2025
Ayn Rands Formierung eines rationalen bürgerlichen Subjekts
27. 4. 2025
1. Altruistische Moral – Negation des Eigennutzens
Ayn Rand kritisiert den Altruismus als Herrschaft einer zynischen Opfermoral. Er gilt ihr als Nachwirkung einer Stammesmoral, in der kein Mensch in der Lage war, sein Leben selbst zu gestalten, weshalb die Erhaltung der Gemeinschaft wichtiger war als die Lebenserhaltung des Einzelnen. Die bisherige Philosophie hält aber an diesem Altruismus selbst dann noch fest, als keine Stammesgesellschaft mehr existiert, für die er eine Notwendigkeit war. Selbst im Zeitalter der Aufklärung gilt Altruismus als Prinzip einer vernünftigen Moral, wie sich an Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer zeigen lässt.
Für Kant bedarf die Moral der Vernunft als ihrer Basis, denn was die Menschen von Natur aus tun, dient nur ihrem Eigennutz. Eigennütziges Verhalten kann aber anderen Menschen zum Schaden gereichen, deswegen müsse jeder prüfen, ob die von ihm in Erwägung gezogenen Handlungen auch allgemein gültig sein könnten oder ihm schaden würden, wenn er nicht deren Subjekt, sondern ihr Objekt wäre. Da aber eine Handlung einem allgemeinen Gesetz genügen und dennoch eigennützig sein kann, ist das Kriterium ihres moralischen Gehalts, dass sie frei von jeglichem persönlichen Interesse ist. Nicht der geringste Nutzen für die handelnde Person darf einer Handlung beigemischt sein; nur solche Handlungen, zu welchen ein Mensch keinerlei Neigung hat, die er daher wegen ihrer Vernunft vollzieht, haben einen moralischen Wert. Eigennützige Handlungen sind zwar nicht von vornherein amoralisch oder unmoralisch im Sinne von verwerflich, aber sie können keinen moralischen Wert beanspruchen, weil sie auch ohne moralische Gesinnung, allein wegen ihres subjektiven Nutzens stattfinden würden. Solche Handlungen können zwar pflichtgemäß sein, solange sie aber nicht aus Pflicht geschehen, also nicht auf reinem Pflichtbewusstsein beruhen, sind sie zwar nicht tadelnswert, besitzen aber keine moralische Qualität. Die folgende Aussage Kants ist hierzu ganz eindeutig: „Dagegen, sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen innern Wert, und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet, als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht, und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“[1]
Wenn die eben erwähnte Lebenserhaltung oder eine Handlung uns zwar unangenehm ist, wir aber dennoch daran festhalten sollen, weil die Vernunft uns dazu verpflichtet, dann ist es kaum erstaunlich, dass sich auf diese Weise ein unbehagliches, mühseliges Leben voller Leiden und Schmerzen einstellt. Auch das ist Kant nicht verborgen geblieben, er stellt daher fest: „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann (…).“[2] Nur ein Masochist könnte sich mit dieser Wirkung anfreunden, die hier geradezu als ein Merkmal moralisch bestimmten Handelns gilt. Umgekehrt müssten sich immer Zweifel an der moralischen Qualität einer Handlung einstellen, wenn sich diese nicht im Widerspruch zu den persönlichen Neigungen befinden und die entsprechenden Schmerzen daher ausbleiben würden. Neurotische Erkrankungen, die Sigmund Freud dem Widerspruch von Es und Über-Ich zugeschrieben hat, entstehen demnach aus dem Gegensatz von Neigung und Pflicht und dürfen zudem als Indiz für die Erfüllung der moralischen Ansprüche von Selbstlosigkeit und Altruismus gelten.
Schopenhauer setzt nicht wie Kant auf die Vernunft als Quelle der Ethik, sondern auf die Triebfeder des Mitleids, das sich ganz spontan bei allen Menschen angesichts fremden Leids regen kann. Da dies ein Wesenszug ist, der in der menschlichen Natur angelegt ist, auch wenn er zunächst in dieser nur schlummert, besteht hier ein Potential, dessen Erweckung, Förderung und Entwicklung zu moralischem Verhalten führt. Hierbei kann die Vernunft zwar als Mittel dienen und hilfreich sein, würde Moral jedoch allein auf Vernunft beruhen, also nur durch Vernunft bestimmt sein, so wäre sie zu praktischer Unwirksamkeit verdammt. Als Fundament oder Basis der Moral kann hingegen die spontane Triebfeder des Mitleids fungieren, weil diese genauso wie die übrigen menschlichen Triebe und Motive der menschlichen Natur angehört. Somit tritt an die Stelle von Kants Vernunftethik Schopenhauers Mitleidsethik. Kant folgt Schopenhauer jedoch darin, dass der moralische Wert einer Handlung sich im Altruismus zeige und keinerlei Bezug zum Interesse des handelnden Subjekts aufweisen dürfe: „Daher eben die Entdeckung eines eigennützigen Motivs, wenn es das einzige war, den moralischen Wert einer Handlung ganz aufhebt und, wenn es akzessorisch wirkte, ihn schmälert. Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Kriterium einer Handlung von moralischem Wert.“[3] Positiv ausgedrückt ist die Abwesenheit aller egoistischen Motive dann gegeben, wenn der Zwecke einer Handlung ausschließlich altruistischer Natur ist, wie Schopenhauer weiter ausführt: „Dieser Zweck allein drückt einer Handlung oder Unterlassung den Stempel des moralischen Wertes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines andern geschehe oder unterbleibe.“[4]
2. Kritik des Altruismus
Im Unterschied zu Kant gilt für Schopenhauer nicht mehr das eigene Leiden als Indiz dafür, dass eine Handlung moralisch bestimmt ist, sondern das fremde. Mit anderen Menschen Mitleid zu empfinden, deren Leid zu vermeiden oder durch Anteilnahme und Hilfe zu verringern, macht nun den moralischen Wert einer Handlung aus. Ohne Leid kann es in dieser Welt daher keinen moralischen Wert geben, weswegen umgekehrt zufriedene Menschen den Nachteil aufweisen, nicht zur Demonstration der eigenen moralischen Vortrefflichkeit geeignet zu sein. Schopenhauer stellt in diesem Sinne fest: „Die unmittelbare Teilnahme am andern ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht, wenigstens nicht direkt, auch durch sein Wohlsein erregt: sondern dieses an und für sich läßt uns gleichgültig.“ Oft bleibt es allerdings nicht bei einer gleichgültigen Reaktion, sondern es „kann der Anblick des Glücklichen und Genießenden rein als solchen sehr leicht unsern Neid erregen“.[5] Wenn jemand Beistand braucht, dann ist schließlich die Person, die ihm diesen gewährt, sich ihrer Bedeutung bewusst, umgekehrt darf sie sich nicht so wichtig fühlen, wenn dieser Beistand nicht erforderlich oder erwünscht ist. Nietzsche stellt daher in aller Deutlichkeit fest: „Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen haben sie nichts zu tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen deshalb leicht Missvergnügen.“[6]
Aber nicht nur der Demonstration moralischer Gesinnung kann zur Schau gestelltes Mitleid dienen, sondern auch der Demütigung einer des Mitleids bedürftigen Person, wie bereits Nietzsches Aussage einer sich im Mitleid darstellenden „Überlegenheit“ andeutet. So kann vorgetäuschtes Mitleid die Verhöhnung des leidenden Menschen bezwecken; die scheinbar mitleidige Handlung kann also auf den Schaden der von ihr betroffenen Person aus sein, sie erweist sich dann als Boshaftigkeit und Grausamkeit. Laut Schopenhauer gibt es mehrere Möglichkeiten für einen böswilligen Einsatz des Mitleids, „z. B. wenn ich einem wohltue, um einen andern, dem ich nicht wohltue, zu kränken oder ihm sein Leiden noch fühlbarer zu machen; oder auch um einen Dritten, der demselben nicht wohltat, zu beschämen; oder endlich um den, dem ich wohltue, dadurch zu demütigen“.[7]
Mitleid bedarf also zum einen des Leids anderer Menschen, um überhaupt wirksam zu werden, zum anderen beweist es nicht von vornherein ein gütiges oder wohlwollendes Verhalten, sondern kann auch umgekehrt böswilligen Absichten dienen. Soll die Handlung des Mitleids hingegen keinerlei Nutzen für die handelnde Person haben, so wird der Altruismus zur Opfermoral, die den Einsatz des eigenen Lebens zum Wohle anderer Menschen verlangt. Und wenn schon nicht das eigene Leben gefordert ist, um die moralische Qualität einer Person zu bezeugen, so muss diese zumindest im Widerspruch zu ihren Neigungen handeln, wie uns Kant erklärt hat, denn ein Mensch, dessen Handlungen nicht im Kampf mit seiner Natur liegen, folgt nur Letzterer und kann daher keinen Anspruch auf Tugendhaftigkeit erheben.
