gegen den undemokratischen Pöbel oder Mob, während solche Maßnahmen beim nationalen Gegner natürlich nur die Unterdrückung der demokratischen Ambitionen eines nach Freiheit dürstenden Volkes offenbaren können.

In seiner begriffslosen Verehrung der Demokratie als antifaschistisches Bollwerk kann sich Pollack auch die Existenz als faschistisch geltender Parteien und Politiker nur begriffslos erklären. Es könne „keine Rede mehr davon sein, dass Menschen durch Arbeitslosigkeit und triste soziale Umstände in die offenen Arme radikaler Parteien getrieben werden“ (62 f.), da auch junge Menschen, die sich unter Alkoholeinfluss mit Hakenkreuzschmierereien für Tabubrecher halten, nicht hungern müssten. Weshalb triste soziale Umstände kein Motiv für politische Radikalisierung abgeben können, unmittelbares Elend im Hunger aber schon, bleibt allerdings Pollacks Geheimnis. Weil er aber keinerlei Ursachen dafür auszumachen vermag, dass sich Menschen von der demokratischen Herrschaft abwenden, muss dafür ein Mangel an geschichtlichem Bewusstsein herhalten, eben die bereits zitierte „Geschichtsvergessenheit“, der nur dadurch beizukommen sei, dass „wir“ die Geschichte nicht verdrängen und vergessen, sondern „uns ehrlich damit auseinandersetzen, nichts zudecken, verschweigen, nicht zu lange zuwarten“ (S. 62). Wenn die Demokratie als faschistisch geltende Maßnahmen ergreift, kann es in dieser Sichtweise nur daran liegen, dass nicht genau hingesehen wurde, die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht ehrlich gewesen, sondern immer noch von Verdrängung, Zudecken und Verschweigen geprägt sei. So muss man überhaupt nichts von den Zusammenhängen demokratischer und faschistischer Herrschaft mit kapitalistischen und imperialistischen Entwicklungen begreifen und kann völlig begriffslos immer wieder eine mangelnde Bereitschaft zur schonungslosen „Auseinandersetzung mit der Geschichte“ für solche Erscheinungen verantwortlich machen.

Zu lange gewartet zu haben, ist eine Klage, die sich in allen politischen Lagern finden lässt. Wo auch immer ein politisches Anliegen nicht durchgesetzt wurde, soll die fehlende Durchsetzungsfähigkeit dafür verantwortlich sein, soll es am rechten Willen gefehlt haben und man habe aus Bequemlichkeit zu lange gewartet. Dabei hätte man aus der Geschichte doch lernen können, wohin das führe, nämlich zu Exzessen der Gewalt, weil diesen nicht rechtzeitig durch dann wohl besonnene Gewalt Einhalt geboten worden sei, meint Pollack vermutlich. Welche Lehren zieht er also aus der Geschichte, so als würden diese durch das bloße Protokollieren historischer Entwicklungen und Ereignisse sich ganz automatisch ergeben? Kritisiert er etwa die Militäreinsätze der NATO, ganz im Gegensatz zu Nazideutschland, das seine Militäreinsetze keineswegs kritisierte, sondern feierte? Kritisiert er die Konstruktion des Feindbildes „Russland“ oder teilt er den Hass Russlands bzw. damals der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland? Ist er nicht der Auffassung, dass diesmal Deutschland auf der richtigen Seite stehe, weil diese Nation im Bunde mit den Westmächten gegen den aktuellen Hitler, der diesmal Putin heiße, kämpfe? Hier zu lange gewartet und ganz im Sinne von Chamberlains Appeasement-Politik weiter mit Putin verhandelt und wirtschaftliche Beziehungen unterhalten zu haben, also nicht rechtzeitig zur Gewalt als der einzigen Sprache, die ein Despot verstünde, gegriffen zu haben, lautet schließlich die Kritik Pollacks an den Westmächten. Originalton Pollack: „Europa war Russland gegenüber viel zu weich und nachgiebig.“ (S. 64) Diese Kritik gibt es auch umgekehrt, auch in Russland existiert die Klage, sich zu lange die Expansion der NATO und der EU bieten gelassen zu haben, ebenso deren Hinhalte-Taktik hinsichtlich der Ukraine mittels der Minsker Abkommen.

Zu weich und zu nachgiebig gewesen zu sein gegen den politischen Gegner, gegen solche „Kritik“ hätte auch Hitler nicht das Geringste einzuwenden gehabt. Der Unterschied zu den herrschenden imperialistischen Mächten besteht hier allerdings darin, dass Nazideutschland seine Expansion nicht dank überlegener Gewalt mit wirtschaftlichen Methoden vollziehen konnte. Das haben die EU und die USA hingegen so lange vermocht, bis es in der Ukraine zur militärischen Gegenwehr Russlands gekommen ist. So war das ja mit dem Assoziierungsabkommen der EU gemeint, das die Ukraine 2014 hätte unterzeichnen sollen, denn dadurch wäre die gesamte Ukraine dem Zugriff des EU-Kapitals ausgeliefert geworden. Nachdem hinsichtlich des nationalen Nutzens dieser Assoziierung unter den politischen Eliten der Ukraine keine Einigkeit herrschte, kam es zu den Gewaltexzessen des Maidan und zum Bürgerkrieg, der trotz der Minsker Abkommen fortgesetzt wurde, bis 2022 Russland offiziell als Kriegspartei für die russische Bevölkerung in der Ostukraine eingriff. Weil jedoch die Expansion der EU großteils mittels ökonomischer Erpressung stattfindet, gilt Russlands militärische Gegenwehr als Aggression und als Imperialismus. Nachdem die kapitalistische Weltordnung die Abhängigkeit aller Nationen von ihrem kapitalistischen Erfolg durchgesetzt hat, den diese gerne als Mittel zur Steigerung ihrer Macht nutzen, solange sich dieser Erfolg auch einstellt, ist es eine entscheidende Frage, welche Bedingungen diesen Erfolg am besten fördern. Soll man sich zum Partner der EU und der USA machen, damit aber auch deren Interessen dienen, oder stellt man sich diesen besser entgegen, wenn man als kapitalistische Nation erfolgreich sein will? Um weitere „Argumente“, also Fakten erfolgreicher Gewalt zur Entscheidung dieser Frage herzustellen, wird derzeit der Krieg zwischen Russland und der Ukraine geführt. Die Ukraine muss sich durch militärische Erfolge und die Schwächung Russlands das zweifelhafte „Privileg“ verdienen, Mitglied von EU und NATO zu werden.

Solche Zusammenhänge sind Pollack allerdings völlig fremd, er ist das beste Beispiel einer schönen Seele, die angesichts der bösen „faschistischen“ Welt verrückt und zum harten Herzen wird, sodass er jede Handlung politischer Gegner verurteil und sich zum Einsatz seiner als rechtmäßig verstandenen gerechten Gewalt gegen diese berufen glaubt, die kein anderes Maß als deren Vernichtung kennt. Weil die imperialistische Expansion heutzutage nicht unter der Hakenkreuz-Fahne stattfindet, sondern mit der Regenbogen-Fahne sich als Durchsetzung der Minderheitenrechte der Lgbtq+-Gemeinde und somit der Menschenrechte präsentiert, sieht auch Pollack darin den weltweiten Kampf der Demokratie gegen den Faschismus, obwohl sich dieser von Hitlers Krieg gegen den Bolschewismus nur in seinen Erscheinungsformen und seinem Selbstverständnis unterscheidet.


[1] profil, Heft 17, 24. 4. 2024, S. 60–64; alle weiteren Seitenangaben in Klammern stammen von dort.

Freiheitsillusionen jenseits des Klassenbewusstseins

Wien, 17. 6. 2024

Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ erklären Marx und Engels das Proletariat zum Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft, der sie zugutehalten, dass sie die Menschen dazu bringe, sich keine Illusionen über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse zu machen, weil sie gezwungen seien, „ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“.[1] Damit widerspricht Marx allerdings seiner eigenen Behauptung in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, dass die „bedrängte Kreatur“ der Religion als eines betäubenden Opiums bedürfe, wohl um das Grauen zu bewältigen, das ihr nüchterner Blick offenbart. Der Religion als illusorischem Glück des Volkes müsse daher die „Forderung seines wirklichen Glücks“[2] entgegengesetzt werden. Und weil die Religion zwar auf illusorische Weise den Menschen Glück verspricht, damit aber ihren Glücksanspruch immerhin auch gelten lässt, gibt es auch die Auffassung, dass in diesem religiösen Glücksversprechen ein Ansatz zur Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins bestehen könnte. Nicht nur sein nüchterner Blick, sondern auch seine Illusionen sollen demnach ein Anlass zur Hoffnung sein, dass das Proletariat der bürgerlichen Gesellschaft den Gehorsam verweigere. Überdies werde die Verelendung des Proletariats dessen revolutionäre Gesinnung schüren und spätestens in Krisen der Kapitalakkumulation zu revolutionären Umstürzen führen.

