2016

In der Tiefe des dialektischen Widerspruchs verborgen ruht Chinas Sozialismus – oder: Ist es nicht logisch, so ist es dialektisch!

Es ist zwar bereits lange her – September 2010 –, dass Rolf Geffken[1] eine Besprechung von Renate Dillmanns Buch über China in der Zeitschrift Marxistische Erneuerung veröffentlicht hat, ich bin jedoch erst kürzlich zufällig darauf gestoßen. Obwohl diese Rezension nicht gerade aktuell ist, werde ich mich damit auseinandersetzen, da sie beispielhaft für eine dogmatische Lektüre ist.

Geffken stößt sich an der umgangssprachlichen Darstellungsweise bei Dillmann, wenn diese mit Begriffen wie „übel“ und „dumm“ operiere. Völlig unabhängig davon, ob diese Begriffe das Resümee einer Analyse sind oder an deren Stelle stehen, prangert Geffken allein ihren Gebrauch an. Ihre Bedeutung in der Umgangssprache scheint für ihn per se den Ausschluss aus jeder wissenschaftlichen Darstellung zu verlangen. Dabei entgeht ihm z. B., dass die von Dillmann dargestellten Dummheiten den Notwendigkeiten einer Herrschaft entsprechen, die auf diese Weise den Gegensatz einer Obrigkeit zu einem ihrer Verfügungsgewalt unterliegenden Volk zu beschönigen sucht. So können eben nur „dümmliche Propagandaplakate“ herauskommen, dies so zu nennen, ist für Geffken jedoch ein Zeichen von Unwissenschaftlichkeit. Vor allem dürfe man sich keinesfalls auf Marx berufen, wenn man zu solchen sprachlichen Mitteln greife, wobei Dillmann mit marxistischen Begriffen und Erkenntnissen arbeitet und sich keineswegs auf Marx als Autorität beruft, die für die Schlüssigkeit ihrer Argumentation bürgen würde.

Dieses sprachliche Niveau, fährt Geffken fort, könne natürlich nicht der Berufung auf Marx gerecht werden, die sich zudem auf das Manifest der kommunistischen Partei beschränke. Wie ausgerechnet mit dieser Schrift Dillmanns These der Unvereinbarkeit von Nationalismus und Sozialismus als Grundwiderspruch der Entwicklung Chinas zu begründen wäre, bleibt allerdings Geffkens Geheimnis. Das kommunistische Manifest enthält vielmehr Abschnitte, in welchen die Notwendigkeit des Kapitalismus für „gesellschaftlichen Fortschritt“ und als Entwicklungsschritt für den Sozialismus behauptet wird, die Dillmann als wesentlichen Fehler kritisiert, von dem auch Chinas Sozialismus geprägt ist. Deswegen haben Chinas Sozialisten nur das ausländische Kapital bekämpft, in einem nationalen kapitalistischen Markt hingegen eine Notwendigkeit zur Entfaltung der Produktivkräfte gesehen. Diese Auffassung des Kapitalismus als notwendiger Entwicklungsstufe ist für Geffken ein derartig unangreifbarer Zusammenhang, sozusagen eine eiserne Notwendigkeit, dass er den Hinweis darauf gar nicht als Kritik, sondern nur als banale Selbstverständlichkeit begreifen kann, die ihm nur ein gelangweiltes, abgeklärtes „So What?“ entlockt.

Weil Geffken sich keine andere Entwicklung vorstellen kann, fragt er auch gleich nach den Alternativen, die Dillmann vorgeschlagen habe, und meint hier nur einen abstrakten Verweis auf gewisse Widersprüche zu den Grundpositionen von Marx gefunden zu haben – als hätte Dillmann nicht ausführlich auf die Unsinnigkeit hingewiesen, mit marktwirtschaftlichen Kennziffern wirtschaftliche Pläne festzulegen.[2] Verwiesen sei auch auf S. 74 f., wo Dillmann die Möglichkeiten einer der landwirtschaftlichen Entwicklung unterstellten Ausrichtung der Industrie diskutiert, die jedoch für die chinesischen Sozialisten nie ein Thema war: „Für sie scheint die Notwendigkeit eines bevorzugten Aufbaus der Schwerindustrie, an der sich sämtliche Entwicklungsalternativen relativieren müssen, von vornherein festgestanden zu haben.“[3]

Solche Analysen sind für Geffken ein Subsumtionsverfahren: Es werde auf die Übereinstimmung mit Marx geschaut, um zu bestimmen, was eine Revolution sei, anstatt auf die konkrete historische Situation einzugehen. Abgesehen von der Unhaltbarkeit dieser Aussage in Bezug auf Dillmann, wird es jetzt richtig schaurig, denn nun offenbart uns Geffken, dem die Übereinstimmung mit Marx offensichtlich über alles geht, sein Glaubensbekenntnis: „Marx definiert sich vielmehr von Hegel her.“ Egal, ob das stimmt oder was immer das genau zu bedeuten hat, hat Geffken nun gefunden, worauf es ihm ankommt: „Und Hegel heißt: Dialektik. Also das Denken und Analysieren von und in Widersprüchen und schließlich auch: Das Handeln nach Widersprüchen.“ Darauf kommt es Geffken an, denn nun stellt ein Widerspruch für ihn keinen Einwand mehr gegen Chinas Sozialismus dar. Dabei unterschlägt Geffken natürlich völlig, dass nicht alles bereits deswegen dialektisch ist, nur weil es widersprüchlich ist, dass logische und dialektische Widersprüche keineswegs dasselbe sind. Dialektisch habe Marx das Verhältnis von Klasse und Nation genommen, will Geffken mit einem Zitat zur Pariser Kommune beweisen, obwohl das auch dafür sprechen könnte, dass auch Marx sich irren kann: „Wenn sonach die Kommune die wahre Vertreterin aller gesunden Elemente der französischen Gesellschaft war, und daher die wahrhaft nationale Regierung, so war sie gleichzeitig, als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit, im vollen Sinn des Worts international.“[4] Meines Erachtens zeugt diese Aussage von einem falschen, naiven Verständnis des Verhältnisses von Nation und Volk bei Marx, die Redeweise von „gesunden Elementen der französischen Gesellschaft“ erinnert an sozialhygienische Phantasmen. Ohne näher darauf einzugehen, würde ich Marx hier nicht folgen. Während aber Geffken einmal Dillmann dafür rügt, der Buchstabengelehrtheit zu verfallen, indem gewisse Widersprüche zu Grundpositionen von Marx als Begründung ihrer Kritik herhalten müssten, so vermisst er nun genau diese Übereinstimmung und nimmt Marx als genau jenes „Gesetzbuch der Revolution“, wie das Dillmann seiner Auffassung zufolge gemacht habe.