Gemäß dem Altruismus haben nur negativ bestimmte Handlungen moralischen Wert. Sie müssen die eigenen Interessen und das Leid anderer Menschen negieren, eigenes Leid ist hingegen sogar ein Indiz für die moralische Qualität meiner Handlungen, wenn auch immerhin nicht deren Kriterium. Dafür reicht es nämlich aus, dass Handlungen frei von jeglichem eigenen Interesse sind, weswegen wiederum Schmerzen und somit eigenes Leid laut Kant ziemlich wahrscheinlich damit verbunden sind. Angesichts dieses Wesenszugs altruistischer Moral hat Ayn Rands Kritik des Altruismus einiges für sich. Auch ihr ist aufgefallen, dass dieser ein Leben voller Leid voraussetzt, dessen Linderung er sich widmen kann: „A morality that holds need as a claim, holds emptiness—nonexistence—as its standard of value; it rewards an absence, a defect: weakness, inability, incompetence, suffering, disease, disaster, the lack, the fault, the flaw—the zero.“[8] Wie Nietzsche stellt sie über die Mitleidigen fest, dass diese das Leid beflügelt: „When no actual suffering can be found, the altruists are compelled to invent or manufacture it.“[9]
Bereits der Ausgangspunkt des Altruismus ist für Ayn Rand irrational, denn weshalb soll eigentlich das Wohl anderer Menschen mehr gelten als das eigene: „Why is it moral to serve the happiness of others, but not your own? If enjoyment is a value, why is it moral when experienced by others, but immoral when experienced by you?“ Und warum sollte die Forderung, andere Menschen mögen sich altruistisch verhalten, nicht genau dem Egoismus jener dienen, die diese Forderung aufstellen? „Why is it immoral for you to desire, but moral for others to do so? Why is it immoral to produce a value and keep it, but moral to give it away? And if it is not moral for you to keep a value, why is it moral for others to accept it?“[10] In dieser Kritik des Altruismus stimmt Ayn Rand mit Nietzsche überein, der bereits die Heuchelei der altruistischen Moral bloßgestellt hat: „Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der ‚Nächste‘ lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat!“[11]
3. Rationaler Egoismus
Die Forderung altruistischen Verhaltens entspricht also dem Egoismus einer Person, die entweder unfähig oder unwillig ist, für sich selbst zu sorgen, und die Selbstlosigkeit und Altruismus deswegen lobt, weil ihr andere Menschen diese Aufgabe abnehmen sollen. Wie kommt es nun aber dazu, dass dieser sich verstellende Egoismus als moralisch beurteilt wird, während der unverblümte, ehrliche Egoismus als unmoralisch gilt? Das liegt zunächst daran, dass Egoismus als selbstverständliche, natürliche Haltung jedes Menschen gilt, wie wir das an Kants Beispiel der Lebenserhaltung gesehen haben: Zur Erhaltung seines Lebens habe jeder Mensch die Neigung, daher habe diese nur dann einen moralischen Gehalt, wenn sie trotz eines durch Leid unerträglich gewordenen Lebens praktiziert werde. Darüber hinaus gilt Egoismus nicht nur als von Natur her gegebene Haltung, die zu praktizieren kein Verdienst ist, sondern auch als Negation der Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen. Diesen sei ein Egoist zumindest gleichgültig, wenn nicht feindlich gesinnt, deren Leid bekümmere ihn nicht, weswegen umgekehrt der sich dessen annehmende Altruist moralische Wertschätzung genießt. Es ist also eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Egoismus, die dessen Geringschätzung hervorruft und die Ayn Rand als irrationalen Egoismus kritisiert, demzufolge „to injure, enslave, rob or murder others is in man’s self-interest – which he must selflessly renounce“.[12]
Die Menschen gelten diesem Egoismus als Bestien von Natur aus, die sich permanent in die Quere kommen und einen allseitigen Krieg (Hobbes) heraufbeschwören würden; sie erscheinen als irrationale Wesen, die einen irrationalen Egoismus praktizieren, mit dem sie anderen schaden, wenn sie sich nicht selbst beherrschen, wie schmerzhaft das auch für sie wäre. Diese Selbstbeherrschung aber würde erst ein Zusammenleben der Menschen ermöglichen, auch wenn mit ihr das „Unbehagen in der Kultur“ verbunden sei. Diese lebensfeindliche Vorstellung, in der man entweder andere Menschen opfert oder selbst deren Opfer wird, zeigt sich in der lebensfeindlichen Moral Kants, die Ayn Rand sehr treffend in folgender Aussage kritisiert: „Only a vicious represser, who feels a profound desire to lie, cheat and steal, but forces himself to act honestly for the sake of “duty,” would receive a recognition of moral worth from Kant and his ilk.“[13] Diesen „Repressor“ hält der Altruismus für die unmittelbare Wahrheit des Egoismus, den er deswegen ablehnt. Für Ayn Rand ist dies allerdings ein irrationaler Egoismus, der seine Interessen nicht vernünftig bestimmt. Der Altruismus ist für sie im Grunde eine Erscheinungsform dieses irrationalen Egoismus, auch wenn sie das so nirgendwo ausspricht. Nietzsche lässt hier nichts an Deutlichkeit vermissen, wenn er den Altruismus zu einer heuchlerischen Form des Egoismus erklärt. Allerdings dreht er nun die Sache einfach um und setzt an die Stelle des heuchlerischen den sich offen bekennenden Egoismus, was bereits seine Schwärmerei von der „blonden Bestie“ bezeugt. Wenn der Mensch schon eine Bestie ist, dann soll er sich darüber auch nichts vormachen und den Willen zur Macht anerkennen, der sich darin offenbart und in dessen Dienst auch die Vernunft steht, die daher für Nietzsche keineswegs dem Egoismus zu einer rationalen Gestalt verhilft, sondern höchstens zu einer effektiven.