Ebenso wie die Religion bereits einen Glücksanspruch erhebe, den verwirklichen zu wollen ein Zeichen revolutionärer Gesinnung sei, lasse sich auch die Verheißung der Freiheit nutzen, die ein freier Bürger nun einmal habe, der sich auch ganz allein für die Erfolge und Misserfolge im Gebrauch seiner Freiheit verantwortlich halten darf. Die Freisetzung leibeigener Bauern von ihrem bisherigen Grund und Boden sorgt schließlich dafür, dass diese nicht mehr von ihren Gutsherren abhängig sind. Weil Letztere keine Verwendung mehr für sie haben, werden die Bauern von ihren Produktionsmitteln ausgeschlossen und sollen ihre Freisetzung zur Lohnarbeit als Freiheit begrüßen, weil sie sich nun auf sich allein gestellt sind und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um Zugang zu Produktionsmitteln zu erhalten. Als doppelt freie Lohnarbeiter sind sie zwar keine Knechte mehr, nachdem sie von ihren Herren vertrieben wurden, weil diese ihrer nicht mehr bedürfen, sie sind aber auch „frei“ von allen Mitteln zur Erhaltung ihres Lebens, weil diese im Eigentum ihrer früheren Herren verbleiben. Sie haben nun der Vermehrung des kapitalistischen Eigentums ihrer früheren Herrschaften zu dienen und sind zur Erhaltung ihres Lebens auf den Lohn angewiesen, den diese nun als Kapitalisten fungierenden Herren zu zahlen bereit sind. Bei Rosa Luxemburg erscheint diese doppelte Freiheit einerseits in der „süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit“, die darin besteht, dass nun alle Menschen als freie Bürger mit gleichen Rechten gelten, die sich um ihren wirtschaftlichen Erfolg bemühen dürfen, ungeachtet der Mittel, über die sie dafür verfügen. Diese Schale verhülle aber andererseits „den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit“, der darin besteht, dass die einen Bürger die Produktionsmittel besitzen, während die anderen von diesen ausgeschlossen sind und nur über ihre Arbeitskraft verfügen, mit der sie ohne Zugang zu Produktionsmitteln nichts anfangen können. Die süße Schale der formalen Gleichheit und Freiheit sei aber ein Anreiz für die auf Lohnarbeit angewiesenen Bürger, „die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen“.[3]

Nicht nur die Ängste und Mühen ihrer Existenz sollen also die Einsicht proletarischer Bürger in die Notwendigkeit revolutionärer Erhebung hervorbringen, sondern auch die illusorischen Glücksversprechen der Religion sowie die Illusionen von Gleichheit und Freiheit, die sich aus ihrer bürgerlichen Existenzweise ergeben würden. Marxistische Intellektuelle der Zwischenkriegszeit hegten daher die Hoffnung, dass proletarische Bürger aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenssituation als geschädigte und leidende Menschen sowie wegen der Enttäuschung ihrer Glücks- und Freiheitsversprechen eine revolutionäre Gesinnung entwickeln würden. Diese revolutionär gestimmten Bürger, so dachten sie, müssten die sozialistischen Bewegungen nur noch stimulieren, affirmieren und organisieren. Als sich jedoch nicht nur ihre Deklassierung befürchtende Kleinbürger, sondern auch proletarische Massen schließlich zur Unterstützung der Faschisten entschlossen, herrschten Ratlosigkeit und Resignation. Weil die ökonomischen Prozesse nicht automatisch den revolutionären Umsturz herbeiführten, weil dieser Ökonomismus sich als falsch erwies, untersuchte Wilhelm Reich den sogenannten „subjektiven Faktor“,[4] also die psychologische Verfassung der bürgerlichen Individuen.

Soziales Elend bei gleichzeitigem Versprechen der Freiheit, der Gleichheit und des Glücks, das sich bei entsprechender Anstrengung einstellen würde und dennoch immerzu ausblieb – all dies galt als günstige Bedingung für eine Revolution. Diese blieb jedoch aus, weil viele Bürger es vorzogen, weiterhin an der Selbstbehauptung als Privateigentümer festzuhalten, deren Erfolg sich auch einstellen sollte, wenn sie nicht daran gehindert würden. Wilhelm Reich aber meinte erkannt zu haben, dass die Aussicht auf Freiheit und Gleichheit nicht eine revolutionäre Gesinnung begünstigen, sondern Angst und Schrecken verbreiten würde. Zum Schutz vor dieser als Bedrohung wahrgenommenen Freiheit würden sich die Bürger einen starken Staat wünschen, eine autoritäre Herrschaft. Die Wurzel dieser Angst sieht er in einer repressiven Sexualmoral, welche Angst vor sexueller Freiheit und Selbstbestimmung schürt, weil dies für die Selbstbehauptung als Privateigentümer eine Gefahr darstelle. Für die Selbstdisziplin, die zur Selbstbehauptung in der Konkurrenz der Privateigentümer notwendig ist, sorge das Regime des als Familienoberhaupt herrschenden Vaters, das im Über-Ich verinnerlicht werde. In dieser Konstellation erhalte auch Freuds Begriff des Ödipus-Komplexes seinen rationalen Gehalt. Die Psychoanalyse sei daher hilfreich für „die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie“, ihre Weiterentwicklung durch Wilhelm Reichs Sexualökonomie sei aber erforderlich zur Erklärung der „soziologischen Gründe“[5] für die Verdrängung und Unterdrückung der Sexualität.

Eigentlich müsste also die ökonomische Lage der proletarischen Bürger deren Klassenbewusstsein und damit deren revolutionäre Gesinnung hervorbringen, wenn nicht die Sozialisierung in der Familie zur Unterwerfung unter die Herrschaft des Vaters führen würde, deren Verinnerlichung jeden Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals im Keim ersticke. Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Existenzweise erscheinen damit nicht mehr als die süße Schale, deren Genuss laut Rosa Luxemburg zur Umgestaltung auch des herben Kerns sozialer Ungleichheit und Unfreiheit motivieren würde, sondern als Bedrohung, die nach dem Schutz autoritärer Herrschaft verlangt. Dass die ökonomische Lage proletarischer Bürger auch angesichts noch so großen Elends keineswegs zu einem revolutionären Bewusstsein führen muss, wird hier durch die psychologischen Besonderheiten der bürgerlichen Sozialisierung erklärt. Diesem Standpunkt liegt der Gedanke fern, dass die ökonomische Lage ganz unterschiedlich beurteilt werden kann und je nach den Schlüssen dieser Urteile verschiedene Überzeugungen hervorbringt. So lässt sich gerade in der Affirmation der freien Selbstbehauptung als Privateigentümer die Hinwendung zum Faschismus erklären, der die vermeintlichen Hindernisse dieser Selbstbehauptung zu beseitigen beansprucht, die sich in den betrügerischen Geschäftspraktiken von Agenten des feindlichen Auslands oder welch beliebigem Wahn auch immer zeigen würden. Sexualunterdrückung gilt dem Selbstverständnis eines erfolgstüchtigen bürgerlichen Subjekts mittlerweile auch als Schwäche, denn dieses zeichnet sich vielmehr durch den Erfolg eines Verführers aus, der sich auch mit seinen sexuellen Eroberungen als Sieger in Szene zu setzen weiß. Wenn Wilhelm Reich in seinem letzten Lebensabschnitt Sexualunterdrückung nicht mehr mit dem Kapitalismus verbindet, sondern mit dem Totalitarismus, der Faschismus und Sozialismus gemeinsam sei, wenn somit freier Sexualverkehr und freier Kapitalverkehr für ihn zusammengehören, ist das daher nur konsequent. Der linke Anarchismus von Deleuze und Guattari im „Anti-Ödipus“ und der Anarcho-Kapitalismus einer Ayn Rand weisen hier eine Gemeinsamkeit auf, die weder ihnen noch sonst jemandem jemals aufgefallen sein dürfte.


