2018

Beleidigte Rechtsansprüche – ihre Logik und ihre Fehler

Wien 4. 12. 2018

„Wer vom Klassenantagonismus und der Ursache von Arbeitslosigkeit in der Kapitalkonkurrenz nichts wissen will, wird Armut und Verwahrlosung den Betroffenen als ihre individuelle oder kollektive (Fehl-)Leistung zurechnen.“[1] Der Zusammenhang dieser unschönen Erscheinungen mit der bürgerlichen Gesellschaft wird also geleugnet, wenn man Armut und Verwahrlosung zum individuellen Versagen jener erklärt, die davon betroffen sind. Um diesen Zusammenhang zu leugnen, muss man den Armen ihre Armut zur Last legen. Genauso begibt sich auf die Suche nach Schädlingen der Nation, wer nicht zur Kenntnis nehmen will, dass diese nicht den Zweck hat, den Bedürfnissen der Bürger zu dienen, die sie vielmehr für ihre Machtentfaltung einspannt. Nationalismus ist daher die notwendige Folge des Anliegens, in der bürgerlichen Gesellschaft, die der Staat verwaltet, seinen Erfolg zu suchen.

Dieser Nationalismus soll immer dann eine individuelle Fehlleistung sein, wenn er sich auf eine Art und Weise betätigt, die von der nationalen Obrigkeit nicht erwünscht ist. So wurde 2015 angesichts des Schwenks der deutschen Regierung in der Migrationspolitik plötzlich angefeindet, wer sich bis dahin ins Recht gesetzt sah. Diesen Schwenk vermochten die Bürger aufgrund ihrer nationalistischen Überzeugungen nicht mitzutragen, die jeden Ausländer als Schädling der Nation betrachten, bei dem der nationale Nutzen seiner Anwesenheit zumindest fragwürdig ist. Angesichts von Migranten, die sich offen als Feinde der „Gastgeber“ verstehen, die sie eines unmoralischen, weil den Islam ignorierenden Lebenswandels bezichtigen, werden sie in ihrer Suche nach Feinden der Nation auch leicht fündig. Umgekehrt sehen diese sich ganz offen feindselig gebärdenden Migranten sich in ihrer Gegnerschaft bestärkt, da auch sie nicht in der Lage sind, zwischen nationalistischen Anfeindungen und den marktwirtschaftlich sachgerechten „Diskriminierungen“ und Selektionsweisen zu unterscheiden. Ebenso wie ihre nationalistischen Gegner sehen daher auch sie keinen Unterschied, schon gar keinen Gegensatz zwischen den Drangsalen, Anliegen und Verfahrensweisen der nationalen Obrigkeit und ihres Fußvolks. Dies soll nun noch ausführlicher betrachtet werden.

Nationalistische Bürger betrachten es als Aufgabe des bürgerlichen Staates, zumindest die Bedingungen ihres wirtschaftlichen Erfolgs bereitzustellen und zu schützen. Dieses vermeintliche Recht sehen sie gefährdet, wenn dieser Staat seine Grenzen nicht schützt, sondern sogar noch öffnet, um Migranten aufzunehmen, mit denen sie nun um ohnehin bereits knappe Arbeitsangebote und Wohnungen konkurrieren müssen. Anstatt sich aus diesem Anlass zu fragen, ob sie vielleicht falsche Vorstellungen vom bürgerlichen Staat und ihrer Rolle in diesem haben, halten sie an diesen Vorstellungen fest. Deswegen verhalten sie sich nun ablehnend und feindlich zu den Migranten sowie zu den vermeintlichen „Verrätern“ in der Staatsführung. Wegen ihres beleidigten Rechtsanspruchs darauf, dass der Staat für sie dazusein und sich einzusetzen habe, sehen sie sich gegen eine Staatsführung zum Widerstand berechtigt, die deswegen ihrem eigentlichen Daseinszweck untreu geworden sei. Diese Urteile werden in den Aufmärschen von Pegida vorgetragen und führen zur Unterstützung der AfD, die sich für eine Besinnung des Staates auf seine nationalen Aufgaben und Pflichten einsetzt.

Wer also daran festhalten will, dass die Staatsgewalt für ihn eingerichtet sei, der sieht in jedem Ausländer, der sich in seiner Heimat niederlassen will, einen Anschlag auf den Staat und sich. Wenn er sonst schon keinen Nutzen von „seinem Staat“ hat, so will er wenigstens jeden Ausländer von jedem potentiellen Nutzen ausgeschlossen wissen. Darüber hinaus ist ihm die Einwanderung dieser Menschen ein untrügliches Zeichen für deren Absicht, sich dadurch ein besseres Leben zu verschaffen. Das ist selbst dann für ihn schwer zu verkraften, wenn diese Menschen wie in den 1950er- und 1960er-Jahren zum Dienst am kapitalistischen Wachstum eingeladen werden. Wenn ein solcher Dienst jedoch nicht einmal abzusehen ist und diese Menschen zunächst als Sozialfälle in Erscheinung treten, dann kann er sich als Motiv für Migration nur die Absicht vorstellen, sich auf Kosten der Nation einzunisten. Von diesem Urteil ist es nun nicht mehr weit zu der Vorstellung, dass es sich bei Migranten um Menschen handelt, die rücksichtlos ihren Vorteil auf Kosten anderer durchzusetzen suchen. Wenn diese dann auch noch versuchen, sich gewaltsam Zugang auf ein fremdes Territorium zu verschaffen oder Frauen des „Gastlandes“ belästigen und vergewaltigen, dann sehen sie sich in diesem Urteil unwiderleglich bestätigt.

Wegen dieser nationalistischen Ursache der Ausländerfeindschaft verbietet sich für Linke jede Kritik an Ausländern, da dies nur der Bestätigung dieser Ausländerfeindschaft dienen würde. Wie falsch und ihrerseits nationalistisch die Urteile von Menschen aus dem Ausland auch sein mögen, für Linke sind Ausländer gegen jede Kritik unter Schutz zu stellen, sie genießen sozusagen Immunität. Damit machen sich Linke bei den „heimischen“ Nationalisten unglaubwürdig, da bei Ausländern plötzlich alles erlaubt zu sein scheint, was man ihnen als Nationalismus vorwirft. Selbst die Kritik der nationalistischen Rechtsansprüche ausländischer Mitbürger betrachten Linke nur als Vorwand für nationalistisch geprägte Vorurteile. Für sie ist jede Kritik an Menschen ausländischer Herkunft nationalistisch bestimmt, selbst dann, wenn sich diese Ausländer ebenfalls durch nationalistische Urteile bemerkbar machen. Genauso wenig wie es sich bei deutschen Nationalisten nur um „bedauerliche“ Einzelfälle handelt, sind jedoch auch Gewaltakte von Migranten oft nicht bloß „bedauerliche“ Einzelfälle, sondern ebenso von deren falschem Rechtsbewusstsein geprägt.

Zu diesem falschen Rechtsbewusstsein gehört der Glaube, dass man mit entsprechender Leistungsbereitschaft in der bürgerlichen Gesellschaft Erfolg haben würde. Wenn dieser ausbleibt, dann halten Ausländer an diesem falschen Bewusstsein fest, indem sie ihr Scheitern auf rassistische und diskriminierende Verhaltensweisen der Inländer zurückführen. Das unterscheidet sich nicht von den Praktiken der Inländer, die es der Existenz Migranten zur Last legen, wenn ihr vermeintliches Recht auf Erfolg nicht bedient wird. Von diesen Urteilen geprägte Ausländer bilden dann genauso eine feindselige Einstellung gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Rassisten, wie sie ihnen umgekehrt tatsächlich oder auch nur vermeintlich widerfährt. Das bekommen Inländer vor allem dann zu spüren, wenn sie sich in Regionen aufhalten, in denen sie in der Minderheit sind. Da können sie sich schon auf die eine oder andere Hetzjagd gefasst machen. Wegen solcher Urteile und nicht nur deswegen, weil sie auch in den Armutsstatistiken die Spitzenplätze belegen, sind Ausländer auch überproportional in Kriminalitätsstatistiken zu finden. Aufgrund der Tatsache, dass Rechte in jedem kriminellen Ausländer eine Bestätigung ihrer Ausländerfeindlichkeit sehen, weigern sich Linke jedoch, die überproportionale Kriminalität von Ausländern als Hinweis auf deren Feindschaft gegen Inländer zu begreifen, die jener der Rechten gegen sie um nichts nachsteht. Falls sie diese Statistik zur Kenntnis nehmen, erklären sie die Gewalt der Ausländer als verständliche Reaktion auf deren Diskriminierung durch Inländer und bestärken sie damit noch in ihrem falschen Rechtsbewusstsein, dass sie sich an einer Gesellschaft von Rassisten rächen oder zumindest für erlittenes „Unrecht“ schadlos halten dürften.

Besonders ausgeprägt zeigt sich dieses falsche Rechtsbewusstsein in den Urteilen von Migranten, die mit der Erwartung nach Europa aufbrechen, dass sie bald nach ihrer Ankunft über eine ansehnliche Wohnung und ein großes Auto verfügen würden. Es ist jedoch für Ausländer in der Regel kaum etwas Besseres als die Konkurrenz um Niedriglöhne vorgesehen, bei der sie in der Regel genauso wie ihre „Klassenkollegen“ den Nachteil und den Schaden haben. Das Kapital offenbart hier, dass es keinerlei nationalistische Vorurteile hat und jeden beschäftigt, wenn er ihm nur von Nutzen ist. Umso absurder ist es daher, wenn Ausländerfeinde dadurch zufriedenzustellen wären, dass diese Benutzung ihnen vorbehalten bliebe und ihr fragwürdiges Privileg darstellen würde. Für Ausländer wie Inländer, die auf eine Existenz als Lohnarbeit festgelegt sind, wäre es stattdessen ratsam zu erkennen, dass in dieser Lohnabhängigkeit, wie diese sehr treffend bezeichnet wird, die ihnen gemeinsame Ursache ihrer prekären Existenz besteht, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen. Was diese Einsicht betrifft, zeichnen sich jedoch beide Seiten durch Ignoranz aus und sind beide dafür zu kritisieren.

Eine solche Kritik, die nicht nur heimische, sondern auch fremde Nationalisten trifft, halten Linke für ungehörig. Einige sogenannte Linke betrachten ja nicht nur die nationalistischen Schlussfolgerungen, die Lohnabhängige aus ihren Notlagen ziehen, für falsch, sondern auch die Auffassung, sich in einer Notlage zu befinden. Es würden ja nur Rechte verschiedene Ängste wie etwa jene einer künftigen Verarmung durch die Aufnahme von Migranten heraufbeschwören, behaupten sie – während in Wirklichkeit diese Bürger sich mit der Bewältigung ihrer Armut abplagen und über die Ursachen ihrer Armut leider in der Regel die falschen Schlüsse ziehen. Sogar eine irrationale Angst vor allem Fremden, egal wie dieses beschaffen sein möge, erklären sogenannte Linke zur Ursache von Ausländerfeindlichkeit, die dann wohl therapeutischer Maßnahmen bedürfe. Für Michael Haneke hätten „wir“ Europäer eine Ohrfeige für „unsere“ Klagen verdient, da „wir“ nur privilegiert und verwöhnt seien und den Migranten „unsere“ Privilegien vorenthalten wollten. Die Kritik weiterer elender Erscheinungsformen gegenwärtig etablierter Deutungen des Weltgeschehens findet sich in meinem Buch „Hass – Opium der Völker. Rechte und linke Ideale im Kampf um die bürgerliche Gesellschaft“. Dazu gehört die Forderung, das Beharren der Migranten auf ihrem Nationalbewusstsein als Pflege ihrer kulturellen Identität zu respektieren, welche zu verweigern nur die Angst vor Neuem und Fremdem offenbaren würde. Das soll selbst dann gelten, wenn diese Fremdheit sich in der Nötigung von Frauen zur Verhüllung in der Öffentlichkeit manifestiert, auch Steinigung für Ehebrecher wurde schon als Konsequenz freier Religionsausübung gefordert. Vielleicht soll man ja auch noch Genitalverstümmelungen als kulturelle Besonderheit anerkennen.