Nietzsche hebt die Dichotomie von Egoismus und Altruismus nicht auf, sondern setzt der Herrschaft des Altruismus jene des Egoismus entgegen. Er akzeptiert damit das Menschenbild des Altruismus und stellt sich auf die andere Seite, nämlich jenen irrationalen Egoismus, gegen den der Altruismus seine Notwendigkeit erklärt. Für solche Psychopathen, die statt ihrer selbst die anderen Menschen opfern, hat Ayn Rand nichts übrig: „The men who accept that dichotomy but choose its other side, the ultimate products of altruism’s dehumanizing influence, are those psychopaths who do not challenge altruism’s basic premise, but proclaim their rebellion against self-sacrifice by announcing that they are totally indifferent to anything living and would not lift a finger to help a man or a dog left mangled by a hit-and-run driver (who is usually one of their own kind)“.[14]
Der rationale Egoismus kennt keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen den Interessen der Menschen. Andere Menschen gelten ihm nicht prinzipiell als Feinde, sondern können auch im Sinne gegenseitiger Bereicherung zusammenwirken, wie dies allein durch die Arbeitsteilung geschieht. Während der Altruismus meint, um anderen Menschen von Nutzen zu sein, müsse man selbstlos handeln, sieht der rationale Egoismus die Möglichkeit gegenseitigen Nutzens, wie er in einem ganz banalen Tauschhandelsgeschäft zustande kommt. Der Altruismus unterstellt „that a man can have no personal interest in others – that to value another means to sacrifice oneself – that any love, respect or admiration a man may feel for others is not and cannot be a source of his own enjoyment, but is a threat to his existence, a sacrificial blank check signed over to his loved ones“.[15] Da andere Menschen nur Gegner der eigenen Zwecke seien, könne man sich an diesen auch nicht erfreuen. Um sich anderen Menschen zuzuwenden, müssten diese solcher Zuwendung bedürfen und würden diese nur von selbstlosen Altruisten erhalten. Niemand könnte also das persönliche Interesse erwecken, das in einem anderen Menschen eine Bereicherung des eigenen Lebens erblicken würde. Liebe aber ist keineswegs selbstlos, selbst wenn jemand sein Leben riskiert, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten, macht er dies nicht aus Selbstlosigkeit, sondern weil sein Leben durch den Verlust des Geliebten nicht mehr lebenswert wäre. Auch das hat Ayn Rand ganz klar und richtig gesehen, wenn sie verkündet, dass es nicht gerade schmeichelhaft für jemanden wäre, wenn dieser erführe, dass ihm nicht das Interesse an seiner Person Aufmerksamkeit verschafft, sondern das Mitleid mit seinem Bedürfnis nach dieser. Während Schopenhauer nur Mitleid als Ursache für die Hinwendung zu einer anderen Person anerkennt, ist dies bei der Liebe die Freude an deren Existenz. So stellt Ayn Rand unmissverständlich klar: „When you are in love, it means that the person you love is of great personal, selfish importance to you and to your life. (…) It is for your own happiness that you need the person you love, and that is the greatest compliment, the greatest tribute you can pay to that person.“[16]
Welche Besonderheiten muss aber eine Person aufweisen, um das Gefühl der Liebe zu erwecken? Selbstachtung ist dafür wohl eine Voraussetzung, denn eine sich selbst verachtende, in Selbstzweifeln verharrende und sich daher nicht entwickelnde Person könnte wohl höchstens Mitleid auslösen. Und Selbstachtung bedeutet, dass man um die Bedeutung des eigenen Lebens weiß und um die Notwendigkeiten, die zu Erhaltung und Entwicklung eines anregenden Lebens notwendig sind. Um dies zu erreichen, müssen die Menschen Gebrauch von ihrem Verstand machen und sich um die Erkenntnis der von ihnen unabhängig und objektiv gegebenen Welt bemühen. Ein rationaler Egoist ist des Interesses anderer wert, weil er sich der Mühe des Denkens unterzieht und dadurch die objektiv gegebenen Möglichkeiten der Welt zu seinem Nutzen zu verwenden und zu gestalten weiß. Er vollbringt jene Leistungen, die für ein gutes und interessantes Leben erforderlich sind, sei es in der Produktion innovativer Technik oder in der Pflege der Künste.
Da ein rationaler Egoist nicht von den Leistungen anderer Menschen leben, sondern eigenständig sein Leben durch seine Leistungen gestalten will, übernimmt er für sein Leben die Verantwortung. Der Altruist ist hierin genauso sein Gegenteil wie der irrationale Egoist, denn diese wollen von den Leistungen anderer leben und sie rücksichtlos für ihre Interessen benutzen – der Altruist, indem er die Sorge für seine Bedürfnisse zur moralischen Pflicht erklärt, der irrationale Egoist, indem er sich rücksichtlos mittels Gewalt fremder Leistungen und Güter bemächtigt.
4. Objektivismus
Ayn Rand nennt ihre Philosophie und ihre Ethik objektivistisch, weil sie die Bedeutung objektiver Wahrheit für die Lebenserhaltung betonen und sich vom Subjektivismus Nietzsches abgrenzen will, der sich z. B. in der Aussage zeigt, dass Wahrheit und Falschheit keine Rolle spielen würden, weil es nur auf den Nutzen ankäme: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist;“ schließlich wäre „Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens“.[17] Wie ein falsches Urteil nützlich sein soll, bleibt Nietzsches Geheimnis. Für Ayn Rand ist ein falsches Urteil alles andere als lebensfördernd, sondern gefährlich und lebensbedrohlich, wenn etwa eine falsche Heilungsmethode zum Einsatz käme, die eine Krankheit durch den Tod „heilen“ würde. Gerade weil das Leben der Menschen ihrer Anstrengungen bedarf, weil es darauf angewiesen ist, die Wahrheit einer von ihnen unabhängigen Realität zu erfassen, kann den Menschen nur die Wahrheit nützen. Das einzige Mittel zur Erfassung dieser Realität ist der menschliche Verstand, der in verbesserten Produktionsmethoden zur Anwendung kommt. Einen auf diese Weise sein Leben selbstverantwortlich und durch eigene Leistungen rational gestaltenden Menschen als Egoisten zu denunzieren, ist daher lebensfeindlich: „Since nature does not provide man with an automatic form of survival, since he has to support his life by his own effort, the doctrine that concern with one’s own interests is evil means that man’s desire to live is evil – that man’s life, as such, is evil.“[18]
Für das Überleben der Menschen ist es also wichtig, dass sie sich zutreffende Vorstellungen von ihrer Lebenswirklichkeit machen, daher muss ihnen die objektive Wahrheit wichtig sein. Objektivismus bedeutet also keineswegs, dass die Urteile der Menschen immer richtig sein müssen, ganz im Gegenteil, es ist immer möglich, sich zu irren, weshalb ein Mensch umso mehr zu schätzen ist, wenn er wahre Urteile erlangt. Genau jene Menschen, die sich solchen Anstrengungen unterziehen, trotz aller Rückschläge nicht aufgeben und weitermachen, schließlich auch noch erfolgreich sind, zeigen diese Haltung auch in ihrer Körperhaltung und ihrer Körpersprache, erscheinen deswegen als attraktiv und liebenswert. Die ihnen zugewandte Liebe ist daher eine Wertschätzung ihrer Person und ihrer Verdienste, weswegen die weibliche Hauptfigur in Ayn Rands Roman Atlas Shrugged sich auch nur mit solchen Männern einlässt. Der produktive Mensch ist auch kreativ, er erfreut sich seines Lebens, weiß um dessen Notwendigkeiten, legt seine Ziele entsprechend fest und verfolgt sie konsequent, genauso konsequent geht er auch in zwischenmenschlichen Beziehungen vor und seine Selbstachtung würde ihm verbieten, erst einmal um Erlaubnis zu fragen, wenn er sich einer Person mit sexuellen Absichten nähert.