Den Widerspruch von Nationalismus und Kommunismus, den Dillmann als grundlegenden Fehler Chinas betrachtet, löst Geffken „dialektisch“ auf in die „Einheit der Gegensätze vom Kampf um die nationale Befreiung und dem internationalen Kampf der Arbeiterbewegung“ – heureka! Der orthodoxe Marxismus ist es offensichtlich, den die Zeitschrift Marxistische Erneuerung zu erneuern trachtet! Nun gibt es für Geffken kein Halten mehr und wenn Marx die Ausplünderung einer Nation durch eine imperialistische Führungsmacht kritisiert, so steht er für ihn auf dem Standpunkt der ausgeplünderten Nation! Dass eine Nation imperialistische Herrschaftsverhältnisse nicht unbedingt aufheben, sondern sich zu deren Nutznießer aufschwingen will, ist ihm ebenso unbegreiflich wie der Umstand, dass die Kritik einer imperialistischen Nation nicht unbedingt mit der Parteinahme für die „schwächere“ Nation und damit für deren Erstarkung gemäß imperialistischen Erfolgskriterien verbunden ist. Interessant ist auch, an welchen Begebenheiten Geffken diese angebliche Parteinahme von Marx für die chinesische Nation festmachen will:

„So schreibt Karl Marx in seinem Aufsatz für die ‚New York Daily Tribune‘ am 10.04.1857 unter dem Titel ‚Englische Gräueltaten in China‘: ‚Wie still ist doch die englische Presse zu den schändlichen Vertragsbrüchen, wie sie täglich von Ausländern begangen werden, die unter britischem Schutz in China leben. […] Wir hören nichts über die ständigen Bestechungen untergeordneter Beamter, wodurch die chinesische Regierung um ihre rechtmäßigen Einkünfte aus der Wareneinfuhr und -Ausfuhr betrogen wird […] Wir hören nichts über die Einschüchterungsmethoden, die oft gegen die schüchternen Chinesen angewandt oder über die Laster, die von Ausländern über die offenen Häfen eingeschleppt werden.‘[5]

Keine Frage: Jeder Leser kann hier erkennen, auf wessen Seite ein gewisser Karl Marx (übrigens damals vorwiegend Journalist) stand: Auf der Seite der chinesischen Nation.“

Von der chinesischen Nation ist hier nur insofern die Rede, als die chinesische Regierung um ihren Anteil am Außenhandel betrogen wird. Soll man daraus jetzt den Schluss ziehen, Marx habe nichts gegen Warenein- und -ausfuhr einzuwenden gehabt, wenn nur der Staat dabei auf seine Kosten gekommen wäre? Ferner spricht Marx von chinesischen Privatpersonen, die von britischen Bürgern auf eine Weise ökonomisch geprellt und eingeschüchtert werden, die sie bei den deswegen als „kleine Leute“ bezeichneten Proleten bis in unsere Tage praktizieren. Selbst die Laster, die die imperialistischen Führungsmächte diesen zur Kompensation ihres Elends verkaufen, sind keineswegs auf die Kolonien beschränkt, sondern erfreuen sich auch beim Proletariat der imperialistischen Staaten großer Beliebtheit. Die verschiedenen Subjekte, die so zu Schaden kommen, stehen aber nicht für den Schaden der chinesischen Nation, auch wenn es sich dabei um Chinesen handelt. Aber solche Unterschiede will Geffken ebenso wenig zur Kenntnis nehmen wie den Widerspruch zwischen Nationalismus und Sozialismus, den er „dialektisch“ eliminiert haben will.

Offensichtlich kann man auch die imperialistische Entwicklungsstufe nicht einfach überspringen, wenn man zum Sozialismus fortschreiten will, denn Geffken reitet nun weiter darauf herum, dass Dillmann China lediglich für einen Entwicklungsschritt kritisiere, der unvermeidbar sei. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass dies unter Marxisten gesichertes Wissen darstelle: „Dass aber – auch nicht in China – eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufe nicht einfach ‚übersprungen‘ werden konnte, gilt gerade Marxisten als gesichert.“ Da Dillmann diesen Unsinn nicht mitmacht, bleibt ihre Kritik an China laut Geffken an der Oberfläche. Weil sie die vermeintlichen Notwendigkeit einer kapitalistischen Praxis kritisiert, die noch mit der Armut der Wanderarbeiter als vergleichsweisem Fortschritt ihren Frieden macht, wirft ihr Herr Geffken auch noch „Praxisnihilismus“ vor, denn so kann man schließlich nicht den Kapitalismus als notwendige Entwicklungsstufe des Sozialismus feiern. Merke: Wer den Gott der gesellschaftlichen Entwicklung angreift, der dringt nicht zu ihrer dialektischen Tiefe vor und endet in gottlosem, oberflächlichem Praxisnihilismus. So pfäffisch muss ein Sozialismus sein, der sich in der Auslegung der imperialistischen Entwicklung einer Nation als Übergangsphase zum Sozialismus gefällt!

So fasst Geffken daher sein Glaubensbekenntnis zusammen: „Bei aller berechtigten Kritik am chinesischen ‚Modell‘ gilt: Analyse und Kritik müssen ihrem Gegenstand angemessen sein. Oberflächliche Einschätzungen werden China nicht gerecht. Das von Dillmann selbst so bezeichnete ‚Zwischenfazit in polemischer Absicht‘, wonach die Mobilisierung marktwirtschaftlicher Kräfte ein ‚ärgerlicher Fehler mit ärgerlichen praktischen Folgen‘ in China gewesen sei, und dieser zu einer ‚ungemeinen grundsätzlichen Legitimation des realen Kapitalismus‘ geführt habe, ist völlig inakzeptabel. Dabei geht es nicht darum, die in der späteren Modernisierungsphase eingetretene Entfesselung des Kapitalismus mit all seinen Begleiterscheinungen zu leugnen. Im Gegenteil: Es geht aber sehr wohl um die Frage der Alternative.“ Seit wann muss eigentlich eine Kritik ihrem Gegenstand angemessen sein? Kritik führt doch gerade über den kritisierten Gegenstand hinaus, indem sie dessen Mängel offenbart, Klar, falsche Ansprüche darf man an einen Gegenstand nicht stellen und etwa ein Auto dafür kritisieren, dass man damit nicht fliegen kann. Derartiges kommt bei Dillmann auch nicht vor, daher muss Geffken hier zu solchen Floskeln greifen. Deswegen sei „bei aller berechtigten Kritik“, die dann wohl nur zufällige und vorübergehende „Missstände“ treffen oder leider unvermeidbare Opfer beschwichtigend würdigen kann, Dillmanns Fazit „inakzeptabel“, denn zur kapitalistischen Entwicklung gebe es keine Alternative. Diese Glaubenssätze wird Herr Geffken gebetsmühlenartig immer wieder herunterbeten, wenn er mit linker Kritik konfrontiert ist, die ihm letztlich ohnehin nur als Sektierertum gilt. In der dialektischen Tiefe der Widersprüche ruht daher auch in China der Sozialismus, nur muss ihn niemand aufwecken, wenn man sich alles schön „dialektisch“ so zurechtlegt, dass es einen Schritt zum Sozialismus darstelle.