Wenn man angesichts solcher Erscheinungsformen Kritik unterlässt, weil man damit ja dem hiesigen Nationalbewusstsein in die Hände spielen würde, läuft das darauf hinaus, den religiös überhöhten nationalen Narzissmus eingewanderter Muslime hinzunehmen, um jenem der Inländer entgegenzutreten. Dies bewirkt aber genau im Gegenteil die Unglaubwürdigkeit der eigenen Kritik und dient daher nur der Bestätigung von deren Nationalismus. Es wäre darüber hinaus auch fraglich, wie man den Nationalismus von Deutschen und Österreichern überwinden wollte, wenn die nationale Obrigkeit daran interessiert ist, dass diese weiterhin für die bürgerliche Gesellschaft und den für diese zuständigen Staat als ihre Lebensbedingung eintreten. Will man ihre Parteilichkeit für den bürgerlichen Staat, so ist diese ohne Nationalismus nicht zu haben. Die Beschimpfungen eines eigenständigen Nationalismus, der sich nicht je nach Bedarf von der Obrigkeit diktieren lässt, was zu tun ist, waren daher auch nicht erfolgreich. Sie riefen vielmehr Zweifel an der rechten Gesinnung dieser Obrigkeit hervor, die sich z. B. in dem Vorwurf „Lügenpresse“ äußerten. Deswegen versuchen die politischen Eliten in Europa nun diesen Nationalismus damit zufriedenzustellen, dass sich die Nation offen feindselig gegen Ausländer verhält und diese demonstrativ von sozialstaatlicher Betreuung ausschließt oder zumindest deutlich schlechterstellt als Inländer.

Wenn die nationale Obrigkeit durch ihr militärisches und wirtschaftliches Wirken auf der ganzen Welt Fluchtbewegungen verursacht, sich der dadurch bei ihr einfinden Migranten aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen annimmt und dafür die Solidarität ihrer Bürger verlangt, so enttäuscht sie deren nationalistische Erwartung, das bevorzugte Subjekt des Wirkens ihrer nationalen Obrigkeit zu sein. Diese Bürger müssten einsehen, dass ihre Armut nicht staatlichem Versagen entspringt, weil sich dieser Staat von Migranten ausnutzen ließe, anstatt rigoros gegen diese vorzugehen. Damit wären sie aber auf dem Weg zu einer Einsicht, die der Staat gewiss vermeiden will, der daher mit den Konflikten leben muss, die ihm die nationalistischen Fehlschlüsse seiner Bürger einbringen, auf die er schließlich großen Wert legt.

[1] Renate Dillmann/Arian Schiffer-Nasserie: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung, Hamburg 2018, S. 213

Die Verelendung der EU-Peripherie am Beispiel Griechenlands

9. 11. 2018

Über die Spardiktate angesichts überschuldeter Staaten schreibt Amelie Lanier in ihrem neuen Buch: „Wenn in einem Land die Wirtschaftsleistung zurückgeht, die Kaufkraft einbricht und eine Bankrottwelle das Land überzieht, so würde eine geringe Staatsverschuldung daran auch nichts ändern. Es ist die Ökonomie selbst, die kapitalistisch erfolgreich sein muss, und das liegt an ihren Unternehmern, deren Kapitalgröße, deren Erfolgen im In- und Ausland und hat mit den Ausgaben des Staates einmal gar nichts zu tun.“[1] Es fragt sich also, was man mit Sparpaketen zu erreichen hofft, wenn man damit an der Ökonomie selbst doch nichts ändern kann.

Bei den Staatsschulden ist nicht ihre absolute Höhe, sondern ihr Verhältnis zum Kapitalwachstum entscheidend dafür, wie sie von den „Märkten“, also dem spekulierenden Finanzkapital bewertet werden. Im Falle Griechenlands wurden die Schulden für zu hoch im Verhältnis zu dessen Wirtschaftswachstum beurteilt, weshalb diesem Staat weiterer Kredit verweigert wurde. Dies geschah auch deshalb, weil es ja genügend andere Staaten, die Kredit begehren, gibt, bei denen sich das Verhältnis von Staatsschulden und Wirtschaftswachstum günstiger gestaltet. Griechenland hätte nicht einmal mit höheren Zinsen das internationale Finanzkapital zu einer Fortsetzung seines Engagements bewegen können, denn es herrscht die Auffassung, dass Griechenland weitere Schulden nicht durch die Resultate kapitalistischen Wachstums, sondern nur durch fortgesetzte neue Verschuldung bedienen könnte. Irgendwann hätte diese einem Pyramidenspiel ähnliche Konstruktion schließlich platzen müssen.

Wie ist es dazu gekommen? Griechenland hat die Verschuldungsfähigkeit, die diesem Staat die Teilnahme am Euro verliehen hat, zur Aufnahme von Krediten benutzt, die Einnahmen, die es sich aus deren Verwendung erhofft hat, sind jedoch ausgeblieben. Ebenso war es in Spanien, nur dass man dort den ausgebliebenen Gewinn der Immobilieninvestitionen in Form von Geisterstädten bewundern kann, was auch auf die Tourismuseinrichtungen der Kärntner Bank Hypo Alpe Adria in Kroatien zutrifft. Die mit den Schulden geschaffene Kaufkraft Griechenlands haben vor allem ausländische Kapitale der EU zu nutzen verstanden, an erster Stelle natürlich Exportweltmeister Deutschland. Deutschlands Steuereinnahmen sind entsprechend gestiegen, da das deutsche Kapital die Kaufkraft Griechenland zur weiteren Akkumulation genutzt hat. Den Griechen sind jedoch die Schulden geblieben, die diese Kaufkraft erst hervorgebracht haben. Deswegen verlangt die EU, an vorderster Front Deutschland und Frankreich, dass der griechische Staat seine Ausgaben reduziert, auch wenn es keineswegs unbekannt ist, dass solche Einschränkungen bei den Staatsausgaben auch negative Auswirkungen auf die Staatseinnahmen haben können. Es kommt nämlich zu einer Abwärtsspirale, die Einschränkung staatlicher Ausgaben macht sich als Verringerung der Kaufkraft geltend, wodurch die Kapitalverwertung in Griechenland noch weiter zurückgeht und daher auch die daran gebundenen Einnahmen des Staates.

Nun hätte man ja auf die Idee kommen können, dass es besser wäre, dem Kapitalwachstum in Griechenland auf die Sprünge zu helfen und dadurch für höhere Einnahmen des Staates zu sorgen, anstatt dessen Ausgaben zu reduzieren. Die Kapitale der Staaten, die an Griechenland gut verdient haben, könnten ja nun in Griechenland einkaufen, und nicht nur diese, sondern auch der deutsche Staat könnte Waren und Dienstleistungen aus Griechenland beziehen. Das Dumme ist nur, dass Griechenland zu wenig zu bieten hat, dessen Kauf sich für ausländische Unternehmen und Staaten lohnen würde, denn sonst würde es ja auch nicht zu den Verlierern in der Konkurrenz der Nationen um das Wachstum des Kapitals gehören. Darüber hinaus hat aber offensichtlich auch keine der Siegernationen ein Interesse, die Ansiedlung von Unternehmen in Griechenland zu fördern, deren Waren dann vom Ausland gekauft werden könnten, um auf diese Weise das Kapitalwachstum in Griechenland anzukurbeln. Angesichts allgemeiner Überakkumulation des Kapitals geht es den Nationen schließlich darum, die Lasten zu deren Bereinigung den Konkurrenten aufzuhalsen. Auch die Siegernationen haben schließlich jede Menge an Volk, das für den kapitalistischen Bedarf überflüssig ist, auf ihren Gebieten zu verwalten. Dieses überflüssig gemachte Volk wollen sie sicher nicht dadurch vergrößern, dass Kapitalwachstum auf griechischem statt auf deutschem Territorium stattfindet.

So kommt es dazu, dass das höchste Ziel Griechenlands in der Wiedererlangung seiner Verschuldungsfähigkeit besteht. Für die Aufrechterhaltung seiner Zahlungsfähigkeit nimmt dieser Staat die Verarmung und Verelendung seines Volkes in Kauf. Wenn er nämlich den Zugang zu den internationalen Finanzmärkten dauerhaft verliert, ist er auf die Wirtschaftsleistung seines Territoriums beschränkt. Um dies zu vermeiden, muss Griechenland sogar die Einfuhr von Medikamenten beschränken, da die von den Eurorettungsschirmen zur Verfügung gestellten Kredite der Zahlung seiner Schulden vorbehalten sind. Aber selbst wenn Griechenland aus dem Euro ausscheiden und wieder die Drachme einführen würde, hätte es nicht mehr genügend finanzielle Mittel, um notwendige Vorleistungen für seine Kapitalakkumulation zu importieren, und müsste seine Bevölkerung weiter verarmen. So weit ist es mit den Abhängigkeiten des global herrschenden Kapitalismus bereits gekommen, dass man als Staat sich darauf entweder einlässt oder nicht einmal mehr zu eigenständiger Reproduktion fähig ist. Umso imposanter vermag angesichts dieses Verhältnisses im Rückblick die Leistung des vielgeschmähten realen Sozialismus erscheinen, der es doch glatt für einige Jahrzehnte geschafft hatte, sich dieser Abhängigkeit zu entziehen und sogar dem Rüstungswettlauf standzuhalten, den ihm dies einbrachte.

Fazit: Zur Bereinigung der Überakkumulation von Kapital steht die Verelendung ganzer Landstriche an, wobei nicht absehbar ist, ob diese jemals wieder über den Status einer Region hinauskommen, die auf Dauer als unfruchtbar für kapitalistische Benutzung abgeschrieben ist. Griechenland könnte hier ein ähnliches Schicksal wie dem Süden Italiens drohen, der ja auch zunehmend desindustrialisiert wird und die Infrastruktur einbüßt, die für die Attraktivität eines Kapitalstandortes unerlässlich ist. Berüchtigte Bilder vom Verfall einer ehemaligen Metropole wie von Detroit im „Rust Belt“ der USA, der keineswegs zufällig so heißt, werden vermutlich auch in der europäischen Peripherie nicht mehr lange auf sich warten lassen.

[1] Amelie Lanier: Über Geld und Kredit. Texte zu Finanzkrise und Eurorettung, Zell am See 2018, S. 166

Der aktuelle Bourgeoissozialismus

29. 8. 2018

Nachdem ich wegen meiner letzten beiden Bücher und der darin enthaltenen Kritik an Feminismus und Islam angefeindet worden bin,[1] sind vermutlich ein paar Klarstellungen angebracht. So halte ich Feminismus, insbesondere in der Form des Genderismus, und Multikulturalismus für eine Sackgasse der Linken. Diese kleinlichen, von Moralismus geprägten Bewegungen sind das Resultat falscher Urteile und Irrwege und sorgen damit dafür, dass Linke sich angreifbar machen, die mangels Gegenargumenten dem nichts als Beschimpfungen entgegenzusetzen haben.

Genderismus will die absolute Gleichstellung von Frauen und Männern in der bürgerlichen Gesellschaft erreichen und schwankt dabei zwischen der Einebnung der Geschlechterdifferenz und der Entlarvung einer angeblichen Unterdrückung des Weiblichen auch und gerade dort, wo man diese am wenigsten vermuten würde. So ist auch die Sprache in Verruf gekommen und als Repressionsinstrument „erkannt“ worden, dem man mittels vielfältiger Verrenkungen durch gegenderte Begriffe beikommen müsse, um die Weiblichkeit sichtbar zu machen und so die Gleichstellung mit den Männern zu erreichen. Seither muss man entweder geschlechtsneutrale Bezeichnungen vorziehen, wo immer dies möglich ist, und z. B. von Studierenden anstatt von Studenten sprechen, auch wenn das bei „sitzenden Studierenden“ schon sehr eigenartig klingt. Wo solche Begriffe nicht vorhanden sind, muss dagegen in irgendeiner Form auf die Existenz des Weiblichen extra hingewiesen werden, was bereits so weit geht, dass selbst Neutra ein „Innen“ angehängt bekommen und neben anscheinend entmannten „Mitgliedern“ auch „MitgliederInnen“ die gebührende Anerkennung erfahren. Und wer im universitären Bereich auf solche Albernheiten verzichtet und nicht für eine bestenfalls holprig zu lesende Schrift infolge genderbewussten Sprachgebrauchs sorgt, der muss sich um die Beurteilung seiner Arbeit keine großen Sorgen mehr machen. In manchen Fällen hat es sogar den Anschein, dass der Inhalt gleichgültig und nur das Material für Genderübungen sei.