Ein rationaler Egoist gibt sich nicht beliebigen Launen hin und ist daher sehr zielstrebig in der Verfolgung seiner Interessen: „Just as man cannot survive by any random means, but must discover and practice the principles which his survival requires, so man’s self-interest cannot be determined by blind desires or random whims, but must be discovered and achieved by the guidance of rational principles. This is why the Objectivist ethics is a morality of rational self-interest—or of rational selfishness.“[19]
5. Rationaler Egoismus und Kapitalismus
In aller Kürze folgen hier noch ein paar Bemerkungen über das Verhältnis des rationalen Egoismus zum Kapitalismus. Ayn Rand ist ja der Auffassung, dass sie mit ihrer Philosophie des Objektivismus und des rationalen Egoismus dem Kapitalismus endlich zu jenem philosophischen Fundament verhilft, das ihm bisher gefehlt und ihn auch angreifbar gemacht habe. Den Kapitalisten will sie damit ein angemessenes Klassenbewusstsein verschaffen, sodass sie sich nicht mehr vom Altruismus des Egoismus bezichtigen und Schuldgefühle auferlegen oder ein schlechtes Gewissen verschaffen lassen. Das kapitalistische Eigentum gilt ihr als Resultat der geistigen Errungenschaften herausragender Menschen, die mit ihren technologischen Innovationen den verdienten Ertrag erhalten und erfolgreicher als ihre Konkurrenten sind. Dass wissenschaftliche Forschung und deren kapitalistische Anwendung in Form neuer Produktionsmittel in der Regel kaum von einzelnen Menschen betrieben werden können, ficht sie nicht an. Auch den Umstand, dass wissenschaftliche Forschung zunächst einmal für einen mehr oder weniger langen Zeitraum nur Kosten verursacht und deswegen von staatlichen Institutionen betrieben wird, blendet sie aus.
Der rationale Egoismus hat einiges für sich, da er jede Gewalt zurückweist und für eine freiwillige, auf wechselseitigem Nutzen beruhende Zusammenarbeit der Menschen argumentiert, ganz so wie sich Marx die Assoziation freier Produzenten vorgestellt hat. Diese gewaltfreie Zusammenarbeit ist für Ayn Rand aber nur im Kapitalismus gegeben, denn da würden die Menschen über den Austausch von Leistungen zueinander finden, niemand würde andere zu diesen Leistungen zwingen können. Der Vertrag zwischen zwei Vertragspartnern, wie er in jedem Tauschgeschäft zur Geltung kommt, ist das Prinzip dieses rationalen Egoismus. Hier verhält sich Ayn Rand ignorant gegen den Fall, dass solche Vertragsbeziehungen auf Nötigung beruhen, wenn sie die Notlage eines Vertragspartners ausnutzen. Genau hier setzt ja die marxistische Kritik an, da Marx im Kapital selbst deutlich ausspricht, dass der Bereich des Tauschverhältnisses noch geradezu als ein wahres Eden der Menschenrechte erscheint, wenn man ihn mit dem Produktionsbereich vergleicht, in dem der seine Arbeitskraft gegen Lohn zur Verfügung stellende Bürger seine Haut zu Markte trägt und nichts anderes erwarten darf als die Gerberei.[20]
Ayn Rands Versuch einer Rationalisierung des Kapitalismus stellt letztlich nichts weiter als eine jener Utopien dar, die am real existierenden Kapitalismus alles ignorieren, was dem Ideal widerspricht, das sie sich von diesem machen. Die Sehnsucht nach dem rationalen Egoisten entspricht der Forderung nach dem neuen Menschen im realen Sozialismus. Um den Kapitalismus weißzuwaschen, erklärt Ayn Rand den Staat zum Übeltäter, der die Entfaltung der segensreichen Wirkungen des Kapitalismus verhindere, indem er das Kapital mit seinen Steuern ausbeuten und diese Praxis als Altruismus rechtfertigen würde. Jeder sei seines Glückes Schmied und nur faule sowie verwahrloste Bürger würden ihr eigenes Unglück erzeugen und dann auf den Altruismus als ihre Lebensgrundlage setzen. Würde der Altruismus des Sozialstaats diese Haltung nicht begünstigen, so wären diese Menschen genötigt, ihre Verwahrlosung zu überwinden.
Dabei ist Ayn Rand insofern Recht zu geben, als ganz gewiss nicht über ein revolutionäres Bewusstsein verfügt, wer vom Kapital verlangt, dass es auf seine Interessen Rücksicht nehme und die Verteilung des Profits zur Versorgung der Armen akzeptiere. Es wäre schon eher im Sinne eines rationalen Egoismus, Verhältnisse abzuschaffen, welche die auf Lohnarbeit angewiesenen Bürger vom Zugriff auf die Produktionsmittel ausschließen, der ihnen nur unter der Voraussetzung gestattet wird, dass ihre Arbeit deren Eigentümer reicher macht. Ein rationaler Egoismus wäre in einer kommunistischen Gesellschaft viel besser aufgehoben, wo eine altruistische Moral ohnehin überflüssig und sogar schädlich wäre. So machen „die [Ko]mmunisten weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend“, sondern offenbaren die „materielle Geburtsstätte“ dieses Gegensatzes, „mit welcher er von selbst verschwindet“.[21]
[1] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Kant-Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 198910, S. 23 (= BA 10)
[2] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Werke (herausgegeben von Wilhelm Weischedel):, Bd. 7, a. a. O., S. 192 f. (= A 129)
[3] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch (herausgegeben von Rüdiger Safranski), Kindle E-Book, Frankfurt am Main 2011, S. 237 f., siehe auch die beiden Schriften Schopenhauers: Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral (herausgegeben von Philipp Theisohn), Stuttgart 2013, S. 259
[4] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 241; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 263
[5] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 244 f.; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 266 f.
[6] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1, Nr. 321, in: Sämtliche Werke (herausgegeben von Siegfried König), Kindle E-Book, Nürnberg 2013, S. 561 f.
[7] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 253
[8] Ayn Rand: Atlas Shrugged, Kindle E-Book, New York 1996, S. 1032; Übersetzung: Eine Moral, die Bedürftigkeit für einen Anspruch hält, nimmt das Leere – Nicht-Existenz – als ihren Richtwert; sie belohnt eine Abwesenheit, einen Defekt: Schwäche, Unfähigkeit, Inkompetenz, Leiden, Krankheit, Unheil, den Mangel, den Fehler, den Makel – die Null.
[9] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, Kindle E-Book, New York 1986, S. 8; Übersetzung: Wenn kein gegenwärtiges Leid gefunden werden kann, sind die Altruisten genötigt, es zu erfinden oder herzustellen.
[10] Ayn Rand: Atlas Shrugged, a. a. O., S. 2031; Übersetzung: Warum ist es moralisch, dem Glück anderer zu dienen, aber nicht deinem eigenen? Wenn Genuss ein Wert ist, warum ist dieser moralisch, wenn er von anderen erlebt wird, aber unmoralisch, wenn von dir erlebt? – Warum ist es für dich unmoralisch zu begehren, aber für andere moralisch, dies zu tun? Warum ist es unmoralisch, etwas Wertvolles zu produzieren und zu behalten, aber moralisch, es wegzugeben? Und wenn es für dich nicht moralisch ist, etwas Wertvolles zu behalten, warum ist es moralisch für andere, es zu empfangen?
[11] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Erstes Buch, Nr. 21, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1159
[12] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 446; Übersetzung: (…) andere zu verletzen, zu versklaven, zu berauben oder zu ermorden entspricht dem Interesse eines Menschen für sich selbst – das er selbstlos aufgeben muss.
[13] Ebd., S. 131; Übersetzung: Nur ein bösartiger Unterdrücker, der ein tiefes Verlangen zu lügen, zu betrügen und zu stehlen empfindet, aber sich selbst zwingt, der Pflicht zuliebe ehrlich zu handeln, würde von Kant und seinesgleichen eine Anerkennung seines moralischen Werts erhalten.
[14] Ebd., S. 11; Übersetzung: Die Menschen, die diese Dichotomie akzeptieren, aber ihre andere Seite wählen, die letzten Produkte des entmenschlichenden Einflusses des Altruismus, sind jene Psychopathen, welche die grundlegende Prämisse des Altruismus nicht anfechten, aber ihre Rebellion gegen ihre Selbstaufopferung verkünden, indem sie angeben, dass ihnen jedes Lebewesen vollkommen gleichgültig ist und sie keinen Finger rühren würden, um einem Menschen oder einem Hund zu helfen, die von einem fahrerflüchtigen Lenker (der üblicherweise einer von ihrer Art ist) verstümmelt zurückgelassen worden sind.