[1] http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/145.linke-kritik-an-china.html, zuletzt aufgerufen am 9. 11. 2016

[2] Vgl. das Kapitel „Widersprüche geplanter Wertproduktion“ in: Renate Dillmann: China. Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, Hamburg 2009, S.85 ff.

[3] Renate Dillmann: China, a. a. O., S. 75

[4] Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW Bd. 17, S. 346:

[5] Geffken, a. a. O., zuletzt aufgerufen am 9. 11. 2016; Hervorhebung im Original.

Die Verniedlichung imperialistischer Gegensätze am Beispiel des ORF

12. 10. 2016

Andreas Pfeifer, der Chef der Abteilung für Auslandspolitik im ORF, hat uns neulich an seinen tiefen Einsichten in das Seelenleben von Obama und Putin teilhaben lassen. Während Obama in Syrien nur widerstrebend militärisch aktiv sei, nutze Putin diesen Konflikt, um sich als Führer einer Weltmacht in Szene zu setzen. Wegen dieses militärischen Ungleichgewichts sei der Krieg in Syrien auch noch nicht beendet.

Diese Beurteilung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. So ist das Gerede von einem militärischen Ungleichgewicht haltlos, da die militärischen Anstrengungen Russlands hier zunächst erst für ein Gleichgewicht sorgen mussten. Erst in den letzten Monaten ist hier ein Übergewichts der Allianz von Syrien und Russland entstanden, das zur Zurückdrängung des IS führte. Wenn in diesem Konflikt tatsächlich von Beginn an ein Ungleichgewicht bestanden hätte, so wäre dieser schon längst entschieden worden. Zwar sind die USA nicht mit ebenso viel Militärpersonal direkt an Waffengängen beteiligt wie Russland, aber der Westen insgesamt unterstützt natürlich immer noch die Gegner seines erklärten Feindes Assad. Deswegen fallen auch die militärischen Anstrengungen gegen den IS so spärlich aus, denn dafür ist selbst dieser noch nützlich. Ebenso sind daher auch die Gräueltaten des IS den USA nur ein paar Alibi-Luftangriffe wert. Darüber hinaus ist es schon an Albernheit kaum zu überbieten, in militärischen Angelegenheiten von einem Übergewicht des Gegners der USA zu sprechen, die immerhin das bei weitem größte Militärbudget weltweit aufweisen. Wenn sie ihr militärisches Gewicht in Syrien weniger in die Waagschale werfen, so deswegen, weil ihnen die Beseitigung Assads diese Kosten an Menschen und Material derzeit noch nicht wert gewesen ist. Diese Kämpfe sollen daher weiterhin die Islamisten vor Ort an ihrer Stelle führen, die dafür auch den Ehrentitel erhalten, „Freiheitskämpfer“ zu sein. Russland hingegen ist hier zu allem bereit, um nicht seinen wichtigen militärischen Verbündeten und einen bedeutenden militärischen Stützpunkt zu verlieren. Deswegen ist es auch lächerlich, wenn Herr Pfeifer hier von einer militärischen Machtdemonstration Putins spricht, die dieser zur Befriedigung seiner persönlichen Eitelkeit praktiziere. Damit suggeriert Pfeifer, dass die Eskalation dieses Konflikts an Putins Persönlichkeitsmerkmalen liege, als würden hier keine handfesten staatlichen Interessensgegensätze aufeinanderprallen.

Das Interesse der westlichen Staaten an der Beseitigung Assads ist auch der Grund für diesen Konflikt. An diesem Machthaber stört nämlich bereits, dass er dem Westen nicht freundlich gesonnen ist. Genau wie in Libyen, wo die Beseitigung Gaddafis bereits gelungen ist, strebt man hier die Beseitigung Assads an, auch um den Preis der Destabilisierung dieser Region. Dafür reichte die militärische Unterstützung der Islamisten, die der Westen betreibt, bisher. Allein aus dem Umstand, dass die westlichen Interessen sich hier einer beträchtlichen Gegenwehr ausgesetzt sehen, schließt Pfeifer auf ein militärisches Ungleichgewicht, da ihm die militärische Überlegenheit der westlichen Staaten als selbstverständliches Gleichgewicht der Welt gilt. Seit Russland und Assad jedoch immer mehr Gebiete zurückerobern, stellt sich die Frage, ob die westlichen Mächte auf die Durchsetzung ihrer Ziele in dieser Region vorläufig verzichten oder ihr militärisches Engagement steigern. Nachdem ein US-General bereits von einem wahrscheinlich nicht mehr vermeidbaren Krieg mit Russland spricht, steht zu befürchten, dass Letzteres eintreten wird. Da die westlichen Weltordnungsambitionen für Herrn Pfeifer so etwas wie die Wiederherstellung einer natürlichen Ordnung zu sein scheinen, kann er Putins Widerstand dagegen wohl nur als Verirrung einer gestörten Persönlichkeit begreifen. Zu solchen Psychologisierungen muss man greifen, wenn einem die Parteilichkeit für die imperialistischen Interessen zur zweiten Natur geworden ist. Widerstand gegen diese Interessen erscheint dann nur noch als unerklärliche Perversion und als Merkmal einer gestörten Persönlichkeit.