[1] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 465

[2] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1, S. 379

[3] Rosa Luxemburg, zit. n. Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Hamburg 2007, S. 197

[4] Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Gießen 2020, S. 34

[5] Ebd., S. 36 f.

Panzer-Toni dreht durch

Wien, 29. 5. 2024

Wie die vermeintlich schöne Seele mit ihrem Rechtsbewusstsein der eigenen Vortrefflichkeit zum hartherzigen Kriegstreiber wird, der Putin nicht verstehen, sondern nur hassen kann, lässt sich an dem Politiker Anton Hofreiter studieren, der sich den Spitznamen „Panzer-Toni“ redlich verdient hat. Keine Waffen mehr an die Ukraine zu liefern, würde bedeuten, dieses Land „einem faschistoiden System zum Fraß“ vorzuwerfen, lässt uns dieser intime Kenner der russischen Seele an seinem Insider-Wissen teilhaben.[1] Er weiß nämlich ganz genau, dass Russland in der Ukraine Krieg führt, damit „die russische Armee in der gesamten Ukraine morden und vergewaltigen“ kann. Nachdem „Panzer-Toni“ mit dieser Aussage Fahrt aufgenommen hatte, stellte er die Frage, ob irgendjemand wirklich wollen könne, dass „für billiges Erdgas … in der Ukraine Kinder vergewaltigt werden“, schließlich kennt Hofreiter ja die pädophile Natur des Russen. Dies wäre nämlich das Schicksal der Ukraine, wenn diese nicht mehr mit Waffen unterstützt und wieder Erdgas aus Russland gekauft würde.

Da könnte einer doch sonst jederzeit mit der Nazi-Keule aufwartenden Person wie Herrn Hofreiter schon einmal einfallen, dass er sich mit solchen Aussagen der Methoden des Nationalsozialismus bedient, der den Juden Ritualmorde an Kindern nachsagte. Aber Nazis sind bei diesem Herrn immer nur die anderen, weswegen er ja auch ein faschistoides System nur in Russland zu entdecken vermag, keineswegs in der Ukraine, die sich laut der Zeitschrift profil vom 24. 3. 2014[2] ja sogar dann noch um Minderheitenschutz bemüht habe, als die russische Minderheit offiziell zum Feind erklärt und verfolgt wurde. Bekanntlich gilt es in der Ukraine auch als Gesetz, dass Selenskij als Jude sozusagen von Natur aus kein Faschist sein könne, was wohl schon deshalb stimme, weil in der Ukraine nur Russen und keine Juden diskriminiert worden sind. Für Herrn Hofreiter, der Populisten gerne vorwirft, dass sie mit einfachen Lösungen für schwierige Probleme die Menschen verführen würden, ist die Sache hier nämlich ganz einfach: Der böse Russe will Krieg und gehört mit allen Mitteln bekämpft, schließlich hat ja schon Deutschlands ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck die Parole ausgegeben, dass ein bisschen Frieren für die Freiheit wohl verlangt werden könne.

Den Einwand von Oskar Lafontaine, dass man auch mit US-Präsident Biden nicht sprechen dürfte, wenn die Ermordung unschuldiger Menschen in kriegerischen Unternehmungen das Kriterium wäre, weist „Panzer-Toni“ ironischerweise als „naiv“ zurück. Naiv und infantil ist nämlich vielmehr die Vorstellung, dass der Zweck eines Krieges darin bestehe, möglichst viele Menschen zu vergewaltigen, zu foltern und zu ermorden. Sofern nicht die Vernichtung einer als Feind und Ungeziefer betrachteten Bevölkerung der Kriegszweck ist, der nur einer paranoiden Geisteshaltung entspringen kann, ist ein Krieg nämlich nichts weiter als ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Diese Ziele würden die beiden Kriegsgegner auch gerne ohne den militärischen Aufwand eines Krieges durchsetzen, wenn ihre Interessen aber einen unversöhnlichen Gegensatz darstellen, nehmen sie auch Krieg für deren Durchsetzung in Kauf. So nüchtern darf man den Krieg Russlands aber in den Augen moralisch herausragender Persönlichkeiten wie unseres „Panzer-Toni“ nicht sehen, denn dann könnte ja auch eine Verhandlungslösung angesichts eines Feindes in den Blick kommen, der in seiner Unmenschlichkeit als Vergewaltiger von Kindern wohl nur Vernichtung verdient habe. Interessant ist an diesen Aussagen des Herrn Hofreiter auch der Umstand, dass hier niemand rassistischen Hass und Hetze erkennen will, sich dieser feine Herr also keine Sorgen darüber machen muss, wegen Volksverhetzung strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt zu werden. Hassreden sind nämlich nur dort anzutreffen, wo deren Objekt unter staatlichem Schutz steht, während es gefährlich werden kann, solchen Hass dort nicht zu zeigen, wo dieser als Gebot des Anstands gilt. Wer die Hetze gegen Russland als Kriegstreiberei kritisiert, läuft daher Gefahr, der Verharmlosung von „Kriegsverbrechen“ bezichtigt zu werden. Das ist wirklich praktisch, denn wenn solche „Kriegsverbrechen“ von Verbündeten ausgehen, so sind sie natürlich die Schuld des davon betroffenen Feindes, der unschuldige Menschen als Schutzschild benutzen würde, die dann eben leider als Kollateralschaden zu beklagen seien.

Zum Abschluss ist noch eine Bemerkung zur Politik der Grünen, zu denen ja unser „Panzer-Toni“ gehört, angebracht. Diese haben sich ja vor allem in ihren Anfängen als Pazifisten verstanden oder zumindest präsentiert, während sie spätestens seit Joschka Fischers Einsatz für die Bombardierung Serbiens gar nicht genug „Frieden“ durch erfolgreichen Einsatz militärischer Gewalt stiften können. Und das ist nur eine Konsequenz des Pazifismus, auch wenn es zunächst als dessen Gegensatz erscheint. Wer sich nämlich die Herrschaft des Friedens zum Zweck macht, kommt unvermeidlicherweise irgendwann zu der Einsicht, dass dafür der Einsatz überlegener oder siegreicher Gewalt notwendig sei. Schließlich lässt diese Zwecksetzung ja die Ursachen, die zu Krieg motivieren, außer Acht, diese bestehen also weiterhin so lange, bis sich einer der Kriegsgegner durchgesetzt hat und der Feind vernichtet oder zumindest entwaffnet ist. Umgekehrt wäre es, wenn es keine unversöhnlichen Interessengegensätze gäbe, dann gäbe es auch keinen Anlass für Krieg und es wäre vollkommen überflüssig, sich den Zweck der Durchsetzung von Frieden zu setzen. Weit vernünftiger, als Frieden zu fordern, ist es daher, sich mit den Interessen der Kriegsgegner zu befassen. Dieses Unterfangen könnte zu der Erkenntnis führen, dass deren unversöhnlicher Gegensatz gar nicht „alternativlos“ und notwendig, sondern das Resultat einer bestimmten Gesellschaftsordnung ist, die den Konkurrenzkampf zum Prinzip allen Lebens erkoren hat.


[1] JackReveal: Panzer Toni SCHREIT Oskar Lafontaine an. Sein schlimmster Auftritt!!, https://www.youtube.com/watch?v=vtGb2j83a20, aufgerufen am 29. 5. 2024

[2] Profil: Ihr tut Putin unrecht! Russland. Intellektuelle, Politiker und Künstler verteidigen Putins Ukraine-Politik: ein Faktencheck, in: profil, 24. 3. 2014

Der Naive und der zynische Heuchler

Wien, 14. 5. 2024

In der Sendereihe „Pro und Contra“ des privaten Fernsehsenders Puls 24 fand am 8. Mai 2024 eine Diskussion über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an Israel statt. Der Titel dieser Auseinandersetzung lautet „Farb-Attacken, Uni-Camps und Palästinenser-Fahnen – Wo endet der Protest und wo beginnt Antisemitismus?“[1] Zu Gast war ein Herr David Sonnenbaum, der „literweise Kunstblut“ vor einer Konferenz gegen Antisemitismus in Wien auf den Boden geschüttet und dabei Verfassungsministerin Karoline Edtstadler nur knapp verfehlt hatte. Zum Motiv seiner Handlung hatte Herr Sonnenbaum noch am Ort der Tat verkündet, dass er es nicht ertragen könne, wie die österreichische Regierung weiterhin eine rechtsextreme Regierung in Israel unterstütze. Zufällig sah ich den Beginn dieser Sendung, als diese am 12. 5. 2024 am Vormittag wiederholt wurde. Schon nach wenigen Minuten kam es darin zu bemerkenswerten Aussagen eines Herrn Daniel Kapp, auf die ich hier kurz eingehen will.