Mit dem Wunsch nach Gleichstellung in der bürgerlichen Gesellschaft offenbart der Genderismus auch, dass er von dieser viel hält, denn sonst würde man nicht die Gleichstellung in dieser Gesellschaft anstreben, sondern diese kritisieren. Anders gesagt: Wenn man seinen Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft sucht und daran festhalten will, dass diese dafür eingerichtet wäre, dann kann man kaum deren Gegner sein. Misserfolg könnte zwar ein Anlass oder Anstoß zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft sein, muss es aber nicht. So glauben Bürger um jede Menge Gründe zu wissen, wenn ihr Erfolg in der bürgerlichen Konkurrenz ausbleibt, die in der Regel in der Schuld bestehen, die sie bei sich oder bei anderen suchen. Ganz normale Konkurrenzniederlagen, wie sie jeder schon einmal erlebt hat, der sich um eine Stelle beworben und diese nicht bekommen hat, werden so. z. B. dem Rassismus oder Sexismus derer angelastet, die einer anderen Person den Vorzug gegeben hat. Auf diesem Fehlschluss beruhen die Ideologien, die als Feminismus und Multikulturalismus auftreten.

Diese Ideologien wollen die bürgerliche Gesellschaft ohne ihre Konsequenzen und verhalten sich daher genau so, wie Marx und Engels das bereits über den Bourgeoissozialismus ihrer Zeit festgestellt haben: „Es gehören hierher: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden.“[2] Solche Systeme des Bourgeoissozialismus, stellen heutzutage der Genderismus und der Multikulturalismus dar. Auch alternative Lebensformen wie der Veganismus gehören hierher, in dem sich ja die von Marx und Engels erwähnten Abschaffer der Tierquälerei fortsetzen, aber auch alle Formen von Esoterik, Staatsverweigerer, Verschwörungstheoretiker und anderer Obskurantismus. „Die sozialistischen Bourgeois“, heißt es bei Marx und Engels weiter, „wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren.“[3] Sie schließen also die Augen vor einer unangenehmen Wirklichkeit und widersprechen damit dem Urteil der beiden Klassiker an anderer Stelle, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft „die Menschen endlich gezwungen [seien], ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“.[4] Letzteres ist vielleicht auch das Privileg derer, denen dieser nüchterne Blick Gewinn bringt, während den anderen hier nichts weiter bleiben würde, als sich mit dem „Jammertal“ abzufinden, welches das irdische Leben nun einmal sei.

Ein Beispiel für dieses Aufbegehren gegen Folgen der bürgerlichen Gesellschaft, ohne deren Grundlagen und Prinzipien anzutasten, stellt das Buch von Michael Schmidt-Salomon dar, in dem er die menschliche Dummheit für diese Folgen verantwortlich macht und das daher den Titel Keine Macht den Doofen trägt.[5] Es stimmt zwar, dass die bürgerliche Gesellschaft jede Menge Dummheit notwendig macht, wenn man sozusagen kontrafaktisch an ihr festhalten will, wie das der Titel eines Buches von Freerk Huisken sehr schön zeigt, der anlässlich des sogenannten Pisa-Schocks danach fragt, wieviel Dummheit die Republik einerseits braucht und andererseits verträgt.[6] Deswegen ist jedoch nicht der Umkehrschluss zulässig, wonach die bürgerliche Gesellschaft schon eine gute Einrichtung wäre, wenn nur nicht die „Doofen“ an den Schalthebeln der Macht in Wirtschaft und Politik wären. Zu diesem Urteil kommt Schmidt-Salomon dadurch, dass er den bürgerlichen Institutionen Funktionen andichtet, die diese für die Menschen zu leisten hätten und deren Ausbleiben den dummen Handlungen der dafür verantwortlichen Personen zuzuschreiben sei. So geißelt auch er die „Verantwortungslosigkeit“ der Banken anlässlich der Finanzkrise, die im Jahr 2007 ausbrach, als hätten diese gegen den Auftrag verstoßen, das industrielle Kapital mit einem Kredit zu versorgen, der auch garantiert bedient würde. Diesen Auftrag gibt es jedoch nur in der Einbildung jener, die der bürgerlichen Gesellschaft Ideale andichten, deren Missachtung sie dann beklagen können, weil diese in Wirklichkeit höchstens als Ideologien existieren. Diesen Fehler begeht Schmidt-Salomon schon in der Bestimmung des vermeintlichen Grundfehlers, dass Geld von einem Tauschmittel zum Tauschzweck geworden sei.[7] Er hätte es gerne, „dass Geld eine stabile, transparente und neutrale Verrechnungseinheit für den Austausch von Gütern und Dienstleistungen ist“[8] – ein Vorhaben, mit dessen Widersprüchen sich der reale Sozialismus bis zum Eingeständnis seines Scheitern herumzuschlagen hatte.

In einer vom Privateigentum beherrschten Gesellschaft ist es der einzige Zweck und kann es nur sein, an Geld heranzukommen, um Zugriff auf die Güter zu erhalten, die nur für Geld zu haben sind. Geld repräsentiert diese Herrschaft des Privateigentums, das nur dann von seinem Eigentum ablässt, wenn ihm dieses entgolten wird. Daher ist die Verfügung über Geld der Zweck dieser Wirtschaft und es ist ein Widerspruch in sich, diesen Zweck auf vermeintliche Dienste zu beschränken, die Geld zu leisten hätte. Weil ihm dies nicht klar ist, will Schmidt-Salomon sogar den Zins abschaffen, als wäre eine kapitalistische Produktion ohne Zugriff auf Kredit und als reine Versorgungswirtschaft, die sie eben gerade nicht ist, denkbar. Kurz: Er misst das kapitalistische System an seinen Bedürfnissen, stellt fest, dass es dafür „Mängel“ aufweise, und ist mit dieser Feststellung bereits mit der Kritik fertig, die jetzt eigentlich erst beginnen müsste und die er dem Kapital von Marx entnehmen könnte. Stattdessen stellt er die Forderung nach Abstellung dieser Mängel und macht die „Macht der Doofen“ dafür verantwortlich, dass dies nicht geschieht.

Indem Schmidt-Salomon die bürgerliche Gesellschaft ohne ihre notwendigen Folgen haben will, verhält er sich wie jene Winkelreformer, die z. B. das Verhältnis „des Menschen“ zum „Tier“ oder eine dem begreifenden Denken und der menschlichen Vernunft innewohnende Gewalt zur Wurzel allen Übels erklären und mit entsprechenden Ermahnungen ihre Umgebung nerven. Die Leistungen, die er gerne vom Geld erfüllt sähe, entsprechen der allseits bekannten Vorstellung, dass das Geld schon eine gute Sache wäre, wenn man es nur hätte. Es ist, wie Bertolt Brecht das einmal ironisch charakterisiert hat, so, als würde man sagen, „die Schweinemast ist für die Schweine auszuhalten, wenn sie dann nur nicht geschlachtet würden“.[9] Brecht führt dazu weiter aus: „Die Idee von einem friedlichen Kapitalismus ist wahnsinnig. Man stellt sich das so vor: alles geht normal, es herrscht Frieden, dann kommt eine Unterbrechung, ein bedauerlicher Zwischenfall, der Krieg. Wie beim Schweinemästen! Immer kommt ganz schön Futter, immer wird man gewaschen, hofiert und fotografiert, und nur mitunter kommt ein bedauerlicher Zwischenfall, indem man geschlachtet wird.“[10] Gemäß dieser Logik verfahren die kleinbürgerlichen Reformbewegungen, die bereits Marx und Engels kritisiert haben: Der Kapitalismus wäre für die Menschen schon auszuhalten, wenn sie dabei nur nicht verarmen würden. Oder er wäre schon in Ordnung, wenn er nur keine Krisen hervorbringen würde. Oder wenn nicht die Doofen an der Macht wären, oder die Unmoralischen, oder die Rassisten und Sexisten etc.

Genau dieser idealistischen affirmativen Denkweise befleißigen sich heutzutage insbesondere der Genderismus und der Multikulturalismus. Sie wollen die ganz normalen Diskriminierungen der bürgerlichen Gesellschaft gemäß den Kriterien ökonomischer Nützlichkeit als rassistisch oder sexistisch motiviert betrachten, zumal natürlich bei der Anstellung neuen Personals auch persönliche Kriterien eine Rolle spielen, vor allem bei ähnlicher oder gleicher fachlicher Eignung für den Job. Hier würde es ja auch der bürgerliche Staat gerne sehen, wenn mehr Sachlichkeit und Sittlichkeit in den ökonomischen Beziehungen herrschten, und mischt sich daher auch manchmal mit entsprechenden Vorschriften ein. Diese sollen der Freiheit seiner Bürger dabei Schranken setzen, die ökonomischen Diskriminierungen in rassistischer und sexistischer Manier auszulegen.[11] Sich für eine sachlich einwandfreie Diskriminierung ohne den Einfluss subjektiver Befindlichkeiten starkzumachen, stellt jedoch keine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft dar, sondern im Gegenteil eine fanatische Parteilichkeit für diese.

[1] http://www.contradictio.de/blog/archives/7666/comment-page-1#comment-5986; aufgerufen am 29. 8. 2018

[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: Marx/Engels-Werke (MEW), Bd. 4, S. 488

[3] Ebd.

[4] Ebd., S. 465

[5] Michael Schmidt-Salomon: Keine Macht den Doofen. Eine Streitschrift, Kindle E-Book, München 2012

[6] Freerk Huisken: Der „Pisa-Schock“ und seine Bewältigung. Wieviel Dummheit braucht/verträgt die Republik?, Hamburg 2005

[7] Michael Schmidt-Salomon: Keine Macht den Doofen, a. a. O., Position 810

[8] Ebd., Position 813

[9] Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche, Berlin 20165, S. 132

[10] Ebd.

[11] Vgl. dazu z. B. den Artikel „Ein neues Gesetz für lauteren Wettbewerb. Aufatmen für Schwule, Rollstuhlfaher, Neger, Muselmanen und alle anderen ‚Schwachen‘ – ab sofort ist Diskriminieren gesetzlich verboten!“, in: Gegenstandpunkt 2-05, München 2005, S. 5 ff.

Nachricht  aus Bobo-Land

20. 7. 2018

Eine Reaktion auf mein Buch über den Hass zeigt nur, wie notwendig dieses Buch ist: Hier die Stellungnahme unter dem Pseudonym „Leser“:

Leser on Juli 16th, 2018 at 11:17:

„Dieses Buch ist ein erschreckendes Zeugnis geistigen Verfalls. Loidolt kennt offensichtlich Feministen und Muslime nur über deren Karikierung in konservativen bis rechtsradikalen Postillen. Mit Houellebecq warnt er davor, dass linksliberale Toleranz noch zur Einführung des Kalifats in Europa führen kann. Feministen verbieten angeblich Männern, Sachen zu erklären und lehnen penetrativen Sex ab (so das Vorgängerbuch). Armer Georg! Im Ernst: Loidolt trifft weder Zweck und Praxis liberaler Toleranzgebote noch verbreitete Standpunkte unter Feministen. Er arbeitet sich an Stereotypen ab, die man aus der Kronen-Zeitung kennt.