Allgemein ist zum Verhältnis der westlichen Staaten zu Russland festzuhalten, dass Russland sich mittlerweile einer Feindschaft gegenübersieht, die sich von der Zeit des Kalten Krieges kaum mehr unterscheidet. Es ist ja auch absurd zu meinen, dass Staaten ihre Interessen danach bestimmen, welche Regierungsform ihrer Herrschaft zugrunde liegt. Oder hat etwa jemals jemand davon gehört, dass Monarchien ihre Kriege untereinander deswegen eingestellt hätten, weil sie ja ohnehin der monarchistischen Herrschaft in gleichem Maße huldigen? Ebenso verhält es sich mit bürgerlichen Staaten, auch wenn diese ihre Feindschaft gerne als Sorge um das Volkswohl ihrer Gegner präsentieren. Der Gedanke, dass mit dem Ende der Sowjetunion ein Zeitalter des Friedens angebrochen sei, hat sich ohnehin, kaum war er aufgekommen, sofort als Illusion erwiesen, schließlich kam es gleich darauf zum Zweiten Golfkrieg. Während der Systemgegner mit dem Ende der Sowjetunion beseitigt war, konnten sich nun die Gegensätze des Systems entfalten, die davor durch diesen Gegensatz im Zaum gehalten wurden. Nun wurden die imperialistischen Gegensätze ausgetragen, welche die Staaten davor ihrem gemeinsamen Kampf gegen den Systemgegner Sowjetunion untergeordnet hatten. Nebenbei bemerkt zeigt sich am Untergang der Sowjetunion auch die Wirksamkeit von Gewalt in der Politik, schließlich wurde dieser Untergang durch einen einzigartigen Rüstungswettlauf erzwungen. Anstatt über Kriege und Gewalt zu jammern, wäre es daher notwendig, nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, dass die Aufteilung der Welt unter Staatsgewalten und deren Zusammenwirken in einer Weltordnung nichts als Gewaltfragen sind. Das spricht natürlich nicht dafür, diese Gewalt als unvermeidliche Tatsache zu akzeptieren, sondern dafür, die Kritik dieser gewaltsamen staatlichen Gebilde durchzuführen. Anstatt Kriege auf die persönlichen Befindlichkeiten von Staatsführern zurückzuführen, wäre es daher geboten, die in der kapitalistischen Staatsräson bestehenden Kriegsgründe zur Kenntnis zu nehmen. Diese Staatsräson war es auch, weswegen jede Alternative sich ihrer unversöhnlichen Gewalt sicher sein konnte und die kapitalistischen Staaten ihre Herrschaft gewaltsam zur Alternativlosigkeit machten.

Nach der Abschaffung der sowjetischen Staatsräson wegen dieser unversöhnlichen Feindschaft ihrer imperialistischen Gegner und der damit verbundenen Rüstungslasten ist Russland unter Jelzin bekanntlich an den Rand des Zusammenbruchs geraten. Selbst der Fortbestand der russischen Staatsgewalt schien einige Zeit lang keineswegs gewiss, als diese unter die Räder der imperialistischen Interessen kam. Putins Verdienst war es, diese Abwärtsspirale umzukehren und aus Russland einen Staat zu machen, der nicht mehr zum Spielball anderer Nationen wurde, sondern seine Interessen in der herrschenden Weltordnung durchzusetzen versucht. Dafür musste sich Putin auch mit den üblicherweise auch hierzulande geschmähten Oligarchen anlegen, die wegen ihres Konflikts mit ihm nun plötzlich als Opfer des russischen Despotismus gewürdigt werden. Dafür war die Öffnung für die westlichen Staaten wohl nie gedacht, dass sich Russland diese Weltordnung auch zunutze machen könnte, anstatt Oligarchen hervorzubringen, die daran verdienten, dass sie an der Nutzbarmachung Russlands für die Weltordnungsmächte von USA & Co mitwirkten. Weil solche imperialistischen Gegensätze in der Ideologie der hiesigen Propaganda aber nicht einmal angesprochen werden dürfen, muss für deren Verklärung die Psychologisierung herhalten, die es zur unrechtmäßigen Großmannsucht eines Putin erklärt, wenn sich Russland den Ordnungsvorstellungen der dazu berufenen Weltmacht USA entgegenstellt, wie dies zurzeit in Syrien geschieht.

Umgekehrt stellt Pfeifer Obamas leading from behind als vornehme Zurückhaltung einer schönen pazifistischen Seele dar, die für ihr friedliebendes Wesen ja auch den Friedensnobelpreis erhalten hat. Diese Strategie ist jedoch nur eine Reaktion auf das Scheitern des Herrschaftsprogramms von Obamas Amtsvorgänger George W. Bush. Dieser hatte versucht, feindliche Staaten durch Eroberung zu Verbündeten zu machen und dafür jahrelang einen hohen militärischen Aufwand betrieben, der sowohl in Afghanistan als auch in Syrien nicht zum gewünschten Ziel führte. Deswegen – und nicht weil ihm Gewalt so wesensfremd wäre oder gar widerstreben würde – hat Obama sich dafür entschieden, nach Möglichkeit bereits bestehende Gegner seiner Feinde zu unterstützen und so für US-Interessen einzuspannen. Außerdem besteht Obamas Strategie in einer Art Politik der verbrannten Erde: Wo immer sich Feinde der USA breitmachen, werden sie militärisch niedergemacht, ohne dass sich die USA dafür als Befreier einer dann mit ihnen verbündeten Nation präsentieren wollen. Sie werden also vor allem durch Gegner vor Ort und nur militärisch bekämpft, ohne dass damit ein politisches Aufbauprogramm verbunden wäre. Nach dem militärischen Erfolg ziehen sich die USA daher sofort wieder zurück. Diese scheinbare Bescheidenheit in der Nutzung der US-Militärmacht, die in Wirklichkeit auf deren effizientere Nutzung abzielt, hat Obama auch noch den Friedensnobelpreis eingebracht. Das ist fürwahr ein Treppenwitz der Geschichte!

So kann man eine Welt voller imperialistischer Gegensätze und Kriegsmotive ignorieren, indem man den Persönlichkeitsmerkmalen von Politikern zuschreibt, ob diese mit ihrer Macht „verantwortungs- und maßvoll“ oder „angeberisch und großtuerisch“ umgehen. Militärische Konflikte werden so durch den Zufall bzw. Unglücksfall erklärt, dass falsche Personen die Führung der Staaten innehätten. So verniedlicht und verharmlost man diese Konflikte, indem man sie als Werk politischer Führer darstellt, das gar nicht sein müsste, wenn diese nicht eigenwillige Persönlichkeiten wären. An den Staaten, deren Zwecke sie betreiben, kann (= darf) es jedenfalls nicht liegen!

Van der Bellen und die Volksgemeinschaft

7. 11. 2016

Anlässlich seiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten beglückt Alexander Van der Bellen die Öffentlichkeit mit bemerkenswerten Werbesprüchen auf seinen Plakaten. „Österreich dienen – und keiner Partei“ heißt es einmal, ein anderes Mal ist zu lesen: „Nur gemeinsam sind wir Österreich.“ Daraus ergibt sich für ihn auch schon ein „Nein zum Öxit. Gemeinsam stärker“ und natürlich wirkt er damit auch „Für das Ansehen Österreichs in der Welt“, das die Nation in den Augen eines Nationalisten zwar verdient, jedoch nicht mit Anbiederung, sondern mit selbstbewusstem Auftreten erreicht, wie ihm seine Gegner entgegnen. Nur Nationalisten leuchtet es ein, dass man „stärker“ sein will, denn sonst ergäbe sich die Frage, wobei oder für welchen Zweck denn Stärke erforderlich sei. Auch der Hinweis darauf, dass „wir“ nur gemeinsam Österreich sind, unterstellt überzeugte Nationalisten, die nicht die Nation spalten und dadurch gefährden wollen, die für eine starke Nation auf die Durchsetzung ihrer privaten Interessen verzichten. In ähnlicher Weise war es bei den Nazis strafbar, am militärischen Erfolg zu zweifeln, weil dadurch der Siegeswille zersetzt werde, von dessen Unerschütterlichkeit dieser Erfolg abhänge.

