Thomas Hobbes‘ Staatsbegründung
Die hier entwickelten Gedanken habe ich bereits in meinem Buch „Ewig lockt die Bestie. Eine Kritik der Moralphilosophie“ einer Kritik unterzogen. Diese Kritik möchte ich hier noch einmal vertiefen und um die Frage ergänzen, wie Hobbes sich die Verwirklichung einer Staatsgewalt zur Konfliktbewältigung vorgestellt haben könnte. Folgende Aussage bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen von Thomas Hobbes:
„Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen. Daher kommt es auch, dass, wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben.“
Thomas Hobbes, Leviathan, zit. n. Dieter Oberndörfer/Beate Rosenzweig (Hrsg.): Klassische Staatsphilosophie, München 2000, S. 211
Hobbes stellt hier die Begrenztheit der Mittel als Ursache für die Feindschaft der Menschen dar. Um sich eines wegen dieser Knappheit umkämpften Gutes zu bemächtigen, würden sie vor gegenseitiger Vernichtung und Unterwerfung nicht zurückschrecken. Kaum würde jemand ein Stück Land bebauen, würden sich andere zu dem Zweck vereinigen, ihn von diesem Land zu vertreiben und der Früchte seiner Arbeit zu berauben. Ob sie hier vor oder nach der Ernte zuschlagen, ist zweitrangig, wichtig ist wohl, dass angepflanzt ist, denn sonst müssten sie ja die Arbeit selbst verrichten, deren Früchte sie sich doch gewaltsam aneignen wollen. Wovon die Räuberbande bis dahin gelebt hat, bleibt das Geheimnis von Hobbes, denn wenn sie sich nur von Raub ernähren kann, ist sie davon abhängig, dass andere die Güter hervorbringen, die sie zu rauben trachtet.
Die Feindseligkeit gegenüber dem Landbesitzer scheint von blinder Wut getragen, wenn Hobbes den Unterschied gar nicht beachtet, der darin besteht, ob man jemanden seiner Freiheit oder seines Lebens beraubt. Auch stellt sich die Frage, weswegen man jemanden von seinem Besitz vertreiben sollte, wenn man doch die Früchte seiner Arbeit genießen will. Dann hätte man doch das Problem, dass man selbst arbeiten müsste, es sei denn, dass es nur um den Besitz geht, also um den Zugang zum Boden als Produktionsmittel für Nahrungsmittel. Zu fragen wäre in diesem Fall, ob man es nicht hinbekommen könnte, den Boden gemeinsam zu bearbeiten, die Arbeit dadurch wirkungsvoller zu organisieren und ihre Früchte gemeinsam zu genießen. Nur weil man etwas tun muss, um dem Mangel abzuhelfen, ist es doch nicht einzusehen, dass man lieber Gewalt anwendet, um dafür zu sorgen, dass man selbst keinen Mangel leidet, indem dieser nur bei anderen Menschen besteht.
Bereits diese wenigen Worte von Hobbes erweisen sich also als eine Ansammlung von Widersprüchen. Hobbes meint aber, dass diese Widersprüche eine Eigenheit der menschlichen Natur darstellen, kommt daher gar nicht auf solche Einwände gegen die Schlüssigkeit seiner Darstellung, sondern hält die Einrichtung einer Gewalt für notwendig, welche die Menschen davon abhalten soll, einander zu schaden. Um wirksam sein zu können, müsse diese Einrichtung auf dem freien Entschluss der Bürger beruhen, eine solche Gewalt zu erschaffen. In Hobbes‘ Worten hört sich dieser Gedanke so an:
„Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können.“
Hobbes, a. a. O., S. 221
Um vor den Angriffen Fremder, aber auch um voreinander geschützt zu sein, bedarf es also einer Gewalt. Mit diesem Schutz hätten die Menschen die Sicherheit, über die Erträge ihrer Arbeit zu verfügen, sie könnten sich durch eigenen Fleiß und die Früchte der Erde ernähren und damit zufrieden leben, wie Hobbes behauptet. Um eine Gewalt zu haben, die diesen Schutz leistet, müssten die Menschen ihre gesamte Macht und Stärke auf diese Gewalt übertragen. Diese Gewalt könnte dann ein Mensch genauso wie eine Gruppe ausüben, wenn nur die gesamte Macht aller anderen Menschen an sie abgetreten worden ist.