[15] Ebd., S. 10 f.; Übersetzung: “ (…) dass ein Mensch kein persönliches Interesse an anderen haben kann, dass andere zu schätzen bedeute, sich selbst zu opfern – dass jegliche Liebe, Respekt oder Bewunderung, die jemand für andere empfinden möge, nicht eine Quelle seines eigenen Vergnügens ist oder sein kann, sondern eine Bedrohung seiner Existenz darstellt, einen Blankoscheck der Opferbereitschaft, den er seinen geliebten Menschen überschreibt.
[16] Ebd., S. 452; Übersetzung: Wenn du jemanden liebst, bedeutet das, dass die Person, die du liebst, von großer persönlicher, eigennütziger Wichtigkeit für dich und dein Leben ist. (…) Du brauchst die Person, die du liebst, für dein eigenes Glück, und das ist das größte Kompliment, die höchste Anerkennung, die du dieser Person zollen kannst.
[17] Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 4, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1646
[18] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 7; Übersetzung: Da die Natur den Menschen nicht mit einer automatischen Form des Überlebens versorgt, da er sein Leben durch seine eigene Anstrengung erhalten muss, bedeutet die Lehre, wonach die Sorge um das eigene Interesse böse sei, dass die Sehnsucht des Menschen zu leben böse sei – dass das Leben des Menschen an sich böse sei.
[19] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 448 f.; Übersetzung: Genauso wie der Mensch nicht durch irgendein zufällig erlangtes Mittel überleben kann, sondern die Prinzipien, die sein Überleben erfordert, entdecken und praktizieren muss, so kann das Eigeninteresse des Menschen nicht durch blinde Sehnsüchte und zufällige Launen bestimmt sein, sondern muss unter der Leitung rationaler Prinzipien entdeckt und verwirklicht werden. Deshalb ist die objektivistische Ethik eine Moral des rationalen Eigeninteresses – oder des rationalen Egoismus.
[20] Karl Marx: Das Kapital, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 23, S. 189 f.
[21] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 229
Was soll die Ukraine denn sonst machen?
Wien, 24. 3. 2025
Diese Frage stellt sich sofort ein, wenn jemand die Ukraine dafür kritisiert, dass sie es auf einen Krieg ankommen ließ, ehe sie sich den politischen Forderungen der russischen Föderation unterwarf. Letzteres wäre doch nur ein Zurückweichen vor einem Despoten, der sich dadurch überdies ermuntert sehen würde, auch andere Nationen mit der Androhung von Krieg zum Gehorsam zu zwingen. Ganz unabhängig vom Inhalt der Forderungen Russlands gilt es als Herrschaftsstreben, dass es dieser Staat überhaupt wagt, Ansprüche gegenüber anderen Nationen zu erheben. Diese Ignoranz ist auch notwendig, sonst könnte es schon ein wenig irritieren, dass der Ukraine ein Bekenntnis zur Neutralität nicht zumutbar sei, weil sie unbedingt ein Mitglied der NATO sein will. Schließlich hat ein Staat, der nicht neutral sein will, auch nicht unbedingt friedfertige Absichten und will daher zumindest die Fähigkeit zur Kriegsführung hegen und pflegen, welcher die Neutralität Schranken setzen würde. Weil alle Einwände Russlands gegen die Aufrüstung der Ukraine ignoriert und deren Vorbereitungen zur Zurückeroberung annektierter und separatistischer Regionen offenkundig wurden, kam es zum Angriff Russlands, gegen den sich die Ukraine ja bloß verteidigen würde, weshalb sich auch jede Kritik an diesem Staat verbiete.
Als zu Beginn des Kriegs zwischen der Ukraine und der russischen Föderation das Argument vorgebracht wurde, die Ukraine solle besser kapitulieren, als sich auf einen Krieg mit dem militärisch überlegenen Gegner einzulassen, machten sich Hohn und Spott breit. So meinte Carolin Kebekus, die Schrack-Zimmermann des deutschen Kabaretts und daher auch Haus- und Hofkabarettistin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass dieser Vorschlag dazu führen würde, den Ukrainern mitzuteilen: „Sterbt!“ Dass es sich genau umgekehrt verhält, nämlich durch die Kapitulation das massenhafte Sterben verhindert werden soll, können sich solch schlichte Gemüter offensichtlich nicht vorstellen. Für Menschen solcher Geistesverfassung scheint der Zweck eines Krieges in der Vernichtung des Feindes zu bestehen, nicht in der Durchsetzung politischer Zwecke, für welche diese Vernichtung nur ein Mittel darstellt, dessen ein Staat nicht mehr bedarf, sobald er diese politischen Zwecke erreicht hat. Anders gesagt: Jeder Staat hätte nichts dagegen, wenn er seine politischen Ansprüche gegen andere Staaten auch ohne Krieg durchsetzen könnte, er würde dann auf kriegerische Anstrengungen verzichten, weil diese ja gar nicht erforderlich wären, um seine Ziele zu erreichen. Es ist gar nicht das Anliegen von Staaten, möglichst viele Menschen zu töten, auch wenn sie deren Vernichtung ohne jeden Skrupel in Kauf nehmen, sobald ihnen dies zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche erforderlich scheint.
Ein Staat hätte also immer die Möglichkeit, einen Krieg zu vermeiden, zugleich sind es aber auch gerade seine Interessen, die mit kriegerischen Mittel behauptet werden sollen und welchen seine Bürger im Krieg genauso zu dienen haben wie in Friedenszeiten. Keineswegs verhält es sich daher so, dass die Ukraine sich gegen Russland wehrt, um ihre Bürger vor der Vernichtung zu bewahren, sondern es wird gerade umgekehrt deren Leben zur Durchsetzung ihrer politischen Ansprüche eingesetzt, die im Gegensatz zu jenen der russischen Föderation stehen. Russland hätte natürlich ebenso nicht auf der Geltung seiner Ansprüche beharren müssen, aber genauso wie die Ukraine für ihren Erfolg in der nationalen Konkurrenz auf ihre Ziele nicht verzichten will, will dies auch Russland nicht. Allerdings stellt sich hier schon die Frage, inwiefern die Forderung nach Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine einen Beweis für die Aggression Russlands darstellen soll. Zeigt sich darin nicht vielmehr die Wahrnehmung der Ukraine als Bedrohung, die durch solche Maßnahmen beseitigt werden soll? Wer natürlich unbedingt sein Feindbild vom russischen Aggressor pflegen will, sieht darin nur den Versuch, die Ukraine zu schwächen, um sie danach umso leichter unterwerfen zu können. Die russische Föderation soll hingegen den beschwichtigenden Worten vertrauen, wonach die Stationierung von Waffen und Soldaten in der Ukraine nur der Verteidigung dienen solle. Ja, der Verteidigung der gegen Russland gerichteten Vorhaben in der Ukraine.