Um die geistige Verfassung der bürgerlichen Öffentlichkeit ist es so schlimm bestellt, dass diese Beschwörungen einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, wie sie auch die Nazis mit ihrer „Volksgemeinschaft“ betrieben haben, tatsächlich als Kennzeichen einer linken Gesinnung gilt. Während die Linke ursprünglich auf Klassengegensätze hinwies und den Fehler kritisierte, diese würden in einer nationalen Gemeinschaft aufgehoben werden, versteht sich das genaue Gegenteil davon heute als linke Politik. Den Rechten wird daher vorgeworfen, Gräben in dieser an sich harmonischen Gemeinschaft aufzureißen, indem sie „irrationale Ängste“ schüren und dadurch der Nation schaden würden. Die Rechten wiederum sehen den nationalen Zusammenhalt durch eine übermäßige Migration ge-, wenn nicht zerstört, die dazu geführt habe, dass sich zu viele Ausländer auf dem Staatsgebiet aufhalten, die mit allen möglichen erlaubten und unerlaubten Mitteln – vom betrügerischen Ausnutzen sozialer Leistungen bis hin zum gewaltsamen Raub – die Nation ausnutzen und schwächen würden. Die Rechten betrachten eine dem Ausland gegenüber willfährige Nation als Zeichen der Schwäche, wofür eine unerwünschte Migration ein untrügliches Zeichen darstelle. Das ist auch der Grund, weswegen die von Armut betroffenen Massen sich eher den Rechten als den Linken zuwenden, denn so können sie daran festhalten, dass eine recht verstandene nationale Führung sich für ihre Bürger einsetzen, daher gegen das Ausland durchsetzen, also auch gegen unerwünschte Ausländer vorgehen würde. Sie glauben sich hier in Übereinstimmung mit der Obrigkeit, während sie von Linken hören würden, dass sie sich der Herrschaft dieser Obrigkeit widersetzen, ihren Gehorsam kündigen müssten. Sonst würde ihre Existenz weiterhin genauso wie die der ausländischen Hungerleider dies- und jenseits der Grenzen davon abhängen, inwiefern sie dem Kapitalwachstum und damit dem nationalen Reichtum dienen.

Von den mondänen Linken hören sie dagegen, dass die recht verstandene nationale Stärke sich des Auslandes zu bedienen weiß und es nicht nötig hat, sich gegen dieses abzuschotten. Der Unterschied zwischen Rechten und Linken besteht also in diesem Verhältnis zum Ausland und zu Ausländern. Die hier vorhandenen Interessensgegensätze werden von den Linken geleugnet. Als Schuldige für die aus diesen Gegensätzen entspringenden Konflikte werden die irrationale Ausländerfeindlichkeit und die Hetze sogenannter „Ewiggestriger“ ausgemacht, weil es ja in der gegenwärtigen Realität solche Gegensätze nicht geben könne. Wenn Ausländer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben ein fremdes Staatsgebiet aufsuchen, auf dem sie die nationale Obrigkeit jedoch nur dann duldet, wenn diese dem nationalen Reichtum dienen, so sind Gegensätze zwischen diesen Parteien allerdings unvermeidbar. Daraus könnte man ja auch auf die Notwendigkeit einer Kritik der Nation und des auf Gewalt gegründeten „völkischen“ Zusammenhangs ihrer Bürger schließen. Schließlich ist es ein Fehler, wenn man sich für die nationale Selbstbehauptung starkmacht und einsetzt, die von der Masse ihrer Bürger ebenso wie von zuwanderungswilligen Ausländern Leistungen verlangt, von denen allein die nationalen Eliten einen Nutzen haben. Auf solche Klassenwidersprüche hinzuweisen und gegen den Fehler zu argumentieren, diese seien in der sozialstaatlichen Verwaltung der Armut aufgehoben, war ursprünglich linke Politik. Heutzutage besteht offiziell als „links“ deklarierte Politik in der Leugnung solcher Konflikte, die daher nur von außen geschürt und eine Spaltung der Gesellschaft hervorrufen würden, die es ohne diese rechten Störenfriede gar nicht gäbe – gegen die sich Linke daher zu jedem Gewaltakt moralisch berechtigt sehen, um den Frieden ihrer schönen Klassengesellschaft wiederherzustellen. Insofern ist es wirklich eine „Ungerechtigkeit“, wenn Van der Bellen von einigen seiner Gegner als „Kommunist“ hingestellt wird, das ist er mit Sicherheit nicht – da hat er schon mehr mit den Nazis und ihrer Beschwörung der nationalen Einheit in der „Volksgemeinschaft“ gemeinsam.

Psychologie-Diskussion

7. 9. 2016

„Wären Handlungen arbiträr, d. h. würden nur auf die nicht weiter zurückführbaren Größen ‚Willen‘ und ‚Bewusstsein‘ beruhen, dann wäre auch der historische Materialismus hinfällig“,[1] lautet der Einwand von Michael Zander gegen Albert Krölls‘ Kritik der Psychologie. Von dem Grammatikfehler dieses Satzes abgesehen, findet sich hier meines Erachtens der grundlegende Fehler der Protagonisten des psychologischen Determinismus. Ist das Handeln nicht determiniert, so lässt es sich nicht erklären, meinen sie. Sobald man beim Handeln jedoch von Willen und Bewusstsein spreche, würde man umgekehrt willkürlich – arbiträr – verfahren, also wäre das menschliche Handeln willkürlich, unerklärbar, irrational, wenn man mit diesen Begriffen operiere. Das Handeln könne nur dann erklärt werden, wenn es determiniert sei. Wäre es aber nicht determiniert, so wäre es arbiträr, beliebig und keiner Erklärung zugänglich.