Die Diskussionsleiterin Corinna Milborn fragte zunächst, weshalb sich Herr Sonnenbaum ausgerechnet eine Konferenz gegen Antisemitismus für seine Protestaktion ausgesucht habe. Sie erhielt die Antwort, dass sich gerade an diesem Ort die Verantwortlichen aufhielten, die „im Namen aller Jüdinnen diese Verbrechen einfach rechtfertigen“,[2] worauf Herr Kapp sofort erstaunt fragte: „Welche Verbrechen?“ Für ihn ist es nämlich so, dass die Staatsführung Israels nach den Terroranschlägen der Hamas zu jeder Gewalt berechtigt sei, auch wenn dabei massenhaft Zivilsten ums Leben kommen, die damit nicht das Geringste zu tun haben. In diesem Sinne erwiderte Herr Kapp auch sofort auf den von Herrn Sonnenbaum geäußerten Vorwurf des Völkermords, dass es nur ein relevantes Massaker gegeben habe, nämlich jenes der Hamas am 7. Oktober 2023. Dies rechtfertigt für ihn jede Gewalt Israels im Gaza-Streifen. Und weil eine berechtigte Gewalt per se keine verbrecherische Gewalt ist, kann Israel sich für Herrn Kapp auch keiner Verbrechen schuldig machen. Dass mit genau diesem Rechtsstandpunkt auch die Hamas sich zu ihren grauenhaften Morden am 7. Oktober 2023 berechtigt sieht, spricht in diesem Fall nur gegen sie. Auch die Kollateralschäden der Militäreinsätze von Israel in Gaza sollen ja letztlich nur die Ruchlosigkeit der Hamas beweisen, die Zivilisten als Schutzschild missbrauche und sich hinter „Schulen, Krankenhäusern, UNO-Einrichtungen“ verstecke, sodass dem Militär Israels gar keine andere Wahl bleibe, als auch das Leben unbeteiligter, unschuldiger Menschen zu vernichten. Den Vorwurf des Genozids, der laut Herrn Sonnenbaum gemäß der UN-Konvention im Vorgehen Israels gegeben sei, wies Herr Kapp mit den Worten zurück, dass so ein Vorwurf nur dem Antisemitismus entstammen könne, denn damit sei erwiesen, dass mit zweierlei Maß gemessen werde. „Als Assad in Syrien Menschen ermordet hat, hat es Sie nicht so weit gestört, dass sie irgendwo aufgetreten sind“, brachte Herr Kapp als Beispiel für seine Behauptung vor, auch gegen die Gewalt im Iran sei Herr Sonnenbaum stumm geblieben. Wach werde er erst dann, wenn sich Israel nach dem 7. Oktober 2023 sein Recht auf Selbstverteidigung nehme.

Die Argumentation des Herrn Kapp ist in ihrer Niedertracht schon wieder amüsant. Zunächst ist es lächerlich, weil überflüssig wie ein Kropf, wenn Herr Kapp verlangt, dass Kritik an Israel nur äußern dürfe, wer auch Syrien und den Iran an den Pranger stelle. Überflüssig ist dies deswegen, weil diese beiden Nationen ohnehin das in den westlichen Nationen allgemein anerkannte Feindbild sind, es hier also keines zivilgesellschaftlichen Engagements bedarf. Da noch mit zusätzlicher Anklage auf die Straßen zu gehen und zur „Kritik“ dieser Nationen aufzurufen, ist ungefähr so sinnvoll, wie Wasser in die Donau zu schütten. Weder der Iran noch Syrien erhalten Unterstützung von der EU und den USA, während dies im Falle Israels genau umgekehrt ist. Überdies kämpft Assad in Syrien ebenso gegen islamistische Fundamentalisten wie Israel in seinem Kampf gegen die Hamas. Will nun etwa Herr Kapp die Gewalt Israels mit jener Syriens und des Iran gleichsetzen? Dann müsste er doch denken, dass gegen Israel ebenso Sanktionen angebracht wären, wie sie gegen Iran und Syrien bereits bestehen! Wenn Herr Kapp den Vorwurf eines doppelten Maßes oder einer Doppelmoral erhebt, so fällt dieser angesichts des von ihm selbst vorgebrachten Vergleichs mit Iran und Syrien nur auf ihn und seinesgleichen zurück. Gerade deswegen sehen sich ja naive Moralisten wie Herr Sonnenbaum dazu aufgerufen, Israel zu kritisieren, weil sie die Geltung genau jener Maßstäbe auch für Israel fordern, an welchen der Iran und Syrien angeblich gemessen werden. Sie werden geradezu verrückt angesichts dieser „Ungleichbehandlung“ der Gewalt, die je nachdem, welches Subjekt sie ausübt, entweder verurteilt oder gebilligt wird.

Die US-Regierung ist gewiss ein ausgewiesener Experte für die Beurteilung von Genoziden, nachdem sie drei Generationen von Vietnamesen eliminiert hat, um dieses Land erfolgreich in die Steinzeit zurückzubomben. Darüber hinaus hat sie jede Menge Staaten unterstützt, sofern deren Ausrottung die „Richtigen“, nämlich tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder einer kommunistischen Partei oder auch nur irgendwie reformistischer Bewegungen, betraf, wie Vincent Bevins in seinem Buch Die Jakarta-Methode[3] nachgewiesen hat. Umso erfreulicher ist es nun für Israel, dass laut einer Meldung des ORF-Teletexts vom 14. 5. 2024 die US-Regierung keinen Völkermord Israels in Gaza zu erkennen vermag, auch wenn Israel mehr Einsatz dabei zeigen solle, unschuldige Zivilisten zu verschonen. Auch sei sich US-Präsident Biden dessen bewusst, dass die palästinensische Bevölkerung gerade durch die Hölle gehe, aber dieses Opfer müsse sie wohl für die Vernichtung der Hamas auf sich nehmen. Im zur gleichen Zeit tobenden Krieg Russlands gegen die Ukraine ist solches Verständnis natürlich nicht angebracht, da versteckt sich das Militär der Ukraine nicht hinter Zivilisten, wenn diese zu Tode kommen, sondern diese werden ganz gezielt von den „russischen Bestien“ getötet. Auch die Drohungen eines Genozids an Russen in der Ostukraine und die Tausenden Opfer von 2014 bis 2022 dürfen nicht als Erklärung der russischen Militäroperation gelten und werden daher einfach ausgeblendet. Nebenbei bemerkt besteht vor allem darin das Handwerk der als „Lügenpresse“ angeprangerten Medien, bestimmte Ereignisse ins gewünschte Licht zu stellen, unerwünschte oder nicht ins Bild passende Fakten hingegen zu relativieren oder zu verschweigen. Das ist auch der Grund dafür, dass kaum jemand von den Morden in den Ländern der sogenannten dritten Welt weiß, die in Indonesien 1965 stattfanden und das Land auf Linie brachten, also zum Vasallen der USA machten. „Die indonesischen Militäroffiziere wussten sehr wohl: Je mehr Menschen sie töteten, desto schwächer würde die Linke und desto zufriedener Washington.“[4] Da die kommunistische Partei Indonesiens, nach jener in Russland und China damals die drittgrößte der Welt, an einen friedlichen Weg zum Sozialismus glaubte, wurden deren unbewaffnete Mitglieder beliebig vom indonesischen Militär gefoltert und hingerichtet. Als Vorwand für ihr gewaltsames Vorgehen hatten die Militäroffiziere einen kommunistischen Staatsstreich vorgetäuscht. Für die massenhafte Ermordung von Zivilisten interessierte sich aber niemand, schon gar nicht die ach so kritische freie Presse, „solange es Kommunisten waren, die abgeschlachtet wurden“.[5]