Die Beschäftigung mit den politischen Absichten, die solche Gegensätze zwischen Staaten bilden, dass sich diese genötigt sehen, mit kriegerischen Mitteln deren Durchsetzung zu erzwingen, ist der Feindbildpflege natürlich nicht förderlich. Dann könnte man nämlich feststellen, dass der hochgeschätzte Frieden kapitalistischer Staaten bereits von kriegsträchtigen Gegensätzen geprägt ist, weswegen diese Staaten ja auch sehr schnell zum Krieg bereit sind, von dem die bürgerliche Öffentlichkeit dann immerzu überrascht ist, weil dies ihren schönen Vorstellungen von Demokratie und Weltordnung widerspricht, an denen sie unbedingt festhalten will.[1] Es muss daher auch sofort ein despotischer Herrscher mit einem autokratischen Staat ausgemacht werden, dem die „demokratischen“ Medien die Schuld am „Ausbruch“ eines Krieges zur Last legen, in diesem Fall stehen eben Putin und der russische Nationalcharakter unter Anklage. Dabei haben die Staaten nicht deswegen sofort ihre Armee einsatzbereit, um kriegerische Handlungen auszuführen, weil ja für den Krieg bereit sein müsse, wer den Frieden wolle. Es ist gerade umgekehrt so, dass die Ansprüche der Staaten, ihresgleichen für ihr kapitalistisches Wachstum zu benutzen, ohne die Fähigkeit zum „Schutz“ dieser Ansprüche nicht einmal erhoben werden können. Weil die Staaten sich in Konkurrenz zueinander für ihr Kapitalwachstum benutzen wollen, gibt es immer wieder Konflikte über die Handlungsbeziehungen, die sich bereits in deren Einrichtung geltend machen und für sehr lange Verhandlungen sorgen. Und auch nach einer Einigung auf allgemein gültige Handelsbedingungen ergibt sich immer wieder ein Bedarf für deren Überwachung oder Korrektur, sodass auch dann immer wieder Konflikte entstehen, zu deren kriegerischer Austragung die beteiligten Staaten jederzeit bereit sind, um ihre Macht zu behaupten oder zu erweitern, was für sie ohnehin aufs Gleiche hinausläuft.
Die von den USA seit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzte Weltordnung übt imperialistische Herrschaft nicht durch Aneignung von Kolonien, sondern durch freien Handel aus. Das hat auch den Vorteil, dass der Aufwand einer militärischen und zivilen Verwaltung der Kolonien entfällt und den neu gebildeten Nationen obliegt. Der Erfolg nationaler Befreiungsbewegungen in der Vertreibung ihrer Kolonialherren rief daher keine Intervention der USA hervor, sofern sich diese nicht kommunistisch betätigten, wie Vietnam, sondern sich in den freien Handel einzufügen und auf diese Weise ihren Erfolg anzustreben suchten. Keineswegs war und ist es somit natürlich für diese Staaten vorgesehen, eine Politik zu betreiben, die sich gegen diese Handelsordnung richtet oder deren Konditionen zu ihren Gunsten zu verändern trachtet. Änderungen der eingerichteten Handelsbeziehungen sind und bleiben das Privileg der USA, die sich dessen immer dann bedienen, wenn sich der nationale Erfolg nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelt. Das ist z. B. dann der Fall, wenn eine nicht zufällig als „Ölstaat“ bezeichnete Nation sich von diesem Status zu emanzipieren bestrebt ist, in welchem die Lieferung von Öl ihre einzige Funktion für den Weltmarkt darstellt. Weil deswegen zur Ausbeutung der Erdölquellen eingesetztes US-Kapital enteignet wurde, war das für die USA nicht hinzunehmen. Nachdem dann auch noch die zum Zeitpunkt dieser Enteignung hohen Ölpreise der Finanzierung eines Entwicklungsprogramms dienen sollten, um Unabhängigkeit von ausländischem Kapital zu erlangen, sahen die USA sich erst recht in ihrer Vormachtstellung herausgefordert und gingen dagegen durch Unterstützung oppositioneller Kräfte in Venezuela sowie durch Handelsboykotte in der bereits gegen Castros Kuba bewährten Art vor.
Solange allgemein kapitalistisches Wachstum in Form einer beschleunigten Kapitalakkumulation herrscht, haben auch untergeordnete Nationen einen Nutzen davon. Diesen bleibt ohnehin keine andere Wahl, als einen Anteil am allgemeinen Kapitalwachstum zu erhalten, denn eine alternative Erwerbsquelle steht ihnen nicht zu und daher auch nicht zur Verfügung. Versuchen sie alternative Wege zu beschreiten, führt das in der Regel zu einem Ordnungsruf der Weltordnungsmächte, dem auch mit begrenzten Militärinterventionen Nachdruck verliehen werden kann. Spätestens nach dem Umschlag der beschleunigten Akkumulation in die Überakkumulation von Kapital ist allerdings kein allgemeines Wachstum mehr möglich, an welchem die sogenannten Entwicklungsländer zwar in geringerem Maße partizipieren als die führenden Nationen, das aber immerhin auch bei ihnen noch stattfindet. Mit dem Beginn der Überakkumulation ist allerdings Kapitalwachstum nur noch durch eine Verdrängung anderer Kapitale möglich, also durch eine Kapitalvernichtung, die vor allem in den untergeordneten Nationen stattfindet. Solche Verdrängungsprozesse einzuleiten war das Ziel des Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, dessen Scheitern im Jahr 2014 für die USA ein solches Ärgernis war, dass diese einen Staatsstreich in der Ukraine förderten, um eine „westlich orientierte“ Regierung einzusetzen. Die seither bestehende Auseinandersetzung zwischen der Ukraine als imperialistischem Vorposten der Westmächte und der russischen Föderation hat den fundamentalen Gegensatz gezeigt, in welchem die beteiligten Staaten es vorziehen, ihre Interessen mit kriegerischen Mitteln zu behaupten, ehe sie auf deren Durchsetzung verzichten. Offensichtlich halten sie es für notwendig, ihren Interessen um jeden Preis Geltung zu verschaffen, um als kapitalistisch erfolgreiche und politisch einflussreiche Macht bestehen zu können. Wenn das nicht gegen die Herrschaft solcher Mächte spricht, dann ist diese wohl durch nichts zu erschüttern!
Man muss übrigens gar nichts über die widersprüchliche Entwicklung der Kapitalakkumulation wissen, um die Ideologie zu entkräften, dass internationaler Handel dem wechselseitigen Vorteil der Handelspartner diene. Wenn sich nämlich ein Entwicklungsland tatsächlich entwickelt und zum kapitalistischen Konkurrenten aufsteigt, wird das von den maßgeblichen Nationen keineswegs als Erfolg verbucht, in dem sich wieder einmal die Unschlagbarkeit des kapitalistischen Systems erweisen würde. So gilt der Aufstieg Chinas keineswegs als erfreulich: „Offensichtlich ist es nicht so, dass sich der Rest der Staatenwelt und mit ihm die Völker unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen.“[2] Im Gegenteil: „Weil in dieser Welt der Marktwirtschaft und Staatenkonkurrenz jeder Erfolg des einen letztlich auf Kosten anderer geht, gibt China als Newcomer auf dem Weltmarkt neben allen Geschäftsmöglichkeiten, die es anderen eröffnet, ganz offensichtlich auch Grund zur Sorge um die eigenen Erfolgsaussichten und damit Anlass zu einer immer auch latent feindseligen Stellung zu ihm.“[3]
Die Frage, was die Ukraine denn sonst machen solle, nachdem sie von Russland angegriffen wurde, zeugt angesichts all der hier vorgebrachten Argumente von nichts als Ignoranz. Wer so denkt, dem ist die Geltung nationaler Interessen eine Selbstverständlichkeit, deren Verteidigung er mit dem Schutz unschuldiger Menschen gleichsetzt, die man ohne Krieg nur einem blutrünstigen Mörder ausliefern und der Vernichtung preisgeben würde.
[1] Vgl. dazu die Ausführungen von Freerk Huisken: FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass, Hamburg 2023
[2] Renate Dillmann: Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, Kindle E-Book, Köln 2025, S. 229
[3] Ebd., S. 229 f.
Bildungskatastrophen! Alice Weidel und Elon Musk sprechen über Hitler
Wien, 11. 1. 2025
Nachdem Alice Weidel schon des Öfteren als „Nazi-Schlampe“ beschimpft wurde, scheint es ihr ein Anliegen zu sein, Hitler und die Nazis als Kommunisten darzustellen, die eher im Lager jener anzusiedeln seien, welche sie auf diese Weise zu beschimpfen pflegen. In einem Gespräch mit Elon Musk behauptete sie daher, dass Hitler ein Linker gewesen sei. Seinen Kampf gegen Kommunisten und Sozialdemokraten wird sie demnach wohl für eine stalinistische Säuberungsaktion halten, umgekehrt wohl auch noch den Kampf der Kommunisten gegen die Nazis.