Wille und Bewusstsein sind aber trotz ihrer relativen Freiheit, die sich negativ auch in Fehlurteilen und Ideologien betätigt, keine abstrakten Wesenheiten, die willkürliche Inhalte produzieren. Das Handeln der Menschen ist keinem Instinkt unterworfen, es beruht auf Urteilen und Überzeugungen, die zwar unterschiedlich sein können, aber dennoch eine argumentative Logik aufweisen und dadurch auch einer Veränderung zugänglich sind. Wenn nun bürgerliche Menschen falsche Urteile über die bürgerliche Gesellschaft aufweisen, so nicht deswegen, weil die bürgerliche Herrschaft auch ihr Denken determinieren würde. Es verhält sich vielmehr so, dass sie in dieser Gesellschaft erfolgreich sein wollen und sich die Urteile über diese Gesellschaft entsprechend zurechtlegen. So halten sie daran fest, dass es doch nur an ihrem Arbeitseinsatz und ihrer Leistungsfähigkeit liege, ob sie erfolgreich sind, und stellen eher sich selbst als diese Gesellschaft in Frage, wenn der Erfolg trotz allen Bemühens ausbleibt. Umgekehrt müssten sie nämlich hinnehmen, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Einrichtung für ihre Zwecke ist und für den Großteil ihrer Mitglieder ziemlich trostlose Perspektiven enthält. Anstatt sich hier zumindest geistig beheimatet zu fühlen, müssten sie zu Gegnern der bürgerlichen Gesellschaft werden und sich der Häme einer Mehrheit stellen, die sie deswegen als weltfremd belächelt etc.

Wenn das menschliche Handeln seinen Ausgangspunkt in Wille und Bewusstsein der Handelnden hat, so ist es deswegen also noch lange nicht arbiträr, umgekehrt aber auch nicht determiniert. Es hängt vielmehr von den Einsichten der Menschen in ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ab, welche Urteile sie darüber fällen und welche Ziele sie sich setzen. Diese Urteile sind zwar nicht determiniert, weisen aber eine mehr oder weniger logische Konsistenz auf, weswegen sie auch keineswegs als „arbiträr“ bezeichnet werden können. Diese Logik ist es nun wiederum, die Wille und Bewusstsein durch Kritik angreifbar macht, was bei vollkommen willkürlichen, jeder Logik baren Urteilen unmöglich wäre.

[1] http://www.i-v-a.net/index.php/blog/Mit-Kritikern-des-psychologischen-Determinismus-diskutiert-man-nicht, zuletzt aufgerufen am 7. 9. 2016. Diese Aussage findet sich am Ende des 5. Absatzes von unten in dem verlinkten Artikel.

Was weiß denn das „Profil“ über Wirtschaftsflüchtlinge?

5. 9. 2016

In der Ausgabe Nr. 34 vom 22. 8. 2016 beschäftigt sich die Wochenzeitschrift „Profil“ auf den Seiten 32 und 33 mit dem Begriff des Wirtschaftsflüchtlings. Es soll geklärt werden, welche Gedankengänge dazu führen, dass eine Person als Wirtschaftsflüchtling bezeichnet wird. Die erste Bestimmung, zu der das Profil dabei kommt, lautet: „Einer, der aus Armut weggeht, statt vor Krieg zu fliehen.“ (S. 32, vorletzter Absatz der linken Spalte) Üblicherweise wurde allerdings der politisch unterdrückte Flüchtling vom Wirtschaftsflüchtling unterschieden, mit dem Kriegsflüchtling, den das „Profil“ hier erwähnt, hat dieser allerdings gemeinsam, dass er vor Zuständen flieht, die ihm die Gestaltung seines Lebens unmöglich machen. Wer sich politischer Verfolgung ausgesetzt sieht, kann sich ebenso wenig als wirtschaftliches Subjekt betätigen wie jemand, der dem Kugelhagel im Krieg ausgesetzt ist. Leib und Leben solcher Personen sind unmittelbar bedroht. Anders verhält es sich hingegen bei Armut. Diese ist nur dann als Fluchtgrund anerkannt, wenn sie die Folge davon ist, dass man sich aus den eben erwähnten Gründen nicht als wirtschaftliches Subjekt betätigen kann. Würde man Armut ohne diese Einschränkung als Flucht- oder Migrationsgrund akzeptieren, würde man sich nach Auffassung der maßgeblichen Mächte wohl auch einer kaum noch zu bewältigenden Masse von Flüchtlingen gegenübersehen. Umgekehrt folgt daraus, dass überall dort, wo die Freiheit zu wirtschaftlicher Betätigung besteht, es jeder in der Hand hätte, durch seine Leistungsfähigkeit sein Leben zu gestalten und Armut zu überwinden. So sieht das jedenfalls der bürgerliche Sachverstand und wird auch an der massenhaften Erscheinung von Armut nicht irre, die mit dieser vermeintlichen Freiheit einhergeht. Schließlich handelt es sich bei dieser um die Freiheit des Eigentums, die sich für den Großteil der Menschen darin erschöpft, sich für dieses Eigentum nützlich zu machen. Werden ihre Dienste nicht benötigt, müssen sie sehen, wo sie bleiben, und kommen mittlerweile in großer Anzahl nach Europa.

Gemäß dem Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft ist unter der Herrschaft der bürgerlichen Freiheit jeder selbst für sein Leben verantwortlich und daher selbst schuld, wenn er im „Leistungswettbewerb“ versagt. Wenn er sein Leben verbessern will, hat er dies selbst in der Hand und muss sich nur entsprechend anstrengen, lautet daher in diesem Fall die Schlussfolgerung. Dieser Gedanke verbietet daher von vornherein die Anerkennung von Migration aus wirtschaftlichen Motiven, wenn diese nicht gemäß bürgerlichen Interaktionsformen stattfindet, sondern sie muss durch den Markt vermittelt sein, wenn etwa ein reicher Ausländer Geld investiert oder jemand mit weniger Finanzkraft wegen seiner Arbeitskraft erwünscht ist. Der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings widerspricht dem Gedanken bürgerlicher Freiheit, welchem zufolge man sein Schicksal selbst in der Hand hätte. Daher ist es für das bürgerliche Selbstverständnis zumindest erklärungsbedürftig, wenn sich jemand zur Flucht genötigt sieht. Da müssen schon besondere Umstände in Form von despotischen politischen Systemen oder Kriegen herrschen, weil durch diese die Voraussetzungen für eine freie wirtschaftliche Betätigung außer Kraft gesetzt werden, damit eine Flucht vom bürgerlichen Sachverstand anerkannt wird. Flucht hat wie jede andere Migration allerdings zum Ausgangspunkt, dass jemand deswegen eine Ortsveränderung vornimmt, weil er seine Lebensumstände verbessern will, unabhängig davon, ob er davor bedrohlichen, elenden oder nur weniger günstigen Umständen ausgesetzt war. Keineswegs zufällig spricht das „Profil“ hier von Armut und nimmt auf diese Weise bereits eine Einschränkung in der Anerkennung von Fluchtursachen vor, denn wenn man dem Bedürfnis „bloß“ nach einem besseren Leben stattgeben würde, müsste man gleich die herrschende Weltordnung außer Kraft setzen bzw. jede Migration zulassen, was auf das Gleiche hinauslaufen würde.