Es gäbe noch genügend weitere Beispiele für sich von kommunistischen Verschwörern rund um den Globus umzingelt wähnende US-Regierungen, die sich genauso paranoid verhielten wie Stalin in seiner Angst vor Spionen und Saboteuren. Das Buch von Bevins bietet hierzu eine Fülle an Material, ebenso die Bücher von Michael Parenti wie Blackshirts and Reds, Against Empire und To Kill a Nation. Es lässt sich daher feststellen, dass Gewalt immer nur dann gegen deren Urheber spricht, wenn man dessen Zweck nicht billigt. Daher ist die Gewalt des Gegners immer ein riesiges Unrecht, während es an der eigenen Gewalt nichts auszusetzen gibt, diese nur aus Gründen der Selbstverteidigung ausgeübt werde. Was da so verteidigt werden muss, gab neulich Oberst Markus Reisner ganz offen zu, als er auf die Frage antwortete, was passieren würde, falls Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnen würde. Dann stehe nämlich die Weltordnung auf dem Spiel, die „unsere“ bisherige Stellung, „diese Vorreiterrolle, diese dominante Rolle“, sowie „unsere Rohstoffversorgung“ und „unseren“ Wohlstand garantiert habe; dann müsse man vielleicht glatt „auf Augenhöhe“ mit anderen Akteuren umgehen.[6] Na, wenn das nicht einmal ein klares Bekenntnis zu den imperialistischen Motiven des Kriegs gegen Russland ist! Um ihre Dominanz zu erhalten, müssen imperialistische Mächte eben auch immer wieder einmal gewaltsam für Ordnung sorgen. Die hierbei anfallenden Toten darf man ihnen natürlich nicht vorwerfen, die lassen sich doch schon angesichts der Vernichtungsqualität moderner Waffensysteme kaum vermeiden. Deswegen muss man dem Imperialismus auch zugestehen, dass er sich mindestens eine Million Tote pro Jahr erlauben darf, die als Genozid zu bezeichnen doch nur kleinlich wäre! Diese zynische These lässt sich bereits seit 2021 auf meiner Homepage finden.[7]

Solche Einsichten wären auch für die psychische Gesundheit eines Herrn Sonnenbaum günstig, denn dann müsste er nicht darüber verzweifeln, dass die von ihm so heißgeliebte österreichische Staatsgewalt sehr genau zu unterscheiden weiß, wo Gewalt in ihrem Interesse und daher zu unterstützen ist, wo sie hingegen ihren Interessen widerspricht und daher ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Dann muss man auch nicht zu einem zynischen Heuchler werden wie Herr Kapp, der offensichtlich jede Gewalt Israels als Verhinderung eines weiteren Genozids an den Juden gutheißt. In dessen Weltbild ist man anscheinend entweder Opfer oder Urheber eines Genozids, womit er Hitlers Lebensphilosophie entspricht, wonach das Leben ein ständiger Kampf sei, in dem der Schwache unterliegen muss, um eine Höherentwicklung der menschlichen Spezies zu erreichen. Der Unterschied zwischen der Hamas und Israel bestünde dann nur darin, dass es der Hamas an Mitteln für einen Genozid mangelt, während Israel auch dank der US-Unterstützung darüber verfügt, wie es eindrucksvoll beweist: „Die prompt nach Israel entsandten US-Berater dürfen ungefragt zusehen, wie die israelische Armee alle amerikanischen Rekorde bezüglich der Zerstörung ziviler Stadtbebauung und Tötung von Zivilisten innerhalb weniger Wochen einholt. Vor allem beeindruckt sie offensichtlich der Abwurf von Hunderten zerstörungsintensiver 900 kg-Fliegerbomben, von denen sie während des gesamten Krieges gegen den IS in Irak und Syrien nur eine einzige eingesetzt haben; usw.“[8] Es wäre zum Vorteil aller Beteiligten, wenn der sich so ungemein intellektuell und herablassend gebende Herr Kapp solche Fakten zur Kenntnis nähme und sich der Einsicht in die fatalen Konsequenzen seines Denkens nicht weiterhin verschließen würde.


[1] https://www.puls24.at/video/pro-und-contra/pro-und-contra-farb-attacken-uni-camps-und-palaestinenser-fahnen-wo-endet-der-protest-und-wo-beginnt/v1awru0n3x2he, aufgerufen am 14. 5. 2024.

[2] Die Anführungszeichen kennzeichnen wörtliche Auszüge aus den Gesprächen.

[3] Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023

[4] Ebd., S. 215

[5] Ebd., S. 217

[6] Was passiert, wenn Russland den Krieg gewinnt? Oberst Reisner ordnet das ein. #ntv, https://www.youtube.com/shorts/Ob7eP01Bdd0, aufgerufen am 14. 5. 2024

[7] https://lektoratsprofi.com/2021/02/08/imperialistische-leichenberge-und-haltlose-querdenker/, aufgerufen am 15. 5. 2024

[8] Gegenstandpunkt 1-24, München 2024, S. 27, Fußnote 7

Nichts als Imperialismus

Wien, 27. 2. 2024

In den acht Jahren seiner Amtszeit hat US-Präsident Ronald Reagan mehr Geld für Militär ausgegeben, als die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis dahin verwendet haben: „In eight years Ronald Reagan spent $ 2.5 trillion on the military, more than was expended in all the years since World War II.“[1] Folglich wuchs die Staatsschuld der USA auch um ein Vielfaches, nämlich von 900 Milliarden auf 2,7 Billionen Dollar, also eine Verdreifachung in acht Jahren.[2] Diese exorbitante Steigerung der Rüstungsausgaben hatte den Zweck, endgültig und für alle Zeit den einzigen Widersacher einer US-Weltherrschaft zu bezwingen, nämlich die Sowjetunion und deren verbündete Staaten. Als schließlich die Sowjetunion angesichts der massiven Aufrüstung der USA kapitulierte und somit totgerüstet wurde, kannte die Begeisterung der imperialistischen Staaten über ihren Sieg im Kalten Krieg keine Grenzen und diese kosteten ihren Triumph aus, indem sie Repräsentanten der nun besiegten sozialistischen Staaten unnachsichtig verfolgten und ihrer „gerechten“ Strafe zuführten.

Ein Motiv für die endgültige Erledigung des feindlichen Systems war auch die Überakkumulationskrise der Westmächte. Nachdem diese bereits Kapital in Staaten der Dritten Welt exportiert hatten, die nun von den Zinsforderungen des Finanzkapitals heimgesucht wurden, und die Verwertungsmöglichkeiten des vorhandenen Kapitals an ihre Grenzen stießen, war die ohnehin prinzipiell inakzeptable Beschränkung eines globalen Kapitalismus durch den Sowjetblock einfach nicht mehr auszuhalten. Um also eine massive Entwertung überschüssigen, weil über keine Verwertungsmöglichkeiten verfügenden Kapitals zu verhindern, musste die Schranke der Kapitalverwertung beseitigt werden, die in der Existenz der realsozialistischen Staaten bestand. Der Sieg über den Systemgegner im Kalten Krieg war daher zu einer immer dringenderen Notwendigkeit für den Fortbestand des Kapitalismus geworden. Zudem war die Industrie des realen Sozialismus nicht für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt eingerichtet, sondern diente den Interessen eines sozialistischen Staates, und so war es einfach zu bewerkstelligen, diese Gebiete zu desindustrialisieren, also ihnen sozusagen die Entwertung des Kapitals aufzuhalsen, die sonst die führenden kapitalistischen Nationen hinnehmen hätten müssen. So aber konnte dieses Kapital sich in den ehemaligen Ostblock ausdehnen und alles aneignen, was in irgendeiner Form kapitalistisch verwertbar war, und wenn es nur gut ausgebildete Arbeiter zu Löhnen für die unqualifizierte Arbeit sogenannter „Hilfsarbeiter“ waren. Das überschüssige und nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital hatte also nun wieder Möglichkeiten zum Kapitalexport und die 1990er-Jahre waren von einer entsprechenden Goldgräberstimmung mit nun wieder beschleunigter Kapitalakkumulation geprägt. Alle jene wirtschaftlichen Einrichtungen, die nur der lokalen Versorgung dienten, wurden eliminiert und durch Niederlassungen der für den Weltmarkt produzierenden multinationalen Konzerne ersetzt. Dadurch konnten die ehemaligen Volksgenossen endlich die keineswegs ersehnte Bekanntschaft mit den vermeintlichen Propagandalügen ihres früheren sozialistischen Staates über reale kapitalistische „Errungenschaften“ machen: Arbeits- und Obdachlosigkeit, hohe Preise für Lebensmittel, Mieten, Energie und Verkehr, unzureichende oder unerschwingliche medizinische Dienstleistungen, wenige, dafür aber kostspielige Plätze für Kinderbetreuung etc. Ganz erstaunt mussten sie feststellen, dass es in einem kapitalistischen Unternehmen keineswegs gestattet war, während der Arbeitszeit einkaufen zu gehen, dass Krankheit oder Schwangerschaft möglichst zu vermeiden sind. Endlich wurde das früher im Sozialismus so eintönige Leben wieder spannend und die Persönlichkeit konnte sich in der Bewährung von Existenzängsten entwickeln und wachsen. Die darüber bereits wenige Jahre nach der sogenannten „Wende“ einsetzende „Ostalgie“ sprach natürlich nur dafür, dass es sich bei diesem Menschenschlag um eine vom realen Sozialismus, unter dem sie doch angeblich so gelitten hatten, verdorbene Sippschaft handeln konnte. Gefährlich konnte der sich hier äußernde Unmut auch nicht werden, schließlich gab es hier keine benachbarte Staatsgewalt, welche diese Unzufriedenheit und deren Sehnsüchte zur Aufwiegelung gegen ihre Herrschaft hätte fördern können, wie das von der BRD gegen die DDR praktiziert worden war.