Diese Behauptung ist allerdings keineswegs neu, sondern schon lange bei Weißwäschern des Kapitalismus sehr beliebt. Seltsam ist nur, dass Hitler das ganz anders gesehen hat. So urteilt er in „Mein Kampf“ über die Sozialdemokratie: „Jedenfalls war das, was ich so vernahm, geeignet, mich aufs äußerste aufzureizen. Man lehnte da alles ab: die Nation, als eine Erfindung der ‚kapitalistischen‘ – wie oft mußte ich nur allein dieses Wort hören – Klassen; das Vaterland, als Instrument der Bourgeoisie zur Ausbeutung der Arbeiterschaft; die Autorität des Gesetzes, als Mittel zur Unterdrückung des Proletariats; die Schule, als Institut zur Züchtung des Sklavenmaterials, aber auch der Sklavenhalter; die Religion, als Mittel der Verblödung des zur Ausbeutung bestimmten Volkes; die Moral, als Zeichen dummer Schafsgeduld usw. Es gab da aber rein gar nichts, was so nicht in den Kot einer entsetzlichen Tiefe gezogen wurde.“[1] Eine Kritik der kapitalistischen Nation will Hitler nicht hinnehmen, ebenso hat er nichts gegen die kapitalistischen Klassen und stößt sich an deren Verunglimpfung als „kapitalistisch“, kann dieses Wort gar nicht mehr hören. Das Vaterland, die Autorität des Gesetzes, die Schule, die Religion und die Moral gelten ihm als unantastbare Werte, sind sie doch die ideologischen Mächte, die der Herrschaft von Kapital und Nation dienen und die ihm vertraute und als natürlich geltende bürgerliche Gesellschaftsordnung bilden.
Hitler lehnte also ganz unmissverständlich Marxismus und Kommunismus ab. Deren Internationalismus betrachtete er als Angriff insbesondere auf die deutsche Nation und damit auf jegliche Kultur, dennoch soll er allein deswegen links gewesen sein, weil ja bereits in dem Wort „Nationalsozialismus“ auch vom Sozialismus die Rede sei. Um an dieser Auffassung festzuhalten, blenden Menschen wie Alice Weidel auch aus, dass der Zusatz „national“ einen Widerspruch zur sozialistischen Kritik der Nation und dem eben erwähnten Internationalismus darstellt. Wenn man unbedingt wollte, könnte man genauso sachlich ungerechtfertigt Weidels Ablehnung der EU mit Hitlers Ablehnung des Internationalismus gleichsetzen. Alice Weidel, die man auch als Deutschlands Ayn Rand bezeichnen könnte, kümmert sich jedoch nicht um jene Aspekte, die ihrer Legende von Hitler als einem Linken widersprechen. Stattdessen greift sie nach jedem Strohhalm und daher alles auf, was diese These unterstützen könnte, auch wenn dies nur bei ignoranter und oberflächlicher Betrachtung möglich ist. Hierzu passt es auch wunderbar, dass die Nazis die Opferbereitschaft des arischen Arbeiters gerne zur Schau stellten. Zu diesem Zweck bedienten sie sich natürlich ganz billig der Rituale der Arbeiterbewegung, „to steal the Left’s thunder“,[2] um den Linken das Rampenlicht zu stehlen, wie Michael Parenti bereits in seinem 1997 erschienen Buch Blackshirts and Reds über diese verlogene Tour geschrieben hat. So setzt sich der Faschismus nach außen als Revolution in Szene, um die herrschenden Interessen von Kapital und Staat durchzusetzen: „It propagates a ’new order’ while serving the same old moneyed interests.“[3] (Er verkündet eine „neue Ordnung“, während er weiterhin denselben alten finanziellen Interessen dient.)
Solche Gesten der Anerkennung sind eigentlich leicht als Heuchelei zu durchschauen, zumal dann, wenn ihnen keine materielle Aufwertung entspricht, ganz im Gegenteil. Laut Parenti wurde zwar dank der Kriegsrüstung die Arbeitslosigkeit um die Hälfte reduziert, „but overall poverty increased because of drastic wage cuts“,[4] insgesamt nahm also die Armut wegen drastischer Lohnkürzungen zu. Diese Lohnkürzungen waren nur konsequent für den faschistischen Standpunkt, dass die Arbeit dem kapitalistischen Wachstum und dem davon abhängigen nationalen Reichtum, nicht aber einem angenehmen Leben der Arbeiter dienen sollte. Schließlich würde nur ein forderndes, kampfbetontes Leben zu jener Höherentwicklung der menschlichen Natur führen, die es für konkurrenz- und kriegstüchtige Subjekte braucht. Hitler war daher gegen die „Gleichmacherei“ des Kommunismus, weil damit die natürliche Unterteilung der Menschheit in mächtige Herrenmenschen, brauchbare Hilfsvölker und unwerte, der Vernichtung preiszugebende Untermenschen missachtet werde. Dem Kommunismus und seiner „Sozialromantik“ einer klassenlosen Gesellschaft setzt Hitler daher in einer Rede am 22. Juni 1944 vor Wehrmachtsoffizieren das Prinzip des Lebens als Kampf entgegen: „Der Krieg ist … das unabänderliche Gesetz des ganzen Lebens, die Voraussetzung für die natürliche Auslese des Stärkeren und zugleich der Vorgang der Beseitigung des Schwächeren. Das, was dem Menschen dabei als grausam erscheint, ist vom Standpunkt der Natur aus selbstverständlich und weise. Ein Volk, das sich nicht zu behaupten vermag, muss gehen und ein anderes an seine Stelle treten. Ein Wesen auf dieser Erde wie der Mensch kann sich nicht dem Gesetz entziehen, das für alle anderen Menschen auch gültig ist … Seit es Wesen auf dieser Erde gibt, ist der Kampf das Unvermeidliche.“[5] Wie Parenti berichtet, erklärt 1934 Benito Mussolini genau in diesem Sinne die Vorstellung eines „perpetual peace“ (ewigen Friedens) zu einer „depressing“ (niederdrückenden) Doktrin, denn nur durch grausamen Kampf und Eroberung erreiche die Menschheit ihre höchste Entwicklung. Mussolini stellt schließlich fest: „War alone … puts the stamp of nobility upon the peoples who have the courage to meet it.“[6] (Allein der Krieg drückt den Stempel der Vornehmheit auf die Völker, die den Mut haben, sich ihm zu stellen.)
Alice Wieder nennt es den größten Erfolg (wohl der Linken), dass ein antisemitischer Sozialist als konservativ und rechts dargestellt wurde, denn in Wirklichkeit sei er weder ein Konservativer noch ein Libertärer, sondern ein „communist-socialist guy“(Originalton Weidel) gewesen. Zwar hat er die Bolschewisten als Bestandteil der jüdischen Weltverschwörung zur Schädigung Deutschlands betrachtet, genauso wie das international raffende Finanzkapital im Unterschied zum der Nation dienenden schaffenden Industriekapital, aber ein Libertärer war er gerade deswegen sicher auch nicht und damit von vornherein ein Gegner von Weidel, für diese damit also ganz eindeutig ein Kommunist. Deswegen ist Weidel ja auch für grenzenlosen Kapitalverkehr, daher für die Erhaltung des EU-Binnenmarktes, nur ohne dessen Regulierungen und ohne die politische Bevormundung der EU-Bürokratie. Wer nicht für den entfesselten, sondern für einen regulierten Kapitalismus Partei ergreift, kann für Weidel vermutlich nur ein Kommunist sein. Da spielt es auch keine Rolle, dass es ohne zwischenstaatliche Regeln gar keine Handelsbeziehungen zwischen Staaten und daher auch keinen internationalen Kapitalverkehr gäbe. Auch dass diese Handelsbeziehungen immer wieder zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden, wenn sich für eine der beteiligten Nationen die ursprünglich erhofften Vorteile nicht einstellen, scheint Frau Weidel als Missbrauch einer anti-libertären Staatsgewalt zu betrachten. Anscheinend will sie in ihrer Begeisterung für die libertäre Ideologie einer allseitig nützlichen freien Marktwirtschaft nicht zur Kenntnis nehmen, dass Handelsverträge allein deshalb umstritten sind, weil sich hier Nationen jeweils zu ihrem Vorteil benutzen und damit widersprüchliche Interessen zur Geltung bringen wollen.