Dieser einfache Gedanke, ein besseres Leben zu erhalten, ist allen Flucht- oder Migrationsmotiven gemeinsam. Deswegen fällt dem Autorenkollektiv (? – ich finde keine Zuordnung dieses Artikels zu Personen) des „Profil“ auch als Nächstes ein, dass eigentlich auch ganz normale Arbeitsmigration mit Wirtschaftsflucht gleichzusetzen sei, da auch hier das gemeinsame Motiv in der Suche des wirtschaftlichen Vorteils bestehe. Sogar den Europäern, die nach Amerika gingen und die USA aufbauten, schreibt das „Profil“-Kollektiv dieses Motiv zu. Entgangen ist ihm hierbei jedoch der wesentliche Unterschied, dass es sich hier um legale Migration handelt, die ganz gemäß den üblichen Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet: Die Altenpflegerin aus Osteuropa verdient sich hier ihren Lebensunterhalt durch Arbeit und hat keinerlei Anspruch auf irgendeine Mindestsicherung. Die Pioniere der USA mussten ihre Leben selbst bestreiten, es gab dort keinerlei Sozialstaat, der sie versorgt hätte, und keine Staaten, die ihnen den Zugang verwehren hätten können, wie die Indianerkriege gezeigt haben. Ganz anders verhält es sich bei Migranten aus dem asiatischen und afrikanischen Raum, die aus welchen Gründen auch immer nach Europa drängen: Auf sie warten Grundversorgung und nach Anerkennung ihres Asylgesuches Mindestsicherung. Und auch wenn das „Profil“ noch so sehr der Überzeugung ist, dass das ganze Streben dieser Migranten in Wirklichkeit darin bestehe, genau wie die Altenpflegerin aus Osteuropa ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sehen das die meisten Bürger, die kaum mehr verdienen als die Grundsicherung, keineswegs so. Diesen gilt als Wirtschaftsflüchtling eine zu eigener Leistung unwillige Person, die sich durch Missbrauch des Asylrechts den Zugang zu bequemen sozialstaatlichen Versorgungssystemen zu erschleichen sucht. Zwar ist die so erlangte Mindestsicherung im Allgemeinen so gering, dass sich ein „Profil“-Journalist in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen könnte, davon zu leben, aber für Menschen aus Elendsgebieten ist sie immer noch besser als alles, was ihnen in ihren Herkunftsländern geboten wird, die von Krieg und dessen Folgen sowie von wirtschaftlichem Ruin geprägt sind.

Da solche Menschen nur als Asylwerber legal nach Europa gelangen können, stellt das „Profil“ richtig fest, dass immer zwischen legaler und illegaler Migration unterschieden wird, wie dies in der Unterscheidung zwischen politischem und wirtschaftlichem Flüchtling zum Ausdruck kommt, solange es ein Asylrecht gibt – klar, sonst könnte man ja gleich jede Migration zulassen. Zugleich stößt es sich in seinem Rechtsbewusstsein daran, dass hier keine deutlichen Unterscheidungen existieren, da auch Menschen vor Armut flüchten, die eine Folge von politischer Repression oder Kriegen, wenn auch nicht unmittelbar davon verursacht oder bestimmt ist. Und solchen Menschen wenigstens, deren Armut die Folge außergewöhnlicher, nicht der imperialistischen Normalität entsprechender Umstände von politischen Machenschaften oder Kriegen ist, will das „Profil mit dem Asylrecht versorgt wissen. Wenn man schon keine Einwände gegen die Weltordnungskriege des Westens hat, will man wenigstens die davon betroffenen Menschen einer asylrechtlichen Betreuung zugeführt sehen, damit deren Schädigung nicht den kriegstreibenden Mächten angelastet wird. Deswegen will das „Profil“ wissen, „wo die jeweilige Person herstammt“ (S. 32, vorletzte Zeile), um jene Flüchtlinge zu finden, die trotz ihrer Flucht vor Armut keine Wirtschaftsflüchtlinge sein sollen. Dadurch will „Profil“ die in letzter Instanz politisch anerkannten Fluchtursachen feststellen und hadert mit einem in dieser Hinsicht unzureichend ausgestalteten Asylrecht. Dem Redaktionskollektiv ist offensichtlich unklar, dass die politische Funktion des Asylrechts Ermessensspielräume benötigt, um je nach Bedarf der Anerkennung politisch genehmer und der Abweisung unerwünschter Flüchtlinge zu dienen. Nur deswegen hängt es vom Herkunftsland ab, ob jemandem ein Asylrecht „zusteht“, und nicht von der tatsächlichen Lebenssituation eines Asylwerbers. Näheres dazu findet man in meinem Buch „Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung“.

Bundespräsidentenwahl 2016 in Österreich

31. 5. 2016

In Österreich kam es anlässlich der Wahl des Bundespräsidenten 2016 zu einer Lagerbildung. Angeblich stand eine Entscheidung zwischen links und rechts an, wobei Alexander Van der Bellen für eine linke, Norbert Hofer hingegen für eine rechte Ausrichtung der Politik gestanden wäre. Unterschiede sind hier vor allem im Verhältnis zum Ausland auszumachen, nämlich zur EU und zu den Migrationsströmen, die Europa zu ihrem Ziel erkoren haben. Van der Bellen steht nach seiner Auffassung für ein „offenes“ Österreich, während Hofer dadurch die Souveränität der Nation gefährdet sieht und sich gegen Offenheit um jeden Preis ausspricht.

Damit spiegelt sich in den Positionen der beiden Konkurrenten um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten weniger ein Streit zwischen links und rechts wider, auch wenn das Van der Bellen noch so gerne so stilisieren möchte, um die Angst vor Rechtsradikalismus für seinen Wahlsieg zu instrumentalisieren, was ihm schließlich auch gelungen ist. Es handelt sich hier vielmehr um einen Streit, der die gesamte politische Elite in Europa derzeit betrifft. Die Funktionalität der Mitgliedschaft in der EU für den nationalen Erfolg ist nicht mehr über jeden Zweifel erhaben, wie das noch vor 20 Jahren der Fall gewesen ist. Während es damals hieß, man könne nur innerhalb der EU den Erfolg für die eigene Nation suchen und müsse dafür auf der Beschlüsse einwirken, so stellen sich derzeit vor allem die Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz die Frage, ob sie nicht außerhalb der EU mit der dadurch wiedererlangten nationalen Souveränität mehr Erfolgsaussichten hätten. Ein Streit um die nationale Erfolgsstrategie ist es also, der sich zwischen Befürwortern und Gegnern der EU-Mitgliedschaft abspielt, und kein Streit zwischen links und rechts. Wie dieser Streit sich entwickeln und welche Position sich hier durchsetzen wird, das hängt ganz von den künftigen nationalen Erfolgen und der Einschätzung der Erfolgsaussichten ab.