Erschreckenderweise vermengt dieses Buch FPÖ-Propaganda – wie auch schon der Vorgänger über „Begehrte Dogmen“ – mit Versatzstücken marxistischer Theorie. Jemand sollte unbedingt mit diesem Menschen reden. Vielleicht hat er sich ja noch aus seiner linken Vergangenheit irgendwelche Erkenntnisse bewahrt, über die man ihn aus seiner rechten Ecke wieder rauskriegt.“[1]

  1. Ein sogenannter Leser erklärt mein Buch über den Hass zum erschreckenden Zeugnis geistigen Verfalls. Wenn er von meinen Ausführungen erschrocken ist, so hätte ich damit immerhin erreicht, ihn aus seinen Komfortzonen aufzuschrecken. Er will diesen Schrecken aber nicht gelten lassen, spricht ihm daher jeden Realitätsgehalt ab und erklärt ihn zum Kennzeichen meines geistigen Verfalls.
  1. Damit bestätigt er nur die Thesen meines Buches. Wer anderer Auffassung ist, als sich das gehört, der hat keine falschen Argumente vorgebracht, die man ja widerlegen könnte, sondern der ist entweder bösartig oder geistig heruntergekommen oder am besten beides. Wie glaubt Leser eigentlich, mich erreichen und von meinen mutmaßlichen Irrwegen abbringen zu können, wenn er gleich einmal mit einer Beschimpfung auftritt, die er in meinem ganzen ach so verkommenen Buch vergeblich suchen wird? Soll ich jetzt weinen gehen, weil sich jemand dreist über mich äußert, oder eingeschüchtert sein? Diese Art, mich als einen von geistigem Verfall geprägten Menschen zu bezeichnen, ist einfach nur albern und erbärmlich. Das spricht eigentlich für bzw. gegen sich selbst.
  1. Nach dieser misslungenen Einleitung seiner Abrechnung meint Leser, dass meine Kenntnisse von Muslimen und Feministen eigentlich nicht vorhanden, weil nur verzerrten Darstellungen entnommen sein können. Soll ich jetzt wirklich diverse Begegnungen und Anfeindungen erzählen, die ich z. B. als Atheist erlebt habe, um glaubhafter zu sein? Ich weiß ja nicht, welche und wie viele persönlichen Begegnungen Leser für angezeigt hält, um über die Urteile einer Gemeinschaft eine Aussage machen zu dürfen. Muss man demnach auch viele Rechtsradikale persönlich kennen, um sich über diese zu äußern? Das ist alles so lächerlich. Ich habe mich mit bestimmten allgemein bekannten und vertretenen Positionen von Muslimen und Feministinnen auseinandergesetzt und diese kritisiert. Dass es auch Muslime und Feministen gibt, die sich dadurch nicht repräsentiert fühlen, ist mir so etwas von gleichgültig. Diese müssten sich dann eben entweder deutlich von diesen Positionen absetzen oder ihr Selbstverständnis als Muslim bzw. Feministin in Frage stellen, wenn sie meine Kritik teilen. Wenn nicht, so müssen sie dagegen argumentieren. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
  1. Auch die Aussage, dass ich mit Houellebecq vor einem muslimischen Kalifat in Europa wegen linksliberaler Toleranz warne, trifft so nicht zu. Ich behaupte bloß, dass diese „Toleranz“ bei der Wahl zwischen rechtsnationalem und islamischem Faschismus sich für Letzteren entscheiden würde und dass ich eigentlich beides für trostlose Alternativen halte, auf welche die bürgerliche Gesellschaft jedoch zusteuern könnte, solange sie wie heutzutage keiner ernsthaften Kritik ausgesetzt ist. Dies hat damit zu tun, dass Ausländer, insbesondere muslimische, genauso den Rechtsanspruch auf Erfolg pflegen wie Einheimische. So wie diese „volksfremde“ Elemente für ihre Misserfolge im bürgerlichen Konkurrenzbetrieb verantwortlich machen, halten Muslime die hierbei üblichen Niederlagen für das Resultat von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Der Umstand, dass sie von beidem betroffen sind, macht es ihnen natürlich auch nicht einfach, hier zu unterscheiden, gerade deswegen muss man jedoch auf diesen Fehler hinweisen. Wenn Muslime dann den Übergang machen, es brauchte einen islamischen Gottesstaat, um mit dieser Behinderung ihres vermeintlichen Rechts auf Erfolg Schluss zu machen, dann kommt dies den Übergängen der Rechtsnationalen gleich, die einen faschistischen Staat zwecks nationaler Selbstbehauptung anstreben.
  1. Leser behauptet, ich würde „weder Zweck und Praxis liberaler Toleranzgebote noch verbreitete Standpunkte unter Feministen“ treffen und mich an Stereotypen aus der Kronen-Zeitung abarbeiten. Was will mir Leser damit nur mitteilen? Was soll es heißen, dass man etwas nicht treffen würde? Nicht treffend darstellen? Inwiefern arbeite ich mich an Stereotypen ab? Habe ich, indem ich bestimme Standpunkte kritisiere, einen Menschen nicht in seiner Gesamtheit getroffen? Das war ja auch keineswegs mein Anliegen, dass ich jedem einzelnen Muslim gerecht werde! Dazu wurde eigentlich bereits das Nötige gesagt. Interessanterweise ist Leser nicht imstande, auch nur einen Aspekt zu nennen, den er bei Muslimen und Feministinnen der Verteidigung wert befände.
  1. Schließlich würde ich noch FPÖ-Propaganda mit Versatzstücken marxistischer Theorie „vermengen“ – wieder so ein unbestimmtes Prädikat. Vielleicht ist es FPÖ-Propaganda, wenn man offensichtliche Fakten wie eine überdurchschnittliche Kriminalität von Ausländern nicht bestreitet, und das marxistische Versatzstück besteht dann darin, diese nicht als typisches Merkmal von Ausländern zu erklären, sondern aus deren schlechter sozialer Lage in Kombination mit ihren falschen Urteilen über deren Ursache? Wobei Ausländer hier nicht nur Opfer ihrer schlechten sozialen Stellung sind, die sie ja mit vielen hier geborenen Bürgern teilen, sondern auch ihrer Illusionen und Fehlurteile über die Schönheiten einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft, die ihnen bloß von Ausländerfeinden vorenthalten würden. Für Leser ist anscheinend ein Ausländer gegen jede Kritik immun, denn sonst mache man sich wohl mit den Rechten gemein, völlig unabhängig davon, welchen Inhalt diese Kritik hat.
  1. Zum Abschluss möchte ich noch zu dem Umstand Stellung nehmen, hier auf eine äußerst beleidigende und herablassende Art unter dem Schutz der Anonymität angegriffen worden zu sein. Deine Beleidigungen amüsieren mich zwar nur, dass du deine Unflätigkeiten anonym vorbringst, offenbart jedoch schon einen gewissen Grad von Niedertracht und Feigheit. Wer mich als „armer Georg“ anspricht, deutet darüber hinaus eine persönliche Bekanntschaft an, die auch in dem Urteil zutage tritt, dass ich von geistigem Verfall geprägt sei – ich könnte ja schon immer so gewesen sein. Falls wir uns also persönlich kennen – ich habe schon einen gewissen Verdacht –, wäre es wirklich angebracht, dass du deine Identität enthüllst, damit ich auch weiß, woran ich bin. Natürlich trifft auf dich genau das zu, was bereits Schopenhauer über Anonymität von sich gegeben hat: Der Schutz des Kritikers vor dem Groll des Autors wurde zur Rechtfertigung von Anonymität vorgetragen. „Allein, gegen Einen Fall dieser Art, werden hundert seyn, wo sie bloß dient, Den, der was er sagt nicht vertreten kann, aller Verantwortlichkeit zu entziehn (…) Oft auch dient sie bloß, die Obskurität, Inkompetenz und Unbedeutsamkeit des Urtheilenden zu bedecken. Es ist unglaublich, welche Frechheit sich der Burschen bemächtigt, und vor welchen litterarischen Gaunereien sie nicht zurückbeben, wann sie unter dem Schatten der Anonymität sich sicher wissen.“ (Parerga et Paralipomena) In diesem Sinne bleibt mir zu Leser nur noch zu bemerken: Quod erat demonstrandum.

[1] http://www.contradictio.de/blog/archives/7666/comment-page-1#comment-5986, aufgerufen  am 20. 7. 2018

12 Stunden Arbeit pro Tag

15. 7. 2018

Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf: Das ist eine Forderung der Arbeiterbewegung gewesen, mit der sie die Belastungen des Kapitals beschränken wollte. Und diese Forderung ist sehr bescheiden. Schließlich zielt sie nur darauf ab, von Lohnarbeit leben zu können und nicht spätestens mit 40 Jahren zusammenzubrechen oder wegen eines ausgezehrten Körpers vom Kapital ausgemustert zu werden, weil man dessen Leistungsanforderungen nicht mehr zu entsprechen vermag. Bei acht Stunden Freizeit fragt man sich, ob denn etwa die Arbeitsstätte nicht erst erreicht werden muss, ob also nicht die Notwendigkeit besteht, diese Freizeit für den Weg von und zur Arbeit aufzubringen. Des Weiteren bedarf es der Nahrungsbeschaffung durch Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln, der Körperpflege, der Reinigung der Wohnung und der Bekleidung, selbst das Essen erfordert Zeit und ist nicht nur ein Vergnügen, sondern ein Erfordernis zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit. Vielleicht haben die Arbeiter, die vor 200 Jahren mit dieser Parole angetreten sind, ihre Freizeit ja nicht als Reproduktionsarbeit wahrgenommen, weil diese damals vor allem von ihren Frauen durchgeführt wurde.

Heutzutage, wo eine Familie von einem normalen Arbeitslohn kaum leben kann und daher in der Regel die Frauen zumindest mit einer Teilzeitbeschäftigung dazuverdienen müssen, um über die Runden zu kommen, ist bereits seit langem die Beschränkung des Arbeitstages auf acht Stunden nur noch auf dem Papier festgeschrieben. Überstunden sind an der Tagesordnung, sie werden jedoch in der Regel bezahlt oder durch einen Zeitausgleich abgegolten, der mehr Freizeit erbringt, als Mehrarbeit geleistet wird, wenn für eine Überstunde z. B.1 1/2 Stunden Freizeit als Ausgleich geboten werden.

Anscheinend befindet sich die „Wirtschaft“ hier permanent in einer Grauzone und kann ihren Mitarbeitern das dringende Bedürfnis nach mehr Arbeit nur mit schlechtem Gewissen erfüllen, weil sie dabei Gefahr läuft, gegen die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit zu verstoßen. Man sollte zwar meinen, dass dies kein Problem darstellen sollte, wenn es doch im Interesse der abhängig Beschäftigten sei, mehr zu arbeiten: Wo kein Kläger, da kein Richter! Sollten hier auf einmal tatsächlich Personen große Skrupel damit haben, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnten, wenn sie doch bei offenen Gesetzesübertretungen wie einer Steuerhinterziehung auch keine Scheu zeigen? Oder liegt es doch daran, dass die Mitarbeiter über diese Freiheit zur Mehrarbeit weniger erfreut sind und ohne entsprechende Regelungen als Kläger in Erscheinung treten könnten? So soll die Mehrarbeit, die bereits bisher geleistet wurde, verbilligt werden, indem Überstundenzuschläge wegfallen.

Die Regierung Kurz begründet ihre Initiative zur Normalisierung eines Arbeitstages von 12 Stunden mit der Konkurrenzfähigkeit des Kapitalstandorts Österreich. Das ist aber schon etwas anderes als die angebliche Befähigung der Arbeitnehmer zu mehr selbstbestimmter Zeit. Unter diesen gibt es allerdings auch Zustimmung. So habe ich vernommen, dass es angenehmer sei, zwei Tage lang je 12 Stunden zu arbeiten, als drei Tage lang 8 Stunden, weil man dadurch mehr Freizeit erreiche, die nicht von Arbeitseinsätzen unterbrochen sei. Und wenn es so einfach wäre, wäre dem auch nichts entgegenzusetzen, man müsste sich vielmehr fragen, wieso dann nicht gleich 18 Stunden Arbeit pro Tag noch besser wären, um sich noch mehr solcher ausgedehnter Freizeit zu verschaffen. Es ist aber leider so, dass man Arbeitsstunden nicht beliebig aneinanderreihen kann und dass Konzentration und Produktivität nachlassen, je länger eine Arbeit dauert. Nach meiner Erfahrung ist es schon möglich, sich 12 oder sogar 14 Stunden an einem Tag einer Arbeit zu widmen, allerdings nur dann, wenn dabei einige Pausen gemacht werden und der nächste Tag der Erholung dient.