Vorhandene Reproduktionsstrukturen zu zerstören, um dem kapitalistischen Zugriff gemäße gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, war immer schon die Voraussetzung für imperialistische Expansionen gewesen. Auch darauf weist Michael Parenti bereits in seinem Buch aus dem Jahr 1995 hin, indem er den Mythos der Unterentwicklung kritisiert, der schon immer als Rechtfertigung für Eroberungen gedient hat. Überlegen waren die Mächte des Westens und des Nordens vor allem in der Gewalt ihrer Waffen: „Superior firepower, not superior culture, has brought the Europeans and Euro-North Americans to positions of supremacy that today are still maintained by force, though not by force allone.“[3] Nicht allein Gewalt, sondern die herrschende Wirtschaftsordnung sowie die dazu passenden Ideologien, die immer wieder vorgebrachten „Werte“ erhalten den imperialistischen Staaten ihren Vorsprung in Form wirtschaftlicher und technologischer Überlegenheit. Und bis vor kurzem war es auch keine militärische Herausforderung, wenn eine Nation aus der Reihe tanzte und sich herausnahm, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen, die nicht im Sinne der Weltordnungsmächte waren. Da gibt es so viele Fälle von Interventionen, über die Buch zu führen eine mühselige Arbeit wäre. Parenti erwähnt hier unter anderen die militärische Intervention der USA unter Reagan gegen Grenada, die vor allem deswegen erwähnenswert ist, weil hier tatsächlich einmal der Vergleich mit dem Konflikt von David gegen Goliath passend ist. Mit seinen 102.000 Einwohnern war Grenada wahrlich keine Bedrohung für die USA und es war auch kein wichtiger Handelspartner, der dadurch weggebrochen wäre. Aber nachdem dort eine reformistische Regierung Landreformen, Programme öffentlicher Gesundheitsfürsorge und Ausbildung sowie Genossenschaften durchsetzte, mussten die USA andere Staaten von solchen „Abenteuern“ abschrecken. Nun herrschen dort wieder die gewünschten wirtschaftlichen Verhältnisse: „Today, with its unemployment at new heights and its poverty at new depths, Grenada is once again firmly bound to the free market world.“[4] Solche Interventionen gab es in großer Zahl, Parenti erwähnt neben Grenada noch Vietnam, Nordkorea, Kambodscha, Laos, Libanon, Philippinen, Panama, Libyen, Irak und Somalia, vor dem Zweiten Weltkrieg hatten bereits die Philippinen und die gerade entstandene Sowjetunion, China, Nicaragua, Haiti, Kuba, Mexiko, Honduras und Panama die zweifelhafte „Ehre“, vom US-Militär heimgesucht zu werden. Darüber hinaus unterstützten die USA finanziell und mit militärischer Ausrüstung jede Menge autoritärer Staaten, die Massaker an ihrer Bevölkerung ausübten und Folterungen durchführten, nämlich die Türkei, Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), Tschad, Pakistan, Marokko, Indonesien, Honduras, Peru, Kolumbien, El Salvador, Haiti, Kuba (unter Batista), Nicaragua (unter Somoza), Iran (unter dem Schah), die Philippinen (unter Marcos) und Portugal (unter Salazar).[5]

Weil solche Handlungen der USA von der gängigen historischen Forschung wenn nicht ignoriert, so zumindest relativiert werden, drängt sich der Schluss auf, dass es nicht die Gewalt der Staaten ist, anhand welcher die USA ihre Feinde „erkennen“. Es verhält sich vielmehr umgekehrt so, dass ihre Feinde natürlich keine Gewalt ausüben dürfen, weil sie damit natürlich ihrer Herrschaft dienen, welche die USA und ihre Verbündeten beseitigen wollen. Also nur deshalb, weil sie nicht ihren, ja sogar feindlichen Zwecken dienen, werden nahezu beliebige bis lächerliche Anschuldigungen gegen die nicht gefügigen Staaten erhoben. Nicht anders verhält es sich natürlich mit den Vorwürfen im gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine, dass Russland jede Menge grauenhafte Kriegsverbrechen begangen habe. Der Krieg von Russland gegen die Ukraine unterscheidet sich von den soeben aufgezählten US-Interventionen in zweifacher Hinsicht: Die USA kämpfen nicht mit offiziellen eigenen Truppen und bei Russland handelt es sich um eine Macht, die sich nicht so einfach militärisch bezwingen lässt. Da trifft es sich natürlich gut, dass die USA und die übrigen Westmächte sich auf Waffenlieferungen beschränken können, während den Blutzoll die Menschen in der Ukraine zu leisten haben.

Bekanntlich besitzen die USA außerhalb ihres eigenen Territoriums mehr als 800 Militärstützpunkte, während Russland laut Auskunft des CDU-Politikers Roderich Kiesewetter nur „über knapp 20 verfügt“,[6] was auch immer man sich unter „knapp 20“ vorstellen soll. (Ist eine Militärbasis vielleicht nur halb fertig?) Herr Kiesewetter findet das auch vollkommen in Ordnung, weil die USA mit ihren militärischen Einrichtungen ja nur den Frieden sichern, der offensichtlich zu deren Nutzen eingerichtet ist, weil er sonst ja kaum gefährdet wäre. Deswegen habe sich Russland ja auch die Ausbreitung der NATO bis an seine Grenzen gefallen zu lassen, während dessen Reaktion darauf mit dem Krieg in der Ukraine nur seine imperialistischen Ambitionen offenbare. Dass Russland angesichts dieser Logik viel mehr Ursache hat, sich durch die Expansion der NATO bedroht zu sehen, darf nicht gelten, denn Russland erweise sich dadurch erstens als paranoid und zweitens als imperialistische Macht. Wenn Russland in der Ukraine nicht gewinnen darf, weil es dadurch Appetit auf weitere Eroberungsfeldzüge bekommen könnte, soll das umgekehrt allerdings nicht die Paranoia der Westmächte beweisen.

Spätestens hier zeigt sich der Nutzen falscher Urteile über den Imperialismus, den die Geschichtswissenschaft auf dessen kolonialistische Ursprünge beschränkt wissen will. Dieser „territoriale Imperialismus“, wie Parenti den Kolonialismus nennt, bezweckte die Herrschaft über fremde Gebiete, um diese exklusiv den nationalen Interessen der Eroberer verfügbar zu machen. Das hatte allerdings den Nachteil, dass die neuen Herren für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft einen beträchtlichen Aufwand betreiben mussten, den sie besser einer lokalen Herrschaft aufbürden, die sie nur dann mit militärischen Mitteln zur Räson bringen müssen, wenn sich diese nicht an die von den imperialistischen Mächten bestimmte Weltordnung hält. Daher waren und sind die USA weniger am Besitz von Kolonien interessiert, als an den von ihnen festgelegten Handelsbeziehungen, deren desaströse Folgen von eigenständigen Nationen allein zu bewältigen sind: „Historically U.S. capitalist interests have been less interested in acquiring more colonies than in acquiring more wealth, preferring to make off with the treasure of other nations without bothering to own and administer the nations themselves.“[7] Dass es mittlerweile dadurch jede Menge sogenannter gescheiterter Staaten (failed states) gibt, ist gleichgültig, solange sich diese nicht als Störung der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Ordnung bemerkbar machen.