Hitler wollte unbedingt ein der deutschen Nation nützliches Kapital und lehnte aus diesem Grund das Finanzkapital ab. Darin würde Weidel ihm beim gegenwärtigen Stand der Dinge nicht folgen, wie es damals ausgesehen hätte, ist aber fraglich. Für den Erfolg des deutschen Kapitals setzte Hitler die staatliche Gewalt schließlich ohne Rücksicht auf Verluste ein und das nicht erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Zu diesem Zweck garantierten sowohl Hitler als auch Mussolini den Profit der Investitionen großer Unternehmen und der faschistische Staat übernahm auch den Großteil ihrer Risiken und Verluste. Darüber hinaus privatisierten sie staatseigene Elektrizitäts- und Stahlwerke sowie Dampfschifffahrtsgesellschaften.[7] Weidel behauptet jedoch im Gespräch mit Elon Musk das glatte Gegenteil, nämlich eine Nationalisierung des Kapitals durch Hitler, die sie wohl darin erblicken will, dass der Staat das Kapital auf diese Weise förderte, anstatt es sich selbst zu überlassen, weil doch für Weidel nur jene Unternehmen zu existieren verdienen, die sich als konkurrenztüchtig erweisen und daher keiner staatlichen Förderung bedürfen. Vielleicht hat sie auch Arisierungen mit Nationalisierungen verwechselt. Neu ist allerdings auch nicht ihre Behauptung, dass Hitler Privatunternehmen verstaatlicht hätte, diese scheint vielmehr zum Repertoire konservativer Auffassungen zu gehören. Aber wenn man immer nur jene Bücher liest, die den eigenen Standpunkt bestätigen, findet man eben nichts anderes. Ganz anders verhält sich Michael Parenti, der Angelo Codevilla als Beispiel für diese falsche Darstellung des Faschismus präsentiert, von dem Weidel abgekupfert haben könnte : „If fascism means anything, it means government ownership and control of business.“ (Wenn Faschismus irgendetwas bedeutet, so bedeutet er staatliches Eigentum und Kontrolle der Wirtschaft.) Parenti erwidert darauf mit einer Paraphrase dieser Behauptung: „In fact, if fascism means anything, it means all-out government support for business and severe repression of antibusiness, prolabor forces.“[8] (Tatsächlich, wenn Faschismus irgendetwas bedeutet, so bedeutet er totale staatliche Unterstützung für die Wirtschaft und harte Unterdrückung unternehmensfeindlicher, arbeiterfreundlicher Kräfte.)
Staatliche Unterstützung für die Wirtschaft, das ist für Weidel wohl Sozialismus, auch wenn diese vor allem dem Kapital dient. Sie will nämlich einen Staat, der sich auf seine Kernaufgaben zurückzieht, nämlich den Schutz des Privateigentums nach innen mittels Polizei wie nach außen mittels Militär, das den weltweiten Zugriff des Kapitals auf Geschäftsgelegenheiten durchsetzen soll. Dafür braucht es aber „starke Führer“, teilt sie Elon Musk mit, hätte also in dieser Hinsicht auch gegen Hitler nichts einzuwenden gewusst. Der Staat soll also keinerlei wirtschaftliche Interventionen durchführen, sondern nur dafür sorgen, dass die kapitalistischen Unternehmen ungehindert in die nächste Überakkumulationskrise schlittern können, in der sie wieder nach der starken Hand des Staates rufen, den sie sonst immer nur als Behinderung ihrer freien Entfaltung betrachten. Damit erweist sich Alice Weidel einmal mehr als Deutschlands Ayn Rand, für die sich ja bereits ein anderer Ökonom begeistern konnte. So gratulierte ihr Ludwig von Mises zu ihrem Mut, in ihrem Werk Atlas shrugged unangenehme Wahrheiten auszusprechen, welche die dummen Massen nicht gerne hören würden: „You have the courage to tell the masses what no politician told them: you are inferior and all the improvements in your conditions which you simply take for granted you owe to the effort of men who are better than you.“[9] (Sie haben den Mut, den Massen mitzuteilen, was ihnen kein Politiker erzählte: Ihr seid minderwertig und all die Verbesserungen eurer Lebensbedingungen, die ihr einfach für selbstverständlich haltet, schuldet ihr der Anstrengung von Menschen, die besser sind als ihr.)
Falls Alice Weidel einmal in die Lage kommen sollte, ihren ökonomischen Sachverstand durchzusetzen, wird sie sich mit dem Problem herumschlagen müssen, das bereits Friedrich A. Hayek zu schaffen machte, nämlich mit dem „Widerspruch zwischen Marktschicksal und Leistungsmobilisierung“,[10] wie Jan Rehmann Hayeks Dilemma nennt. Schließlich sollen die Bürger an den Zusammenhang von Leistung und Erfolg glauben, um weiterhin motiviert zu sein, ihre Leistungen zu erbringen oder zumindest anzubieten, auch wenn dieser Zusammenhang sich als unzutreffend erweist. So plädiert Hayek zwar dafür, an der Auffassung festzuhalten, dass der persönliche Reichtum von der eigenen Leistungsfähigkeit abhänge, aber „übertriebene“ Erwartungen zu vermeiden, dass dies immer der Fall sein müsse. Rehmann stellt daher ganz richtig fest: „Ohne illusionäre Anteile am Prinzip ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ ist Motivation nur schwer aufrechtzuerhalten.“[11] Das trifft vermutlich auch auf Weidels politische Überzeugungen zu.
[1] Adolf Hitler, zit. n. Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, Kindle E-Book, München 2017, S. 130; S. 39 der kritischen Edition, online zugänglich:
https://www.mein-kampf-edition.de/?page=band1%2Fp039.html&term=verbl%C3%B6dung#Fn101Chap2-volI-p017, aufgerufen am 11. 1. 2025
[2] Michael Parenti: Blackshirts and Reds. Rational Fascism and the Overthrow of Communism, San Francisco 1997, S. 16
[3] Ebd., S. 17
[4] Ebd., S. 7
[5] Adolf Hitler, zit. n. Manfred Schindlbauer: Thema: Geschichte. 7. Klasse, Wien 2007, S. 168
[6] Benito Mussolini, zit. n. Michael Parenti: Blackshirts and Reds, a. a. O., S. 12
[7] Michael Parenti: Blackshirts and Reds, a. a. O., S. 7
[8] Ebd., S. 8
[9] Ludwig von Mises zit. n. Georg Loidolt: Die Tugend des Kapitals, Wien 2020, S. 85, vgl.: https://cdn.mises.org/Ludwig%20von%20Misess%20Letter%20to%20Rand%20on%20Atlas%20Shrugged_4.pdf, aufgerufen am 12. 1. 2025
[10] Jan Rehmann: Einführung in die Ideologietheorie, Kindle E-Book, Argument Verlag 2008/2022, S. 275
[11] Ebd., S. 277 f.