Da aber nicht das Wohl der Arbeiter, sondern die Konkurrenzfähigkeit derer, die deren Arbeit zu ihrer Bereicherung einsetzen, das Ziel dieser Normalisierung des 12-Stunden-Tages darstellt, sollten sich die davon Betroffenen schon die Frage stellen, welche Grenzen es überhaupt geben darf, wenn Konkurrenzfähigkeit das oberste Gebot ist. Schließlich antwortet das Kapital auf die Frage nach der Dauer des Arbeitstages: Dieser dauert genau 24 Stunden, unterbrochen nur von jener Zeit, die zur Wiederbelebung eines erschöpften Organismus erforderlich ist. In den Worten von Marx: „Der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt.“ Schließlich reduziert das Kapital den Schlaf „auf so viel Stunden Erstarrung, als die Wiederbelebung eines absolut erschöpften Mechanismus unentbehrlich macht“.

Der nächste Schritt wird hier wohl in der Entdeckung bestehen, dass Menschen unter 30 doch auch bei 16 Stunden Arbeit noch acht Stunden zum Schlafen bleiben, wenn es gleich am Arbeitsplatz stattfindet. Dann könnte man gleich den nächsten „Fortschritt“ anzielen und den jungen Arbeitern vorschlagen, auf diese Weise Arbeitszeit auf Konten anzusparen, solange sie noch jung sind, die sie dann im Alter als Freizeit konsumieren könnten. Dann sind sie ohnehin nicht mehr arbeitsfähig, nachdem sie solche Belastungen in Kauf genommen haben, sie werden vermutlich kaum älter als 40 werden, wenn sie diesen Raubbau an ihrer Gesundheit betreiben. So wird das Kapital durch den sich rechtzeitig einstellenden Tod von der Verpflichtung entbunden, dass es ältere Personen auf der Gehaltsliste mitschleppen müsste, deren Arbeitskraft es gar nicht mehr benutzen dürfte.

Vielleicht will Kanzler Kurz mit der „Befreiung“ der Arbeiter von den „Schranken“ einer auf acht Stunden begrenzten Verausgabung ihrer Arbeitskraft ja auch dafür sorgen, dass Österreich für Wirtschaftsmigranten weniger attraktiv wird. Jetzt meint er auch von den bereits ansässigen Bürgern wieder mehr verlangen zu können, wo er ihnen doch den Dienst erwiesen hat, die Betreuungsmaßnahmen für Migranten zu reduzieren, die diesen Bürgern als unerträgliches Privileg erscheinen mussten. Allerdings wird er sich einen gezielten Zugriff auf Migranten bald sichern müssen, denn die Reproduktion der bereits in Österreich angesiedelten Menschen könnte durch solche Maßnahmen noch stärker leiden, als sich dies bereits an einer Geburtenrate zeigt, die ohne Migration zu einer Schrumpfung der Bevölkerung führen würde. Vielleicht sind für die Regulierung eines Heeres von Ersatzarbeitskräften ja die geplanten Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen gedacht, die dafür sorgen sollen, dass Migranten erst dann nachrücken dürfen, wenn sie tatsächlich zum Ersatz ausgezehrter Bürger gebraucht werden können.

Staatsverschuldung – Mythos und Wahrheit

Immer wieder ist die Behauptung zu vernehmen, dass unter der Führung von Bruno Kreisky der österreichische Staat sich übermäßig verschuldet habe. Unbestritten ist hierbei, dass die Staatsschulden in dieser Ära rasant gestiegen sind, allerdings ist dieses Phänomen nicht auf Österreich beschränkt, sondern trifft auf die gesamte Staatenwelt zu. Kreisky hat diese Verschuldung jedoch propagandistisch als Betreuung der Arbeiterschaft ausgegeben, indem er verkündete, dass ihm ein paar Millionen Schulden mehr lieber wären als ein paar Tausend Arbeitslose mehr. Da für solche Zwecke niemand in der bürgerlichen Gesellschaft Verständnis hat, wird ihm dies heutzutage zum Vorwurf gemacht. Würde man diese Selbstdarstellung Kreiskys jedoch als die Heuchelei ad acta legen, die sie schließlich war, so könnte man vielleicht auf den Gedanken kommen, dass der österreichische Staat damals genauso wie davor und danach zur Modernisierung seiner Volkswirtschaft Schulden gemacht hat. Deswegen war Österreich ja auch unter Kreisky nicht der einzige Schuldenmacher, sondern befand sich hierin in Übereinstimmung mit den übrigen Staaten.

Die Vorstellung eines Staates, der kaum Schulden aufnimmt und seine Handlungsfähigkeit im Wesentlichen auf sein Steueraufkommen beschränkt, zeugt von fundamentaler Ahnungslosigkeit über das „wirkliche Leben“ einer kapitalistischen Nation. Schulden ermöglichen einem Staat, nicht nur auf das Finanzkapital seiner Nation, sondern weltweit zuzugreifen. Dadurch kann er diverse Einrichtung zur Betreuung seines Kapitalstandortes vorantreiben, Infrastrukturmaßnahmen für den Verkehr, Institute für Forschung und Ausbildung, Maßnahmen zur Förderung des Wohnbaus, der Volksgesundheit und zur Bereitstellung ausreichender und billiger Energie, Projekte zur Ansiedlung neuer Industrien etc. Würde ein Staat hier seine Entwicklung von seinen Steuereinnahmen abhängig machen, so hätte er von vornherein einen Nachteil in der Konkurrenz der Nationen um ihr Wirtschaftswachstum.

Umgekehrt bedeutet die Verschuldung eines Staates jedoch nicht, dass seine damit verbundenen Strategien, Berechnungen und Kalkulationen auch tatsächlich aufgehen. Es kristallisieren sich im Gegenteil Sieger und Verlierer beim schuldenfinanzierten Konkurrenzkampf der Nationen heraus, die zur Folge haben, dass die Refinanzierung ihrer Schulden für die unterlegenen Nationen mit immer höherem Aufwand verbunden ist. Entwickelt sich das Verhältnis der Staatsschulden zum damit generierten Wirtschaftswachstum negativ, so werden zur Refinanzierung dieser Schulden höhere Zinsversprechen fällig, immer mehr Finanzmittel müssen somit für den Schuldendienst aufgewandt werden und können nicht mehr zur Entwicklung des Kapitalstandortes eingesetzt werden. Dies kann sogar so weit führen, dass einem Staat die Kredite verweigert werden, die er benötigen würde, um seine alten Schulden zu bedienen und zurückzuzahlen, wie in den letzten Jahren am Beispiel von Griechenland zu sehen war.

Schulden sind auch für kapitalistische Unternehmen unerlässlich, um in der Konkurrenz bestehen zu können. Auch sie könnten notwendige Ersatz-, Rationalisierungs- und Erweiterungsinvestitionen nicht vornehmen, wenn sie darauf warten müssten, dass ihr Kapitalaufwand samt Gewinn erst durch den Verkauf ihrer Waren und Leistungen zurückfließen würde. Sie wären damit in ihrer Handlungsfähigkeit von der Geschwindigkeit ihres Kapitalumschlags abhängig und hätten von vornherein Nachteile gegenüber jenen Unternehmen, die sich über diese Beschränkung durch Kreditaufnahme hinwegsetzen. Auch hier gilt jedoch, dass mittels solcher Maßnahmen zur Förderung der Konkurrenzfähigkeit keineswegs deren Erfolg garantiert ist – wie sollte es auch sein, dass jeder ein Gewinner ist, wenn sich doch jeder gegenseitig den Erfolg streitig macht.

Erweisen sich die mittels Schulden finanzierten Maßnahmen nicht als erfolgreich, so handeln sich Unternehmen wie Staaten gleichermaßen das Problem ein, dass sie nicht über ausreichende Mittel verfügen, um diese Schulden zurückzuzahlen. Neue Schulden für neue Projekte können diese Mittel herbeischaffen, vorausgesetzt, sie sind diesmal erfolgreich. Bei kapitalistischen Unternehmen tritt irgendwann der Bankrott ein, wenn sich dieser Erfolg über einen längeren Zeitraum nicht einstellen will und statt der Profite nur die Schuldenberge wachsen. Die Folge davon ist entweder die Übernahme durch einen erfolgreicheren Konkurrenten oder die Auflösung des Unternehmens. Auch wenn Staaten keine Gewinne machen müssen, ist selbst bei ihnen die Möglichkeit eines Bankrotts gegeben, wenn das nationale Wachstum hinter den Zahlungsversprechen zurückbleibt, die es beglaubigen sollte. In diesem Fall wäre ein Staat tatsächlich auf seine Steuereinnahmen zur Finanzierung seines Haushalts beschränkt und damit vielleicht sogar als failed state aus der Konkurrenz ausgeschieden, zumindest aber auf längere Sicht von dieser abgemeldet. Selbst wenn ein Staat die Rückzahlung seiner Schulden einstellen würde, sobald er seine Kreditwürdigkeit verloren hätte, zieht er es in der Regel vor, trotz hoher Zinsbelastungen verschuldungsfähig zu bleiben, ehe er in seiner Handlungsfähigkeit auf seine Steuereinkünfte beschränkt ist.

Ein bankrotter Staat würde auch nicht mehr der Bereicherung erfolgreicher Nationen dienen, weil deren Kapital dort keine Waren mehr verkaufen könnte. Deswegen haben die führenden Mächte den IWF und die Weltbank geschaffen, die verhindern sollen, dass von Konkurrenzverlierern keine Nachfrage mehr ausgeht. Die Unkosten ihrer nationalen Bereicherung haben die führenden Staaten damit „solidarisch“ auf sich genommen. Besonders gefährlich wäre es nämlich für ihre Weltordnung, wenn eine unterlegene Nation nicht einmal mehr ihren Gewaltapparat instand halten könnte, der erforderlich ist, um als Nation weiterzubestehen. Welche Gefahren für die herrschende Weltordnung davon ausgehen, konnte man in den letzten Jahren an den Beispielen Libyen und Irak studieren.

Die Aufrechterhaltung einer Nation ist natürlich nicht damit zu verwechseln, dass mit dieser auch jenes Volk erhalten würde, für das auf absehbare Zeit keine national einträgliche Verwendung zu erwarten ist. Selbst beträchtliche Überbrückungskredite des IWF und der Weltbank für vom Kapitalmarkt verschmähte Konkurrenzverlierer dienen in der Regel nicht der Versorgung überflüssiger Volksmassen, sondern der Aufrechterhaltung staatlicher Gewalt sowie den Bemühungen zur Wiederherstellung einer gewissen Konkurrenzfähigkeit, welche die Unkosten ihrer Erhaltung verringern sollen.

Wer angesichts dieses Sachverhalts immerzu meint, Staatsverschuldung wäre so etwas wie ein Sündenfall, den es zu vermeiden gelte, um kapitalistische Krisen zu vermeiden oder zu verringern, der darf sich gerne als Utopist begreifen. Hier ist dieses Wort nämlich angebracht, auch wenn es allgemein üblich ist, damit jene Personen zu bezeichnen, die nicht in utopischer und willkürlicher Manier vermeintliche Auswüchse des Kapitalismus, sondern das ganze System abschaffen wollen.

Thomas Hobbes‘ Staatsbegründung

Die hier entwickelten Gedanken habe ich bereits in meinem Buch „Ewig lockt die Bestie. Eine Kritik der Moralphilosophie“ einer Kritik unterzogen. Diese Kritik möchte ich hier noch einmal vertiefen und um die Frage ergänzen, wie Hobbes sich die Verwirklichung einer Staatsgewalt zur Konfliktbewältigung vorgestellt haben könnte. Folgende Aussage bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen von Thomas Hobbes:

„Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen. Daher kommt es auch, dass, wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben.“

Thomas Hobbes, Leviathan, zit. n. Dieter Oberndörfer/Beate Rosenzweig (Hrsg.): Klassische Staatsphilosophie, München 2000, S. 211

Hobbes stellt hier die Begrenztheit der Mittel als Ursache für die Feindschaft der Menschen dar. Um sich eines wegen dieser Knappheit umkämpften Gutes zu bemächtigen, würden sie vor gegenseitiger Vernichtung und Unterwerfung nicht zurückschrecken. Kaum würde jemand ein Stück Land bebauen, würden sich andere zu dem Zweck vereinigen, ihn von diesem Land zu vertreiben und der Früchte seiner Arbeit zu berauben. Ob sie hier vor oder nach der Ernte zuschlagen, ist zweitrangig, wichtig ist wohl, dass angepflanzt ist, denn sonst müssten sie ja die Arbeit selbst verrichten, deren Früchte sie sich doch gewaltsam aneignen wollen. Wovon die Räuberbande bis dahin gelebt hat, bleibt das Geheimnis von Hobbes, denn wenn sie sich nur von Raub ernähren kann, ist sie davon abhängig, dass andere die Güter hervorbringen, die sie zu rauben trachtet.