Um jederzeit an jedem Ort militärisch gegen die „Feinde der Demokratie und der Menschenrechte“ vorzugehen, benötigen die „Friedensmissionen“ des US-Militärs entsprechende Ressourcen, weshalb auch die Militärausgaben nicht mehr gesunken sind, nachdem Reagan diese zu einem neuen Höhenflügen gebracht hatte, obwohl damit der große Systemgegner zum Eingeständnis seiner Niederlage gezwungen worden war. Mit dem Rechtsbewusstsein, überall für Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu sorgen, kennt die Gewalt auch keine Schranken in ihrem Kampf gegen die Feinde dieser höchsten Werte, die erst wirklich einen Menschen ausmachen würden. Und so besteht immerhin hier eine Kontinuität mit der kolonialistisch geprägten Frühform des Imperialismus, der seine Kolonialisierung fremder Gebiete ja auch damit rechtfertigte, dass dadurch die „barbarischen Heiden“ mit den humanistischen Werten des Christentums beglückt werden sollten. Nun werden diese „Barbaren“, als welche seit 2022 vor allem Russen gelten, eben mit den humanistischen Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten bekannt gemacht, in einer jede Gewalt rechtfertigenden Art und Weise, für die nur ihre Uneinsichtigkeit verantwortlich sei. Und so erklärt sich auch, weshalb die Gewalt der imperialistischen Mächte als deren selbstverständliches gutes Recht zu gelten hat und darüber auch nicht peinlich genau Buch zu führen ist, ganz im Gegensatz zu deren Gegnern. Deswegen existiert hier auch kein Erinnerungsvermögen, „das in der Bundesrepublik lediglich gefragt ist, wenn es um ostelbische Immobilien und Ländereien geht“,[8] wie Dieter Kraft so treffend formuliert hat. Sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dürfen die Massaker des Imperialismus mildernde Umstände in Anspruch nehmen, welche dessen Gegnern natürlich keineswegs zugestanden werden. Die dafür erforderlichen Rechtfertigungsmanöver entsprechen zwar der Vorgangsweise von Winkeladvokaten, wie Dieter Kraft sagt, aber in ihrem Fall sind imperialistische Staaten nicht so kleinlich, auch wenn die Beanspruchung eines Kriteriums „nur für sich und die eigene Sache (…) gerade die Definition für Dogmatismus auf theoretischer und Heuchelei auf moralischer Ebene (ist)“.[9] Und so gilt Stalin womöglich deswegen als Inkarnation des Bösen, weil er für eine Entwicklung steht, „ohne die Russland heute wahrscheinlich eine Kolonie wäre und keine militärische Weltmacht“.[10] Um dieses Verhältnis umzukehren, lassen die Westmächte derzeit die Ukraine gegen Russland kämpfen.


[1] Michael Parenti: Against Empire, San Francisco 1995, S. 166: In acht Jahren gab Ronald Reagan 2,5 Billionen Dollar für das Militär aus, mehr als in all den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg aufgewandt worden war. (eigene Übersetzung)

[2] Ebd., S. 167

[3] Ebd., S. 8: Überlegene Feuerkraft, nicht überlegene Kultur hat die Europäer und die Euro-Nordamerikaner zu Positionen der Vorherrschaft gebracht, die noch heute durch Gewalt aufrechterhalten werden, wenn auch nicht durch Gewalt allein. (eigene Übersetzung)

[4] Ebd., S. 42: Heute, mit seiner Arbeitslosigkeit auf neuen Höhen und seiner Armut in neuen Tiefen, ist Grenada erneut fest in die Welt der freien Marktwirtschaft eingebunden. (eigene Übersetzung)

[5] Ebd., S. 37 ff.

[6] Roderich Kiesewetter am 25. 8. 2022 in Beantwortung einer Frage vom 24. 8. 2022, https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/roderich-kiesewetter/fragen-antworten/warum-unterhalten-die-usa-ueberall-in-der-welt-an-die-1000-militaerbasenrussland-hat-angeblich-nur-20, aufgerufen am 26. 2. 2024.

[7] Michael Parenti: Against Empire, a. a. O., S. 15: Historisch hatten US-Kapitalisten weniger in Interesse am Erwerb von mehr Kolonien als an der Aneignung von Reichtum, sie zogen es vor, sich mit dem Reichtum anderer Nationen davonzumachen als sich damit zu plagen, diese Nationen selbst zu besitzen und zu verwalten. (eigene Übersetzung)

[8] Dieter Kraft: Friedenspolitischer Ratschlag, in: Constanze und Dieter Kraft: Einsichten und Widersprüche. Texte aus drei überwältigten Jahrzehnten, Kassel 2020, S. 108

[9] Domenico Losurdo: Stalin: Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, S. 327, zit n. Dieter Kraft: Stalin – eine schwarze Legende, in: Constanze und Dieter Kraft: Einsichten und Widersprüche, a. a. O., S. 335

[10] Dieter Kraft: Stalin – eine schwarze Legende, a. a. O., S. 333

Die Demokratie ist in Gefahr!

Wien, 19. 2. 2024

So lautet die Klage angesichts einer angeblich wachsenden Anzahl von Menschen, die eine stabile Ordnung durch die starke Hand eines Diktators dem „Chaos“ vorziehen würden, das sie in einer freien und demokratischen Gesellschaft am Werk sehen. Damit steht auch schon fest, dass eine Kritik der Demokratie nur gegen deren Urheber sprechen kann. Diese seien nicht in der Lage, Verantwortung für ihr Dasein zu übernehmen, weder als wirtschaftliche noch als politische Subjekte. Und da es einen beklagenswerten Zustand darstellen soll, wenn die Demokratie in Gefahr sei, ist wohl auch kaum eine andere Schlussfolgerung möglich als jene, dass diese Gefahr nur ein Zeichen mangelnder demokratischer Reife sein könne. Da die Demokratie als ein bedingungslos hohes Gut gilt, dessen Kritik sich von vornherein verbietet, spricht deren Kritik nur gegen ihre Kritiker. Dennoch drängt sich hier die Frage auf, wie es sein kann, dass eine als derart vernünftig geltende Einrichtung wie die Demokratie so viel Feindseligkeit hervorruft. Dies einfach mit mangelnder demokratischer Reife abzutun, macht es sich hier wohl doch zu einfach.

Wäre die Demokratie jener zwanglose Zusammenhang, für den sie sich hält und als welchen sie sich darstellt, so ließe sich nicht erklären, wie es in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt zu Unstimmigkeiten, unüberbrückbaren Konflikten und Feindschaften, ja zu Hasstiraden und Feindbildern kommen könne. Umgekehrt lässt sich aus diesen Phänomenen darauf schließen, dass die Vorstellung nicht haltbar ist, wonach es sich bei der Demokratie um eine selbstbestimmte freie Gesellschaft und nicht um eine Form von Herrschaft handle. Dennoch denkt jeder bei der Warnung vor einer Gefahr für die Demokratie sofort an die Abschaffung von Selbstbestimmung und Freiheit, als deren Hort ja die bürgerliche Gesellschaft insgesamt gilt. Diese versteht sich als Zusammenhang, in welchem die Bürger allein gemäß ihren Interessen und daher ohne äußeren Zwang miteinander verkehren. Wozu es dann aber der Ermächtigung einer politischen Herrschaft bedürfte, müsste man sich nun fragen. Um dieser Frage zu entgehen, lohnt es sich zu bestreiten, dass es sich bei der Demokratie im Wesentlichen um nichts weiter als eine spezifische Form staatlicher Herrschaft handelt. Dann denken eben alle bei der Warnung, dass die Demokratie in Gefahr sei, an die drohende Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, nicht aber an eine Herrschaft, deren Nutznießer um ihren Nutzen bangen, den keineswegs alle Bürgern daraus ziehen, die zum Großteil als dessen Mittel zu agieren genötigt sind.