Es ist ohnehin eine Illusion zu glauben, dass es so etwas wie linke Politik gäbe. Schon der legendäre Ausspruch von Bruno Kreisky in der 1970er-Jahren, dass ihm ein paar Millionen Staatsschulden mehr lieber seien als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr, ist nichts weiter als linke Rhetorik gewesen. Schon damals wurden nicht Arbeitsplätze geschaffen, um damit die Arbeiter zu beglücken – auch wenn diese Heuchelei Kreiskys gerne ernst genommen und als fatale Schwäche der Demokratie ausgegeben wird, die wegen ihrer Abhängigkeit vom Wählerwillen davon absehen würde, nationale Notwendigkeiten zu durchzusetzen. Es waren vielmehr Investitionen in die Infrastruktur zur Modernisierung des Kapitalstandortes, die Kreisky mittels Staatsverschuldung finanzierte, und keine Programm zum Wohle der Arbeiter. Deswegen sind Staatsschulden ja auch nicht nur in Österreich zu dieser Zeit gewachsen, auch wenn bürgerliche Politiker diese gerne als Resultat sozialer Wohltaten einer verantwortungslosen sozialistischen Politik darstellen.

Derzeit gibt es eine solche linke Rhetorik im Verhältnis zur EU, zu den Migranten und zum Sozialstaat. Die Linken bezichtigen ihre Gegner der Absicht, den Sozialstaat auszuhöhlen, indem sie vorgeben würden, nur gegen sozialstaatliche Zuwendungen für Ausländer und Asylwerber aufzutreten. Der einzige Unterschied, den es hier tatsächlich geben mag, besteht darin, dass die Rechten lieber Sozialleistungen an Ausländer zurückhalten, damit nur ja nicht etwas davon in falsche Hände gerät, während die Linken hier weniger restriktiv sind, um nur ja nicht als ausländerfeindlich zu gelten oder die Funktionalität des Sozialstaates zu gefährden. Der Sozialstaat soll schließlich der Bereitstellung ausreichend qualifizierter und motivierter Arbeitskräfte dienen, die jederzeit für den Bedarf des Kapitals zur Verfügung stehen. Im Verhältnis zur EU sind es wie gesagt nur unterschiedliche nationale Berechnungen, die sich in mehr oder weniger Zustimmung zur oder Kritik an der EU darstellen, keineswegs jedoch ein Gegensatz von internationaler Offenheit und nationaler Engstirnigkeit, wie das Van der Bellen stilisiert hat.

Linke Politik ist im Übrigen immer nur linke Rhetorik, schließlich ist auch sie den Notwendigkeiten des Kapitalwachstums verpflichtet und kann diesem nicht seine Mittel entziehen, um sie für soziale Wohltaten einzusetzen, wenn sie weiterhin aus diesem Wachstum die Mittel ihres nationalen Reichtums beziehen will. Weshalb aber jemand an der Spitze der Staatsgewalt dieses Verhältnis aufheben und das gesellschaftliche Leben von seiner Ausrichtung auf kapitalistisches Wachstum und nationalen Erfolg emanzipieren sollte, ist nicht einzusehen, beruht auf diesem Verhältnis doch auch seine soziale Stellung. Spätestens dann, wenn sie trotz der offensichtlichen Nützlichkeit dieses Verhältnisses für ihre soziale Position an linken Parolen festhalten, erweisen sich Sozialdemokraten und Grüne als billige Heuchler. Dies trifft natürlich auch auf Menschen zu, die einen Gegensatz von Offenheit und Kleingeistigkeit behaupten, wo es um nichts als Nationalismus und dessen Erfolgsstrategien geht.

Aus meinem Tagebuch

23. 5. 2016

Eurovision-Songcontest 2016

Der Eurovision-Songcontest wurde also von der Ukraine dank eines antirussischen Liedes gewonnen. Darin wird auf die Deportation der Tataren von der Krim im Jahr 1944 angespielt. Diese Deportation erfolgte, nachdem die Krim-Tataren mit den Nazis kollaboriert hatten. Man stelle sich vor, Deutschland wäre mit einem Lied über die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland angetreten, die nach dem Zweiten Weltkrieg wegen ihrer Kollaboration mit den Nazis durchgesetzt wurde.

Darüber hinaus enthält das Siegerlied der Ukraine eine offen fremdenfeindliche Zeile: „Wenn Fremde kommen, kommen sie zu eurem Haus, sie töten euch und sagen: ‚Wir sind nicht schuldig.’“[1] Man stelle sich eine solche Meldung einmal im Zusammenhang mit der Migrationswelle vor, die seit Sommer 2015 nach Europa drängt.

[1] http://www.oe24.at/kultur/song-contest/Ukraine-siegte-Die-Russen-sind-ausser-sich/235737665, aufgerufen am 16. 5. 2016

Ein unnötiges Buch?

Albrecht Koschorke hat ein Buch herausgebracht, das Hitlers „Mein Kampf“ nicht inhaltlich, sondern im Hinblick auf seine Kommunikationsstrategie untersucht. „Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘ – Zur Poetik des Nationalsozialismus“ lautet der Titel. Es will herausfinden, wie Hitler seine Leser ansprach, um sie für sich zu gewinnen. Diese Veröffentlichung beansprucht, „aufs Neue den furchtbaren Erfolg der ›Bibel der Nazis‹ zu ergründen“, der so groß aber gar nicht gewesen sein kann, nachdem es ein paar Zeilen danach heißt, dass „das Buch trotz enormer Verbreitung kaum gelesen wurde“.[1] Es ist schon eigenartig, wie hier ein Buch mit einem offensichtlichen Widerspruch beworben wird.

[1] http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/adolf-hitlers-mein-kampf.html, aufgerufen am 16. 5. 2016

Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck!

Neulich in der Straßenbahn: Eine Mutter sichert ihr Kind im Wagen nicht, das Kleinkind steht darin auf, es ist weder im Wagen gesichert, noch ist der Wagen selbst gesichert. Daraufhin wird sie von einer Dame um die 70 zurechtgewiesen, gewiss nicht in freundlichem Ton. Eine Dame zwischen 40 und 50 Jahren mischt sich ein: „Was schimpfen Sie denn so.“ Nach Aufklärung der Älteren über die Ursache ihrer Verärgerung erwidert sie: „Das ist doch nicht Ihr Problem.“ Danach sieht sie sich nach Bestätigung heischend um.

Ja, so sind die bürgerlichen Menschen. Wenn man sie kritisiert, heißt es: „Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck!“ Sobald sie aber  – etwa genau deswegen – im Dreck liegen, beklagen sie sich, dass sich keiner um sie kümmert.