Die Feindseligkeit gegenüber dem Landbesitzer scheint von blinder Wut getragen, wenn Hobbes den Unterschied gar nicht beachtet, der darin besteht, ob man jemanden seiner Freiheit oder seines Lebens beraubt. Auch stellt sich die Frage, weswegen man jemanden von seinem Besitz vertreiben sollte, wenn man doch die Früchte seiner Arbeit genießen will. Dann hätte man doch das Problem, dass man selbst arbeiten müsste, es sei denn, dass es nur um den Besitz geht, also um den Zugang zum Boden als Produktionsmittel für Nahrungsmittel. Zu fragen wäre in diesem Fall, ob man es nicht hinbekommen könnte, den Boden gemeinsam zu bearbeiten, die Arbeit dadurch wirkungsvoller zu organisieren und ihre Früchte gemeinsam zu genießen. Nur weil man etwas tun muss, um dem Mangel abzuhelfen, ist es doch nicht einzusehen, dass man lieber Gewalt anwendet, um dafür zu sorgen, dass man selbst keinen Mangel leidet, indem dieser nur bei anderen Menschen besteht.

Bereits diese wenigen Worte von Hobbes erweisen sich also als eine Ansammlung von Widersprüchen. Hobbes meint aber, dass diese Widersprüche eine Eigenheit der menschlichen Natur darstellen, kommt daher gar nicht auf solche Einwände gegen die Schlüssigkeit seiner Darstellung, sondern hält die Einrichtung einer Gewalt für notwendig, welche die Menschen davon abhalten soll, einander zu schaden. Um wirksam sein zu können, müsse diese Einrichtung auf dem freien Entschluss der Bürger beruhen, eine solche Gewalt zu erschaffen. In Hobbes‘ Worten hört sich dieser Gedanke so an:

„Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können.“

Hobbes, a. a. O., S. 221

Um vor den Angriffen Fremder, aber auch um voreinander geschützt zu sein, bedarf es also einer Gewalt. Mit diesem Schutz hätten die Menschen die Sicherheit, über die Erträge ihrer Arbeit zu verfügen, sie könnten sich durch eigenen Fleiß und die Früchte der Erde ernähren und damit zufrieden leben, wie Hobbes behauptet. Um eine Gewalt zu haben, die diesen Schutz leistet, müssten die Menschen ihre gesamte Macht und Stärke auf diese Gewalt übertragen. Diese Gewalt könnte dann ein Mensch genauso wie eine Gruppe ausüben, wenn nur die gesamte Macht aller anderen Menschen an sie abgetreten worden ist.

Dieser Gedanke ist eigenartig. Wozu soll es sinnvoll sein, seine Macht an eine Person zu übertragen, um sich dann deren Anweisungen zu unterwerfen? Ist diese Person nun nicht in der Lage, ihre Macht zum Schaden der anderen zu gebrauchen und diese ihrer Früchte zu berauben? Oder soll man sich das so vorstellen, dass diese Person darüber wacht, dass niemand beraubt wird? Wozu aber und wie sollte sie dies tun? Hat sie den Auftrag von allen anderen erhalten, diese voreinander zu schützen, sodass sie jederzeit alle hinter sich gegen jene versammeln kann, die einen Raubzug unternehmen? Und wird sie für diese Aufgabe der Überwachung nun entlohnt, weil dafür ihre Arbeitszeit erforderlich ist, die sie daher nicht zum Produzieren einsetzen kann? Wird ihr dieser Überwachungsauftrag sofort wieder entzogen, wenn sie ihn nicht erfüllen kann oder zum eigenen Vorteil missbraucht? Braucht es nicht mehr als nur eine Person, um diese Überwachung durchzusetzen? Oder genügt es, dass jemand einen gewaltsamen Übergriff auf sein Eigentum anzeigt, diese Person dann diesen unterbindet, da sie Menschen unter ihrem Befehl hat, deren Gewalt sie zur Sanktionierung dieses Übergriffs nutzen kann? Könnte das aber eine Bürgerwehr nicht viel besser hinbekommen oder wäre mit dieser erst recht ein Krieg aller gegen alle gegeben? Fragen über Fragen!

Und wie sollte diese Gewalt eigentlich herrschen? Soll sie unumschränkt wirken oder an die Bürger, die an sie ihre Macht übertragen haben, als ihre Auftraggeber gebunden sein, sodass sie ihr diese Macht auch wieder entziehen können? Aber bestünde mit dieser Beschränkung der Macht nicht die Gefahr, dass die Menschen sich durch diese Gewalt zunächst freiwillig schützende Grenzen verschafft haben, die sie nun genau deswegen wieder aufheben wollen, weil sie in diesen Grenzen eine Beschränkung ihrer Mittel sehen? Muss diese Gewalt nicht von jedem Einfluss der Menschen, die sie hervorgebracht haben, unabhängig sein, um nicht wieder durch deren Beschluss rückgängig gemacht zu werden? Schließlich könnte der Krieg aller gegen alle entweder die Staatsgewalt einzuspannen oder aufzulösen versuchen, wenn diese nicht dem Einfluss der einander feindlich gesinnten Bürger entzogen wäre. Die demokratische Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger würde sich daher für Hobbes verbieten, weil auf diese Weise der Staat nicht jene Macht über die Bürger ausüben könnte, die er zur Eindämmung ihrer Feindseligkeit benötigt. Auch heutzutage ist in diesem Sinne eine grundlegende Skepsis gegen die Demokratie vorhanden, die bezweifelt, dass der Staat alle für seine Zwecke nötigen Maßnahmen vollzieht, wenn sein Führungspersonal befürchten muss, deswegen abgewählt und durch die Opposition ersetzt zu werden. Ein solche Staatsführung würde das Volk viel zu sehr verwöhnen, damit sie an der Macht bleibt, und deswegen zögern, die Notwendigkeiten dieser Macht durchzusetzen, da diese dem Bürger Schranken auferlegen.

Kehren wir noch einmal zum Begriff der Übertragung der Macht auf einen Menschen oder eine Gruppe zurück, um dadurch den Krieg aller gegen alle zu unterbinden. Diese Person wird wohl selbst nicht produzieren können, um ihre Aufgabe wahrzunehmen, und außerdem bestünde dann ja die Gefahr, dass sie im Kampf der Bürger um knappe Produktionsgüter, etwa um Boden, ihre Macht für ihren persönlichen Vorteil nutzen würde. Nähme man den Gedanken ernst, dass Menschen einander von Natur aus feindlich gesinnt seien, dann müsste man ohnehin gerade das vermeiden, was Hobbes als Lösung für feindliche Konflikte vorschlägt, nämlich einen Menschen in die Lage zu versetzen, alle übrigen zu beherrschen. Nehmen wir daher nicht eine feindliche Natur, sondern Güterknappheit als Ursache von Konflikten an. Wäre die Staatsgewalt an Gütern knapp, so würde sie ihre Gewalt einsetzen, um sich die Güter auf Kosten der Bürger zu sichern. Das muss sie aber gar nicht, da diese sie versorgen, damit sie frei für ihre Maßnahmen zum Schutz der Bürger voreinander ist. Zugleich benötigt die Staatsgewalt aber entsprechende Mittel und benötigt daher Unterstützung, also Bürger, die sich in ihren Dienst begeben und ihrem Befehl gehorchen, damit sie auch über die nötige Macht verfügt, dem Willen ihrer Bürger die erforderlichen Schranken zu setzen. Diese Bürger sind ebenso von Produktion freigestellt und müssen durch die übrigen Bürger versorgt werden. Darüber hinaus müssen die übrigen Bürger auch noch Waffen produzieren, um die Aufgaben der Staatsmacht sicherzustellen. Von Mangel ist hier also überhaupt nichts mehr zu bemerken, sondern im Gegenteil von Überschuss, der aber ausschließlich der Staatsmacht zugutekommt. So kommt der Staat in die Lage, über genügend Schrecken, also Bedrohungspotential zu verfügen, um den Willen der Bürger zu bestimmen. Hobbes fasst dieses Ergebnis so zusammen:

„Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, dass er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“

Hobbes, a. a. O., S. 222

Interessant ist an dieser Bemerkung auch, dass der Staat nun für den innerstaatlichen Frieden und die gegenseitige Hilfe gegen äußere Feinde sorgt. Diese äußeren Feinde müssen über eine ähnliche Macht wie er selbst verfügen, damit sie überhaupt eine Gefahr darstellen können. Wären es einzelne Bürger eines anderen Staates, so wären sie genauso wie seine Bürger seiner überlegenen Gewalt unterworfen und könnten keine Gefahr darstellen. Wenn nun aber der Staat den Beistand der Bürger gegen auswärtige Feinde fordert, so ist auch gar nicht die Gewalt abgestellt, wie Hobbes behauptet hat, sondern sogar potenziert, indem nicht nur einzelne Bürger einander bekämpfen, sondern ganze Vereinigungen von Bürgern gegeneinander antreten, also die Heere von Staaten gegeneinander Krieg führen. In diesem Sinne hat ja auch Wolfgang Reinhard festgestellt:

„Machthaber gaben zwar vor, ihre Untertanen vor der Gewalt von Dritten zu schützen, aber dabei handelte es sich oft um Gewalt, die sie selbst durch ihre Rivalität untereinander erzeugt hatten.“

Wolfgang Reinhard: Geschichte des modernen Staates, München 2007, S. 9

Zusammenfassung:

Hobbes behauptet, dass die Menschen einander von Natur aus feindlich gesinnt seien und deswegen Schaden zufügen würden. Sie würden aber auch zu der Einsicht gelangen, dass dieser Zustand für alle schädlich und daher abzustellen sei. Sie übertragen daher ihre Macht an andere Menschen, die sie voreinander schützen sollen. Genauso gut könnten sie auf Basis dieser Einsicht auch beschließen, die gegenseitige Schädigung zu unterlassen und zusammenzuarbeiten. Das ist der erste Widerspruch dieses Gedankens. Der zweite Widerspruch besteht darin, dass mit der Konstitution der Staatsmacht doch gerade Menschen hervorgebracht werden, die die Macht hätten, ihren Nutzen zum Schaden der anderen durchzusetzen.

Wie konnte Hobbes dieser Widerspruch nicht auffallen? Vermutlich liegt das daran, dass für diese Macht gar keine Notwendigkeit mehr besteht, jemanden zu schädigen, da sie nun eine Stellung in der Gesellschaft hat, wodurch diese für ihren Nutzen eingerichtet ist. Die Bürger hingegen leben weiterhin in Verhältnissen, in denen sie in Konkurrenz zueinander ihren Vorteil suchen müssen und sich wechselseitig schädigen. Indem der Staat die gewaltsame Austragung dieser Konflikte unterbindet, verhindert er auch die gewaltsame Entscheidung dieser Konkurrenz. Er sorgt so dafür, dass sich eine Gesellschaft der Konkurrenz erhält, ohne sich in gewaltsamen Konflikten aufzulösen. Wenn Hobbes das so hinstellt, also hätten es die Bürger nun in der Hand, sich friedlich ihrer Mittel zu bedienen und zu ernähren, so ist dieses Bild einerseits beschönigend, da der Staat ja nicht die Knappheit der Mittel beseitigt hat. Er hat nur dafür gesorgt, dass niemand einem anderen Bürger Gewalt antun darf, um sich des knappen Gutes zu bemächtigen, das dieser besitzt. Andererseits ist daran auch zu bemängeln, dass der Staat den Bürgern doch selbst in dieser beschönigenden Darstellung nur ihr nacktes Leben sichert, da er die Überschüsse der Produktion zur Ausstattung seiner Gewalt mit Waffen und mit Personal, das im Gebrauch dieser Waffen geschult ist, benötigt. Besser als ein Sklave, der von seinem Herrn erhalten wird, damit er weiterhin diesem zu Diensten sein und die Überschüsse seiner Produktion abliefern kann, ist ein Bürger damit nicht gestellt. Auch fragt sich, worin hier der Unterschied des Staates zur Mafia bestehen soll, die sich von Bürgern Schutzgeld zahlen lässt, damit sie diese verschont, aber auch tatsächlich vor anderen Bürgern schützt oder ihnen in der Durchsetzung gegen diese hilft, damit sie dieses Schutzgeld auch aufbringen können und nicht einer anderen Gewalt abtreten müssen.