Würde eine sozialistisch orientierte Staatsmacht davor warnen, dass der Sozialismus in Gefahr sei, so bestünde die Reaktion keineswegs in der Anteilnahme an dieser Sorge, sondern es würde sich Genugtuung breitmachen, dass endlich eintreffe, was schon längst fällig sei. Genauso ist es ja geschehen, als die realsozialistischen Staaten ihre Staatsräson aufgaben, weil der Kapitalismus darin überlegen schien, sich als Herrschaft in einer Welt voller konkurrierender Staaten zu behaupten. Dass hier auch jede Menge von außen geschürte Unzufriedenheit und Verblendung der ehemaligen Volksgenossen wirkte, die alles für Propagandalügen hielten, was ihnen über den Kapitalismus erklärt worden war, sei hier nur am Rande erwähnt. Für die hier von mir vorgetragenen Erläuterungen genügt es festzuhalten, dass bei „Sozialismus in Gefahr“ hierzulande jeder sofort denkt: „Na, was denn sonst und na endlich und Gott sei Dank“, während bei dem Ruf „Demokratie in Gefahr“ jeder sofort erbleicht und sich von der maßlosen Herrschaft einer Diktatur bedroht sieht. Damit ergibt sich allerdings die Frage, wie und wodurch denn die Demokratie in Gefahr geraten könne, wenn sich doch alle für sie begeistern und angesichts ihrer Gefährdung sofort für ihre Rettung einsetzen. Wie soll diese Gefahr also möglich sein, wenn doch die Demokratie für alle nur Vorteile bringe?

Ist man der Auffassung, dass die Demokratie allen Menschen nützlich sei, so kann man sich die Abwendung von ihr nur so erklären, dass die Menschen diesen Nutzen gar nicht mehr erkennen und darüber hinaus die Demokratie für selbstverständlich halten würden. Letzteres sei vor allem deshalb gefährlich, weil dadurch das Bewusstsein verloren gehe, dass die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigt werden müsse. Wer aber sollen diese Feinde sein? Hier fallen dem demokratischen Sachverstand sofort psychische Abgründe ein, die in jedem Menschen schlummern würden. So könne es als mühsam erscheinen, mit Argumenten für die eigenen Auffassungen werben und um Beschlüsse ringen zu müssen, anstatt diese einfach machtvoll durchzusetzen. Viele würden einfach nicht die Geduld für demokratische Entscheidungsprozesse aufbringen, die ihnen daher nur als Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Interessen erscheinen. Oder es seien bestimmte Menschen deswegen mit der Demokratie nicht zufrieden, weil sie ihrer Herrschsucht keinen Raum gebe, während andere sich nur zu gerne einem Führer unterwerfen würden, weil sie sich lieber an Befehle klammern, anstatt selbst Entscheidungen treffen und verantworten zu müssen.

Es gibt aber auch Stimmen, die befürchten, dass demokratische Prozesse den Staat der Unvernunft seiner Bürger ausliefern würden. Anstatt vernünftig zu sparen und den vorhandenen Reichtum für zukünftige Generationen zu bewahren, würden die Bürger diesen verschwenden und über ihre Verhältnisse leben. So ist das eben bei verantwortungslosen Menschen, denen es an der richtigen Härte zur Selbstbehauptung in der Konkurrenz mangelt. Solche Charaktere wollen nicht nur, dass andere für sie entscheiden, was zu tun sei, sondern sie wollen sich auch in der sozialen Hängematte gehen lassen. Und weil die Führer des Staates wieder gewählt werden wollen, würden sie eher die Pleite des Staates riskieren, indem sie die Bürger mit Sozialleistungen verwöhnen, als ihre Bestätigung im Amt zu riskieren. Seltsamerweise wird der Vorwurf, dass die Demokratie die Herrschaft des Staates gefährde, allerdings nicht als Gefahr für die Demokratie beurteilt. Das könnte natürlich daran liegen, dass insgeheim jeder weiß, wie sehr demokratische Ermächtigung und staatliche Herrschaft zusammenhängen. Denn um mehr als die Bestätigung dieser Herrschaft geht es ja in einer demokratischen Wahl nicht. Deswegen ist ja auch keine Partei zur Wahl zugelassen, die nur ein Anliegen durchsetzen will, denn ein solches „imperatives Mandat“ ist in der Verfassung verboten. Jede Partei, die sich um die Führung des Staates bewirbt, muss konsequenterweise ein Herrschaftsprogramm vorweisen, in dem sie präsentiert, welchen Gebrauch sie von den Ämtern machen will, um die sie sich in der Wahl bewirbt. Und dieser Gebrauch ist natürlich durch die staatliche Funktion dieser Ämter bestimmt. Darüber ist auch kein Politiker an irgendeinen Auftrag bzw. ein imperatives Mandat seiner Wähler gebunden, denn das würde als Unterwerfung unter partikulare Interessen und daher als undemokratisch gelten.

Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass die bürgerliche Demokratie nicht jenes Paradies ist, als welches sie gelten will. Die staatlichen Funktionen, für die sich Politiker bewerben, stehen fest und beschränken deren Handlungsspielraum. Was auch immer sich ein Wähler bei seiner Stimmabgabe denkt oder davon erhofft, spielt in Wirklichkeit keine Rolle und daher handeln sich die Politiker den Vorwurf der Lüge und der Heuchelei ein. Die Haus- und Hofberichterstattung in Gestalt der Medien klagt daher über Politikverdrossenheit, weil mangelnde Zustimmung zur bürgerlichen Herrschaft als Gefahr für diese betrachtet wird. Und spätestens hier könnte einem auffallen, dass die Klage um eine Gefahr für die Demokratie nichts anderes als die Sorge um die Aufrechterhaltung bürgerlicher Herrschaft ist. Zu dieser aber passt die Demokratie viel besser als eine Diktatur, weil sie dem Anspruch der Selbstbestimmung entspricht, der sich in der bürgerlichen Konkurrenz als Nötigung zur Selbstbehauptung geltend macht. So wie die Bürger an der Konkurrenz trotz all der Misserfolge, die sie hierin erleiden, als Mittel ihrer Selbstbehauptung festhalten sollen, weil ganz abstrakt oder prinzipiell ihr Erfolg darin möglich wäre, sollen sie in der diese Konkurrenz überwachenden und regulierenden Staatsgewalt ihr Mittel sehen und sich für die demokratische Ermächtigung ihrer Staatsführung begeistern. Richtig begeistert und daher um den Fortbestand dieser Herrschaft besorgt sind natürlich die Nutznießer dieser gesellschaftlichen Verhältnisse, während die Konkurrenzverlierer eher keinen Grund haben, an diesen festzuhalten.

Um für die Herrschaft der Demokratie zu werben, soll sich jeder deren Abwesenheit als tyrannische, diktatorische oder auch autoritäre Herrschaft, somit als totale Unterwerfung seiner Person vorstellen, angesichts deren er mit der Demokratie doch bestens bedient sei, weil diese der Herrschaft Schranken setze. Da trifft es sich auch gut, dass es so etwas wie das Bedürfnis nach Herrschaft an sich nur als Ersatzprogramm für ausbleibenden Konkurrenzerfolg in sadomasochistischen Beziehungen gibt. Üblicherweise dient Herrschaft nämlich bestimmten Zwecken, die im Falle der bürgerlichen Gesellschaft eben für eine große Mehrheit alles andere als bekömmlich sind und daher herrschaftlicher Einrichtungen bedürfen. Die Schädigung anderer Menschen ist zwar in der Regel nicht der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sie wird aber sofort in Kauf genommen, wenn sie für die Maximierung von Profit erforderlich ist oder auch nur scheint. Um diese Schädigungen als vertretbar hinzustellen, ist es natürlich auch hilfreich, sich noch viel schlimmere Leiden vorzustellen, die einen erwarten würden, wenn nicht die Demokratie herrschte, sondern ein Diktator. Weil dieses Mittel aber zunehmend seinen Dienst versagt, was mit dem zunehmenden Elend zusammenhängen könnte, das auf dieses Mittel angewiesene Menschen zu bewältigen haben, wird die Gefahr für die Demokratie von jenen beschworen, die dieses Mittels nicht bedürfen, weil sie zu den Nutznießern bürgerlicher Herrschaft gehören. Diese einfache Wahrheit soll natürlich niemand begreifen, sondern in der Gefahr für die Demokratie einen Schaden für sich sehen, obwohl dieser bereits in der Demokratie vorhanden ist.