Dieser Gedanke ist eigenartig. Wozu soll es sinnvoll sein, seine Macht an eine Person zu übertragen, um sich dann deren Anweisungen zu unterwerfen? Ist diese Person nun nicht in der Lage, ihre Macht zum Schaden der anderen zu gebrauchen und diese ihrer Früchte zu berauben? Oder soll man sich das so vorstellen, dass diese Person darüber wacht, dass niemand beraubt wird? Wozu aber und wie sollte sie dies tun? Hat sie den Auftrag von allen anderen erhalten, diese voreinander zu schützen, sodass sie jederzeit alle hinter sich gegen jene versammeln kann, die einen Raubzug unternehmen? Und wird sie für diese Aufgabe der Überwachung nun entlohnt, weil dafür ihre Arbeitszeit erforderlich ist, die sie daher nicht zum Produzieren einsetzen kann? Wird ihr dieser Überwachungsauftrag sofort wieder entzogen, wenn sie ihn nicht erfüllen kann oder zum eigenen Vorteil missbraucht? Braucht es nicht mehr als nur eine Person, um diese Überwachung durchzusetzen? Oder genügt es, dass jemand einen gewaltsamen Übergriff auf sein Eigentum anzeigt, diese Person dann diesen unterbindet, da sie Menschen unter ihrem Befehl hat, deren Gewalt sie zur Sanktionierung dieses Übergriffs nutzen kann? Könnte das aber eine Bürgerwehr nicht viel besser hinbekommen oder wäre mit dieser erst recht ein Krieg aller gegen alle gegeben? Fragen über Fragen!
Und wie sollte diese Gewalt eigentlich herrschen? Soll sie unumschränkt wirken oder an die Bürger, die an sie ihre Macht übertragen haben, als ihre Auftraggeber gebunden sein, sodass sie ihr diese Macht auch wieder entziehen können? Aber bestünde mit dieser Beschränkung der Macht nicht die Gefahr, dass die Menschen sich durch diese Gewalt zunächst freiwillig schützende Grenzen verschafft haben, die sie nun genau deswegen wieder aufheben wollen, weil sie in diesen Grenzen eine Beschränkung ihrer Mittel sehen? Muss diese Gewalt nicht von jedem Einfluss der Menschen, die sie hervorgebracht haben, unabhängig sein, um nicht wieder durch deren Beschluss rückgängig gemacht zu werden? Schließlich könnte der Krieg aller gegen alle entweder die Staatsgewalt einzuspannen oder aufzulösen versuchen, wenn diese nicht dem Einfluss der einander feindlich gesinnten Bürger entzogen wäre. Die demokratische Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger würde sich daher für Hobbes verbieten, weil auf diese Weise der Staat nicht jene Macht über die Bürger ausüben könnte, die er zur Eindämmung ihrer Feindseligkeit benötigt. Auch heutzutage ist in diesem Sinne eine grundlegende Skepsis gegen die Demokratie vorhanden, die bezweifelt, dass der Staat alle für seine Zwecke nötigen Maßnahmen vollzieht, wenn sein Führungspersonal befürchten muss, deswegen abgewählt und durch die Opposition ersetzt zu werden. Ein solche Staatsführung würde das Volk viel zu sehr verwöhnen, damit sie an der Macht bleibt, und deswegen zögern, die Notwendigkeiten dieser Macht durchzusetzen, da diese dem Bürger Schranken auferlegen.
Kehren wir noch einmal zum Begriff der Übertragung der Macht auf einen Menschen oder eine Gruppe zurück, um dadurch den Krieg aller gegen alle zu unterbinden. Diese Person wird wohl selbst nicht produzieren können, um ihre Aufgabe wahrzunehmen, und außerdem bestünde dann ja die Gefahr, dass sie im Kampf der Bürger um knappe Produktionsgüter, etwa um Boden, ihre Macht für ihren persönlichen Vorteil nutzen würde. Nähme man den Gedanken ernst, dass Menschen einander von Natur aus feindlich gesinnt seien, dann müsste man ohnehin gerade das vermeiden, was Hobbes als Lösung für feindliche Konflikte vorschlägt, nämlich einen Menschen in die Lage zu versetzen, alle übrigen zu beherrschen. Nehmen wir daher nicht eine feindliche Natur, sondern Güterknappheit als Ursache von Konflikten an. Wäre die Staatsgewalt an Gütern knapp, so würde sie ihre Gewalt einsetzen, um sich die Güter auf Kosten der Bürger zu sichern. Das muss sie aber gar nicht, da diese sie versorgen, damit sie frei für ihre Maßnahmen zum Schutz der Bürger voreinander ist. Zugleich benötigt die Staatsgewalt aber entsprechende Mittel und benötigt daher Unterstützung, also Bürger, die sich in ihren Dienst begeben und ihrem Befehl gehorchen, damit sie auch über die nötige Macht verfügt, dem Willen ihrer Bürger die erforderlichen Schranken zu setzen. Diese Bürger sind ebenso von Produktion freigestellt und müssen durch die übrigen Bürger versorgt werden. Darüber hinaus müssen die übrigen Bürger auch noch Waffen produzieren, um die Aufgaben der Staatsmacht sicherzustellen. Von Mangel ist hier also überhaupt nichts mehr zu bemerken, sondern im Gegenteil von Überschuss, der aber ausschließlich der Staatsmacht zugutekommt. So kommt der Staat in die Lage, über genügend Schrecken, also Bedrohungspotential zu verfügen, um den Willen der Bürger zu bestimmen. Hobbes fasst dieses Ergebnis so zusammen:
„Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, dass er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“
Hobbes, a. a. O., S. 222
Interessant ist an dieser Bemerkung auch, dass der Staat nun für den innerstaatlichen Frieden und die gegenseitige Hilfe gegen äußere Feinde sorgt. Diese äußeren Feinde müssen über eine ähnliche Macht wie er selbst verfügen, damit sie überhaupt eine Gefahr darstellen können. Wären es einzelne Bürger eines anderen Staates, so wären sie genauso wie seine Bürger seiner überlegenen Gewalt unterworfen und könnten keine Gefahr darstellen. Wenn nun aber der Staat den Beistand der Bürger gegen auswärtige Feinde fordert, so ist auch gar nicht die Gewalt abgestellt, wie Hobbes behauptet hat, sondern sogar potenziert, indem nicht nur einzelne Bürger einander bekämpfen, sondern ganze Vereinigungen von Bürgern gegeneinander antreten, also die Heere von Staaten gegeneinander Krieg führen. In diesem Sinne hat ja auch Wolfgang Reinhard festgestellt:
„Machthaber gaben zwar vor, ihre Untertanen vor der Gewalt von Dritten zu schützen, aber dabei handelte es sich oft um Gewalt, die sie selbst durch ihre Rivalität untereinander erzeugt hatten.“
Wolfgang Reinhard: Geschichte des modernen Staates, München 2007, S. 9
Zusammenfassung:
Hobbes behauptet, dass die Menschen einander von Natur aus feindlich gesinnt seien und deswegen Schaden zufügen würden. Sie würden aber auch zu der Einsicht gelangen, dass dieser Zustand für alle schädlich und daher abzustellen sei. Sie übertragen daher ihre Macht an andere Menschen, die sie voreinander schützen sollen. Genauso gut könnten sie auf Basis dieser Einsicht auch beschließen, die gegenseitige Schädigung zu unterlassen und zusammenzuarbeiten. Das ist der erste Widerspruch dieses Gedankens. Der zweite Widerspruch besteht darin, dass mit der Konstitution der Staatsmacht doch gerade Menschen hervorgebracht werden, die die Macht hätten, ihren Nutzen zum Schaden der anderen durchzusetzen.
Wie konnte Hobbes dieser Widerspruch nicht auffallen? Vermutlich liegt das daran, dass für diese Macht gar keine Notwendigkeit mehr besteht, jemanden zu schädigen, da sie nun eine Stellung in der Gesellschaft hat, wodurch diese für ihren Nutzen eingerichtet ist. Die Bürger hingegen leben weiterhin in Verhältnissen, in denen sie in Konkurrenz zueinander ihren Vorteil suchen müssen und sich wechselseitig schädigen. Indem der Staat die gewaltsame Austragung dieser Konflikte unterbindet, verhindert er auch die gewaltsame Entscheidung dieser Konkurrenz. Er sorgt so dafür, dass sich eine Gesellschaft der Konkurrenz erhält, ohne sich in gewaltsamen Konflikten aufzulösen. Wenn Hobbes das so hinstellt, also hätten es die Bürger nun in der Hand, sich friedlich ihrer Mittel zu bedienen und zu ernähren, so ist dieses Bild einerseits beschönigend, da der Staat ja nicht die Knappheit der Mittel beseitigt hat. Er hat nur dafür gesorgt, dass niemand einem anderen Bürger Gewalt antun darf, um sich des knappen Gutes zu bemächtigen, das dieser besitzt. Andererseits ist daran auch zu bemängeln, dass der Staat den Bürgern doch selbst in dieser beschönigenden Darstellung nur ihr nacktes Leben sichert, da er die Überschüsse der Produktion zur Ausstattung seiner Gewalt mit Waffen und mit Personal, das im Gebrauch dieser Waffen geschult ist, benötigt. Besser als ein Sklave, der von seinem Herrn erhalten wird, damit er weiterhin diesem zu Diensten sein und die Überschüsse seiner Produktion abliefern kann, ist ein Bürger damit nicht gestellt. Auch fragt sich, worin hier der Unterschied des Staates zur Mafia bestehen soll, die sich von Bürgern Schutzgeld zahlen lässt, damit sie diese verschont, aber auch tatsächlich vor anderen Bürgern schützt oder ihnen in der Durchsetzung gegen diese hilft, damit sie dieses Schutzgeld auch aufbringen können und nicht einer anderen Gewalt abtreten müssen.
Der zum Staatsmann aufgestiegene Bürger hat also nach Hobbes‘ gar keinen Grund mehr, andere Bürger zu schädigen, weil ihm diese nun nützlich sind. Die Bürger hingegen haben weiterhin Gründe, einander Mittel streitig zu machen, und schätzen den Staat dafür, dass er hier eingreift, auch wenn sie darüber klagen, dass sie ihm dafür beträchtliche Mittel zur Verfügung stellen müssen. Immer noch besser, als die gesamte Existenz im Krieg aller gegen alle zu verlieren, denken sie, und kommen nicht auf den Gedanken, dass man diesen Krieg vielleicht abstellen könnte, wenn man zusammenarbeiten und so die Güter hervorbringen würde, die nicht nur das Leben erhalten, sondern auch Lebensfreude vermitteln.
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