Der zum Staatsmann aufgestiegene Bürger hat also nach Hobbes‘ gar keinen Grund mehr, andere Bürger zu schädigen, weil ihm diese nun nützlich sind. Die Bürger hingegen haben weiterhin Gründe, einander Mittel streitig zu machen, und schätzen den Staat dafür, dass er hier eingreift, auch wenn sie darüber klagen, dass sie ihm dafür beträchtliche Mittel zur Verfügung stellen müssen. Immer noch besser, als die gesamte Existenz im Krieg aller gegen alle zu verlieren, denken sie, und kommen nicht auf den Gedanken, dass man diesen Krieg vielleicht abstellen könnte, wenn man zusammenarbeiten und so die Güter hervorbringen würde, die nicht nur das Leben erhalten, sondern auch Lebensfreude vermitteln.

Von Hobbes zu Nietzsche

Hobbes

Hobbes behauptet, die Menschen würden zur gegenseitigen Schädigung neigen und dies würde zum Krieg aller gegen alle führen. Um diesen permanenten Kriegszustand abzustellen, hätten die Menschen den Staat erschaffen, der sie nun voreinander schützen würde. Das führt allerdings zu dem Widerspruch, dass damit dieser Schädigung unmöglich Einhalt geboten werden kann, denn weswegen sollten die Staatsführer von dieser Neigung zur Schädigung anderer Menschen gerade dann ablassen, wenn sie in der Staatsmacht über das beste Mittel dafür verfügen.

Kant

Dieser Widerspruch ist auch Kant nicht entgangen, der aus den Kriegen zwischen den Staaten den Schluss zieht, dass der allgemeine Kriegszustand durch die Staatenbildung noch nicht aufgehoben ist. Er hofft allerdings, dass die Menschen irgendwann einsehen werden, dass sie Kriege besser unterlassen, da diese letztlich niemandem nützen, sondern überall Menschen schädigen würden. Um den Weg zu dieser Einsicht abzukürzen, setzt sich Kant das Ziel, die Menschen über die Eignung der Vernunft für ein friedliches Zusammenleben aufzuklären. Er schreibt dafür die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft.

Im Gebrauch seiner Vernunft überlegt Kant, wodurch die Handlungen der Menschen gut werden könnten. Dabei stellt er fest, dass nur ein guter Wille uneingeschränkt gut sein könne. Verstand und Entschlossenheit können auch zur Schädigung anderer Menschen eingesetzt werden, sind also nur relativ zu einem bestimmten Zweck und nicht uneingeschränkt, absolut gut. Es kommt also weniger auf das an, was man tut, sondern auf die Absicht, die man dabei verfolgt, auf den Willen, mit dem man etwas tut. Ist diese Absicht gut, so wird es auch die Tat sein, meint Kant, und deswegen ist ein guter Wille das Fundament der Moralität.

In der Wirklichkeit komme dieser gute Wille bereits dann vor, wenn Menschen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht handeln. Solange sie ihren Neigungen folgen, kommt es ganz auf deren Inhalt an, ob diese anderen Menschen angenehm oder schädlich sind. Wer nur seinen Neigungen folgt, handelt daher nur zufälligerweise gut. Er lässt sich sein Handeln von seinen Neigungen diktieren und ist daher durch diese determiniert. Kant nennt dieses Handeln heteronom, fremdbestimmt. Handelt er dagegen aus Pflichtbewusstsein, so folgt er nicht seinen Neigungen, sondern er entscheidet verantwortungsbewusst, also gemäß vernünftiger Einsicht, er handelt daher nun frei und autonom, behauptet Kant.

Wenn jemand aus Pflicht handelt, so handelt er nicht aus Neigung, denn die Neigung treibt seine Handlung von selbst an, zu ihr muss er nicht verpflichtet werden. An der Pflicht gefällt Kant also, dass hier Menschen nicht für sich, sondern für andere tätig werden. Wenn ein Mensch aus Pflicht handelt, so verwirklicht er nicht seinen Willen und sein Interesse, sondern zunächst ein anderes Interesse. Er gehorcht einem fremden Willen und ist diesem zu Diensten, genauso wie bei Hobbes die Menschen dem Staat gehorchen. Er ist uneigennützig, lautet das jedem bekannte Urteil. Dieser Wille, so behauptet Kant, ist aber dem Menschen nur fremd, insofern er von seinen Neigungen bestimmt ist, er gehorche damit jedoch seiner Vernunft.

Dennoch ist damit aber noch überhaupt nichts darüber gesagt, wie diese angeblich von der Vernunft bestimmte Pflicht aussieht. Hier schlägt Kant auch keine konkreten Pflichten vor, sondern er überlegt sich ein Verfahren zur Überprüfung der Vernünftigkeit einer Pflicht. Dieses Verfahren nennt er den kategorischen Imperativ. Kategorisch heißt dieser, weil er absolut gilt und seine Anwendung daher die grundlegende, absolute Pflicht der Menschen darstellt. Der kategorische Imperativ helfe dabei, die Vernünftigkeit und damit Pflichtmäßigkeit einer Handlung zu bestimmen. Er gebietet, bei jeder Handlung zu überlegen, ob die ihr zugrundeliegende Maxime als allgemeines Gesetz tauglich wäre. Die Maxime macht aus dem Motiv einer bestimmten Handlung einen allgemeinen Grundsatz, dessen allgemeine, also für jedermann annehmbare Geltung nun überprüft werden soll.

Hegels Kant-Kritik

Hier befinden wir uns bereits mitten in Hegels Kritik an Kant. Dieser nimmt nämlich nun einfach die bestehenden Pflichten der herrschenden Gesellschaftsordnung auf und überprüft, ob ein Verstoß gegen sie verallgemeinerbar ist. Er bringt das Beispiel einer Person, die sich in einer Notlage befindet, zur deren Überwindung Geld borgen muss und weiß, dass sie dieses Geld vermutlich nicht zurückzahlen können wird. Sie muss also beim Versprechen der Rückzahlung des geborgten Geldes lügen. Erhebt sie die Entscheidung zu diesem lügenhaften Versprechen zu einem Grundsatz (Maxime) ihres Handelns, so würde dieser lauten, dass man sich in einer Notlage durch eine Lüge helfen dürfe. Wird dieser Grundsatz zu einem Gesetz verallgemeinert, so erweist er sich als untauglich dafür, da man ja selbst zum Opfer einer solchen Lüge werden könnte. Überdies wäre auch jede Lüge wirkungslos, wenn Lügen das Handeln der Menschen bestimmen würden. Die Lüge, so sagt Kant, würde sich damit selbst zerstören. Daher sollte der Lügner lieber seinen gegenwärtigen Schaden hinnehmen, ehe er den späteren in Kauf nehmen muss, der dann eintritt, wenn er selbst zum Opfer einer Lüge wird oder sich seine Lüge offenbart.

Das Einzige, was Kant damit beweist, ist die Unmöglichkeit des Selbstwiderspruchs eines Gesetzes, lautet hier Hegels berechtigter Einwand. Der Bruch eines Gesetzes lässt sich natürlich nicht zu einem Gesetz verallgemeinern. Umgekehrt könnte Kant allerdings auch den Schluss ziehen, dass die allgemeine Verbreitung der Lüge alle Menschen davor bewahren würde, auf diese hereinzufallen, sodass zwar kein Lügner einen anderen Menschen schädigen, aber auch er umgekehrt von keinem mittels Lüge geschädigt werden könnte. Da man den Aussagen der Menschen unter dieser Voraussetzung nicht trauen dürfte, müssten sich diese vertraglich zur Einhaltung ihrer Versprechen verpflichten und wüssten damit immer, woran sie sind. Statt auf die Achtung der Wahrheitspflicht zu vertrauen, würden sie einander per Vertrag verpflichten.

Darüber hinaus müsste Kant genauso die Prüfung der Wahrheitspflicht verlangen. Überprüft werden müsste nicht, ob die Lüge, als der Bruch der Pflicht zur Wahrheit, allgemein gültig sein kann, sondern ob die Wahrheitspflicht in jedem Fall vernünftig und allgemein zu beachten ist. Statt zu fragen, ob die Lüge allgemein gültig sein kann, müsste ich fragen, ob dies auf die Wahrheit zutrifft. Muss ich also immer die Wahrheit sagen, egal ob dadurch ich oder jemand anderer Schaden nimmt, weil im umgekehrten Fall auch mir die Wahrheit vorenthalten werden könnte? Ist es z. B. vernünftig, jemandem die Wahrheit zu sagen, der damit einer anderen Person Schaden zufügen will? Wenn ein Mörder mich nach dem Aufenthalt seines Opfers fragt, wäre es dann vernünftig, ihm die Wahrheit zu sagen? Wäre es vernünftig, weil man ja auch selbst auf der Suche nach einem Opfer sein könnte und es daher nicht wollen würde, dass die gewünschte Auskunft verschwiegen wird? Umgekehrt könnte man aber auch das gesuchte Opfer sein und daher die Verweigerung der Auskunft wollen. Wäre es vernünftig, weil die Erschütterung der Wahrheitspflicht in diesem bestimmten Fall dazu führen würde, sie allgemein zu zerrütten und allgemeinen Schaden hervorzurufen? Wäre so gesehen die Befolgung der Wahrheitspflicht auch dann erforderlich, wenn dadurch Beihilfe zu einem Mord geleistet wird, sodass ein Individuum geopfert werden müsste, um allgemeinen Schaden zu vermeiden? Man sieht also, dass sich bei jedem Gebot Nutzen und Schaden finden lassen und der kategorische Imperativ nicht bei der Entscheidung unversöhnlicher Widersprüche und Interessensgegensätze hilft. Er bekräftigt nur jene Handhabung dieser Interessenskonflikte als widerspruchsfrei, die als Pflicht von der Obrigkeit in Kraft gesetzt ist.

Handlungen aus Neigung und Handlungen aus Pflicht widersprechen einander. Wenn etwa die Erhaltung des Lebens zur Pflicht gemacht würde, so wäre dies zunächst unsinnig und überflüssig, da dazu jeder Mensch Neigung hat, wie dies in der Redeweise vom Selbsterhaltungstrieb zum Ausdruck kommt. Kant behauptet daher, dass nur dann die Selbsterhaltung des Lebens aus Pflichtbewusstsein geschehen würde, wenn dieses Leben unangenehm, beschwerlich, ja eine Qual wäre. Das Kennzeichen der Pflicht wäre daher, dass sie sich zu den menschlichen Neigungen im Widerspruch befinde und diesen daher „Eintrag“ tue, wie Kant dies nennt. Sie gebietet den Neigungen Einhalt, erhebt gegen die Neigungen Einspruch, ist ein Einwand gegen diese und würde daher als Schmerz erlebt werden. An den Schmerzen, die einem die Pflichterfüllung bereite, hätte man dann so etwas wie ein Indiz dafür, dass man aus Pflicht handelt. Würde die Natur der Menschen den Geboten der Vernunft entsprechen, dann hätte kein Handeln einen moralischen Gehalt, denn nur im Handeln gegen ihre Natur sind die Menschen dieses Gehalts gewiss. Ihr Handeln benötigt den kategorischen Imperativ, da es nicht auf ihrer Natur beruht, sondern dieser widerspricht.

Wenn man aber kein Masochist ist, so ist keine Handlung denkbar, die ihren Zweck darin hat, sich selbst zu quälen. Als Verwirklichung eines bestimmten Zwecks dient jede Handlung auch einer Neigung, selbst wenn es so aussieht, dass sie eine Pflicht erfüllt. Es ist daher auch bei einer pflichtgemäßen Handlung nicht gewiss, dass diese auch auf Pflichtbewusstsein beruht. Zwar könnte das Gefühl des Schmerzes ein Hinweis auf die Pflichtbestimmtheit einer Handlung sein, der Handlung selbst ist dieses Gefühl jedoch nicht unbedingt anzusehen. Auch ist es nicht verlangt, dass man die Pflicht widerwillig erfüllt, auch wenn man daran vielleicht feststellen könnte, dass man aus Pflichtbewusstsein und nicht aus Neigung handelt. In der Regel werden Menschen jedoch deswegen erfüllen, was immer man ihnen als Pflicht auferlegt, weil sie den Schaden fürchten, den sie sich dadurch einhandeln, dass sie sich dieser Pflicht entziehen. So ergeht es etwa dem Soldaten schlecht, der den Wehrdienst verweigert und damit die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung missachtet, denn es droht ihm das Schicksal, als Deserteur hingerichtet zu werden. Umgekehrt ist deswegen aber nicht jeder Soldat jemand, der seine Pflicht erfüllt, da er ja auch genauso gut nur seiner Neigung gemäß handelt, wenn er sein Vaterland liebt und daher zu jeder Anstrengung und jedem Opfer bereit ist, um es zu verteidigen oder seine Interessen durchzusetzen. Auch an Wehrdienstverweigerern im Faschismus lässt sich demonstrieren, wie man diese nach Belieben beurteilen kann: Die einen halten diese für antifaschistische Widerstandskämpfer, da sie sich ja dem Dienst für den wegen seiner Niederlage missbilligten faschistischen Staat widersetzt haben. Andere dagegen meinen, die hätten ja bloß ihre Haut retten wollen und hätten sich daher auch für anerkannte Kriegszwecke nicht eingesetzt.

Eine Handlung muss also uneigennützig sein, wenn sie nicht nur pflichtgemäß, sondern durch Pflicht bestimmt sein will. Diese Uneigennützigkeit lässt sich aber nicht nachweisen. Jeder Handlung lässt sich nämlich ein Nutzen für das handelnde Subjekt entnehmen oder zumindest andichten. Genauso lässt sich umgekehrt jede eigennützige Handlung als Erfüllung einer Pflicht darstellen. Deswegen sagt Kant ja auch, dass es auf das Wollen, die Absicht einer Handlung ankommt, weil man einer Handlung nicht ansehen kann, ob sie unbeschränkt bzw. vollkommen gut ist. Es wäre auch zu seltsam, wenn Kant erklärt, dass nichts als ein guter Wille unumschränkt gut ist und dann einer Handlung anzusehen sein sollte, dass sie gut ist. Das könnte man ihr nur dann ansehen, wenn sie unumschränkt gut wäre. Jede Handlung ist jedoch nur relativ zu einem bestimmten Zweck gut, da ja die Eigenschaft „gut“ selbst nur relativ ist, indem sie ein Verhältnis zwischen einem Zweck und einer Handlung oder einem Gegenstand angibt.

Kant bestätigt mit dem kategorischen Imperativ die herrschenden Zwecke als allgemein gültig, indem er nachweist, dass ihr Gegenteil nicht gelten kann. Dieses tautologische Verfahren genügt jedoch nicht, um zu überprüfen, ob jemand zufällig in Übereinstimmung mit den herrschenden Pflichten handelt oder ob er dies aus reiner Achtung vor der Vernünftigkeit dieser Pflichten macht, ohne davon irgendeinen Nutzen für sich zu haben. Auch die eigens zur Schau gestellte Pflichterfüllung zielt darauf ab, dafür Anerkennung und einen guten Ruf zu erhalten. Deswegen bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als zu behaupten, dass bei allen ihren Handlungen sie nichts anderes als uneigennützige Pflichterfüllung leite. Diese Behauptung bringt jedoch jeder zustande, selbst jene, die scheinbar nur ihre Interessen verfolgen, wenn sie nach Reichtum und Wohlstand streben, können dies als Erfüllung der Pflicht darstellen, niemandem zur Last fallen und über genügend Mittel zur Vorsorge für Notfälle verfügen zu wollen.

Da die Pflicht nun nur in der Behauptung oder im Sagen besteht, wie Hegel das ausdrückt, ist es auch einfach, diese Behauptung als Heuchelei zu entlarven. Dies ist der Grund dafür, dass die schöne Seele auf Handlungen vollkommen verzichtet, um die Reinheit ihres Daseins nicht durch Handeln zu beflecken. Das harte Herz handelt auch nicht, es begnügt sich mit der Entlarvung der Eigennützigkeit des Handelns anderer und mit deren Verurteilung. Es urteilt, anstatt zu handeln, und zeigt sich darin hartherzig gegen die anderen, die ihm nichts recht machen können. Das Böse ist für Hegel nun jenes Handlungssubjekt, das immer nichts als seinen Nutzen im Auge hat und dabei darauf achtet, dass es Pflichterfüllung heuchelt. Da ihm ohnehin jede Handlung negativ ausgelegt wird, bemüht es sich gar nicht darum, die Wünsche anderer Menschen zu berücksichtigen, sondern es hat sein Genügen daran, seine Interesse als Pflichterfüllung darzustellen. Indem sie ihre Unwahrheit und Heuchelei anerkennen, kommen das harte Herz und das Böse zur Versöhnung. Auf die Versöhnung mit der Wirklichkeit legt Hegel schließlich in seiner Rechtsphilosophie wert, in der er sich darum bemüht, jeden gesellschaftlichen Widerspruch in der Versöhnung zu tilgen.

Schopenhauer

Auch Schopenhauer weist nach, dass Kant in seiner Moralphilosophie die herrschenden Vorstellungen bestätigt. Demnach nimmt Kant die christlichen Moralvorstellungen auf, entkleidet sie dabei ihrer religiösen Grundlage und macht es sich dadurch leicht, die Notwendigkeit zumindest der Idee eines Gottes als Grundlage dieser Moralbestimmungen zu behaupten. Darüber hinaus weist Schopenhauer Kants Vorstellung von Freiheit zurück, indem er behauptet, dass jede menschliche Handlung heteronom sei und auch dadurch nicht autonom werde, dass sich die Vernunft ihrer bemächtige. Wenn Kant meint, durch den kategorischen Imperativ würde den Menschen das Gesetz der Vernunft offenbart, durch welches sie die Vernünftigkeit ihrer Handlungen bestimmen und daher autonom entscheiden könnten, so ist dies für Schopenhauer eine Illusion. Da jedes Handeln einem bestimmen Zweck folgt, ist es dadurch determiniert und die vernünftige Abwägung verschiedener Handlungsalternativen besteht in nichts weiter als in der Entscheidung, welche Handlung dem vorgegebenen Zweck am besten dient. An der Vorgegebenheit des Zwecks ändert diese relative Entscheidungsfreiheit natürlich nichts, deswegen seien die Menschen von diesem Zweck beherrscht und determiniert.

Wollte man die Herrschaft der Zwecke außer Kraft setzen, so wäre Askese, also vollkommene Entsagung notwendig. In diesem Sinne schlägt Schopenhauer auch vor, dass die Menschen ihren Willen abtöten sollten, um von diesem nicht mehr getrieben und nicht mehr dem Leiden ausgesetzt zu sein. Dieses Leiden besteht nicht nur in der wechselseitigen Schädigung bei der Durchsetzung ihres Willens, es ist vielmehr die Triebkraft des Willens selbst, die dieses Leiden noch vor den Konflikten mit anderen Menschen auslöst, da der unerfüllte Zweck Leiden erzeugt. Dieses Leiden am unerfüllten Zweck werde durch seine Befriedigung nur ganz kurz getilgt und durch den nächsten unerfüllten Zweck sofort wieder in Kraft gesetzt. Nur in der Kunst und im Mitleid würden die Menschen nicht von ihrem Willen bestimmt sein, sondern intuitiv einen Begriff von der ganzen Welt als Schicksalsgemeinschaft haben und sich in die Lage anderer hineinversetzen, anstatt diese zu bekämpfen oder rücksichtslos zu benutzen.

Nietzsche

Nietzsche zerstört Kants Lob des guten Willens als selbstlos und uneigennützig, indem er darauf hinweist, dass das Lob der Selbstlosigkeit wohl nicht selbstlos ist. Im Gegenteil, wer die Selbstlosigkeit anderer Menschen schätzt, dem gefällt daran, wie gut sich diese von ihm benutzen lassen. Wer anspruchslos ist und nichts verlangt, dem muss ich nichts dafür bieten, dass er meinem Willen gemäß handelt. Für Nietzsche ist es ein Skandal, dass Menschen sich für eine derartige Sklavenhaltung hergeben. Man muss ihnen schon eingeredet haben, dass ihr Leben nichts wert sei, um sie zu einer solchen Gleichgültigkeit gegen ihr Wohlergehen zu bringen. Wenn die Faschisten den Menschen erklärt haben, dass sie nichts seien, ihr Volk hingegen alles, so hätten sie in dieser Hinsicht in Nietzsche gewiss einen erbitterten Gegner gehabt.

Nietzsche kann sich die Entstehung dieser Lebensfeindlichkeit, der das eigene Leben nichts wert ist, nur durch einen Sklavenaufstand der Moral erklären. Jene, die von Natur aus schwächer waren, hätten den Starken erfolgreich ein schlechtes Gewissen eingeredet und sie zum Verzicht auf die Nutzung ihrer Macht gebracht, indem sie ihre eigene Machtlosigkeit zur Bescheidenheit und zum großzügigen Verzicht stilisierten. Nachdem Kant mit dem Anspruch der Selbstlosigkeit zur Lähmung des Handelns in der schönen Seele bei Hegel und in der Askese bei Schopenhauer geführt hat, holt Nietzsche zum großen Gegenschlag aus und erklärt, dass jede Handlung dieser beklemmenden Ohnmacht vorzuziehen sei, vor allem dann, wenn es der Steigerung des eigenen Lebens diene. Die An-der-Tür-Steher, wie er die vor Mutlosigkeit in ihrem Handeln gelähmten Menschen nennt, würden nur ihre Ohnmacht zu Verzicht und Bescheidenheit verklären. Nietzsche nimmt eine Umwertung der herrschenden Werte vor und bekennt sich offen zur Entfaltung von Macht und Stärke als Zweck menschlichen Handelns, der nur untergeordneten Naturen ein Gräuel sei, weil sie keine Fähigkeit zur Machtentfaltung und diese daher erfolgreich als schädlich gebrandmarkt hätten. Die herrschende Moral gilt Nietzsche als Prinzip schwacher Charaktere, die zum Sklaven geboren wären, sich mit der Entwicklung dieser Moral jedoch erfolgreich gegen ihre angestammten Herren erhoben und diese zum Verzicht auf ihre Macht überzeugt hätten. Die Mühe dieses Verzichts, die Unterdrückung ihres Drangs zur Entfaltung der Pracht und Herrlichkeit ihres Daseins, zur Entfaltung ihrer Macht hätten sie als wahren Sieg, nämlich als Sieg über sich selbst gefeiert. Die Hochschätzung dieser Disziplin der Selbstbeherrschung, gegen die Nietzsche zu Felde zieht, hätte ihm gewiss auch einen Konflikt mit der NS-Herrschaft eingebracht, die Nietzsche in dieser Hinsicht als Sklavenmoral betrachtet hätte. Die Auffassung, dass es von Natur aus schwache Menschen gibt und dass Rücksichtnahme auf diese nichts als eine Schwächung der eigenen Natur und damit der menschlichen Entwicklung darstelle: Diese Auffassung hat den Nazis wiederum sehr gefallen, sahen sie sich doch als höhere Naturen, die das schwache und daher unwerte Leben als Hindernis für die Entwicklung der Menschen beseitigen dürfen und müssen.

Nietzsche zieht die Wiederkehr der menschlichen Bestie, die Hobbes durch den Staat und Kant durch die Moral bezwingen wollen, der scheinbaren Besonnenheit vor, die in Wirklichkeit nur Angst vor entschlossenem Handeln rechtfertige. Er tritt für die Sprengung der Ketten ein, welche die herrschende Moral den Menschen auferlegt. Damit lässt sich auch für den sogenannten Raubtierkapitalismus eintreten, weswegen Adorno die Maßlosigkeit der von Nietzsche angestrebten Machtentfaltung als Nachbildung der maßlosen Profitmaximierung kritisiert.

Der Schluss, die Moralkritik der 1968er,  kommt nach Anfrage.