2022

Verrohung in der Politik

Wien, 2. 11. 2022

Vor mittlerweile schon wieder mehr als zwei Jahren, machte sich die mir bis dahin völlig unbekannte Journalistin Livia Klingl über Hans Bürger lustig, einen Journalisten des ORF. Sie schrieb nämlich auf Twitter: „Einmal möcht‘ ich so verliebt sein wie der Hans Bürger in den Herrn Kurz!“[1] Weil der betroffene ORF-Journalist daraufhin Frau Klingel als letztklassig bezeichnet und geheimnisvolle Andeutungen über deren beruflichen Werdegang gemacht hat, wurde er für kurze Zeit auch vom Bildschirm verbannt. Niemandem ist es nach meinem Wissensstand hier in den Sinn gekommen, Frau Klingel dafür zu bedauern, dass sie nicht zu jenen tiefen Gefühlen fähig ist, derentwegen sie Herrn Bürger beneidet und nach welchen sie sich zu sehnen scheint, nachdem auch sie diese gerne einmal empfinden würde. Auch ist niemandem eingefallen, dass diese Offenbarung von Gefühlsarmut ein Indiz für die allgemeine Verrohung in der Politik sein könnte.

Für diese Verrohung gibt es immer mehr Hinweise, so die Denunziation von Handlungen als korrupt, in denen sich in Wirklichkeit nichts anderes als tiefe freundschaftliche Verbundenheit zeigt. Anstatt sich darüber zu freuen, dass der Wert der Freundschaft noch etwas zählt und hochgehalten wird, legt es die bürgerliche Öffentlichkeit Politikern als Korruption zur Last, wenn sie dem Wohlergehen ihrer Freunde dienen. So werden wir derzeit, im Herbst 2022, Zeuge eines von böswilligen Journalistinnen angezettelten Rosenkriegs zwischen den ehemaligen Busenfreunden Sebastian Kurz und Thomas Schmid.

Vielleicht erregt aber auch nur die Rückständigkeit des Verfahrens, das die Suche nach dem eigenen Vorteil hier zeigt, Anstoß. Dies wird ja bereits von Robert Musil beklagt, als er dafür eintritt, dass nüchterne Geschäftsbeziehungen das Verfahren der Vorteilssuche vereinfachen und abkürzen sollten. An die Stelle aufwendig zu pflegender Freundschaften solle doch einfach die Bezahlung der erwünschten Dienste treten: „In Paris soll man z. B. heute schon bestimmte Theaterkritiker kaufen können, bei uns muß man noch mit ihnen befreundet sein, was oft viel unangenehmer ist. Daß Ärzte, Rechtsbeistände, Geistliche, Journalisten Hilfe nur dem gewähren, der sie bezahlt, gilt auch bei uns als selbstverständlich; wenn man aber einen Senator gewinnen wollte, so mußte man (bis vor kurzem; jetzt scheint sich ja endlich eine Änderung angebahnt zu haben) zwanzig Leuten Vorteile erweisen, damit man vom zwanzigsten dem für seine Person uneigennützigen Mann empfohlen wurde.“[2] Musil stellt folgerichtig fest: „Ich weiß nicht, ob ehrlich am längsten währt, aber es währt jedenfalls lang und ist eine umständliche Währung.“

Anstatt freundschaftliche Beziehungen unterhalten zu müssen, hätte der Einsatz des Geldes auch den Vorteil, dass er prinzipiell jedem unabhängig von seiner Person zugänglich wäre, diese müsste nur über das erforderliche Geld verfügen. Damit wären die bürgerlichen Verhältnisse endlich auf dem Stand, für den Marx sie anscheinend voreilig gelobt hat, als er feststellte, dass nun „die Menschen (…) endlich gezwungen (sind), ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“.[3] Für diese Rationalisierung ihrer Verkehrsformen muss die bürgerliche Gesellschaft wohl eine gewisse Verrohung in Kauf nehmen und der Gefühle entbehren, die Frau Klingel an Hans Bürger wahrgenommen zu haben glaubt. Herr Kurz und Herr Schmid hätten demnach noch ein wenig Entwicklungsbedarf, um endlich jene Kaltschnäuzigkeit zu erreichen, die für eine hochentwickelte bürgerliche Gesellschaft maßgeblich ist. Dann würde der Vorwurf der Korruption bei ihnen nur ein Schulterzucken auslösen und vielleicht zu der erstaunten Frage führen, was man eigentlich von ihnen erwarten würde. Schließlich entspricht es dem höchsten Stand bürgerlicher Rationalität, immer nach dem persönlichen Vorteil zu suchen, wie Peter Bürger festgestellt hat, der vermutlich mit Hans Bürger nur den Nachnamen gemeinsam hat: „Nicht nur den Managern und Politikern, die Bestechung als ganz normales Mittel der Auftragsbeschaffung ansehen, auch den Jugendlichen, die auf wehrlose Opfer einschlagen, fehlt jede Art von Schuldbewußtsein.“[4] Hans Bürger sollte sich also nicht für seine Gefühle schämen, erweist er sich doch damit als Fels in der Brandung des von Frau Klingl repräsentierten Zynismus. Oder hat er sich vielleicht gerade gegen eine solche Auslegung seiner Zuneigung zu Sebastian Kurz zur Wehr setzen wollen?


[1] https://www.heute.at/s/orf-star-beflegelt-kollegin-du-bist-letztklassig–44071871, aufgerufen am 2. 11. 2022

[2] Robert Musil: Zivilisation, in: Sämtliche Werke, Kindle E-Book, Positionen 17326–17330

[3] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 465

[4] Peter Bürger: „Nach vorwärts erinnern“: Relektüren zwischen Hegel und Nietzsche, Kindle E-Book, Göttingen 2016, S. 63

„Angriffskrieg“ – zur Karriere eines Pleonasmus

Wien, 10. 10. 2022

Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, ist es für schlichte Gemüter keine Frage, dass Russland für diesen Krieg verantwortlich ist. In der Rede von Russlands „Angriffskrieg“ soll daher dessen schuldhaftes Verhalten so deutlich gemacht werden, dass noch dem größten Einfaltspinsel klar sein möge, wer der „Böse“ ist. Niemand stellt sich die Frage, wie denn ein Krieg anders als durch den Angriff der einen Gewalt auf eine andere zustande kommen sollte. In einem Krieg wird angegriffen, was denn sonst. Von einem „Angriffskrieg“ zu sprechen, stellt daher einen Pleonasmus dar wie die Rede von einem „weißen Schimmel“ oder einem „schwarzen Rappen“. „Neu renoviert“ ist auch eine sich zunehmender Beliebtheit erfreuende Schöpfung dieser Art.

Wäre der Gegner nicht zu Widerstand fähig, müsste der Angreifer gar nicht gegen ihn Krieg führen, sondern würde diesen einfach seiner Gewalt unterwerfen. All dies ist bekannt, dennoch wird allgemein in der westlichen Öffentlichkeit von Russlands „Angriffskrieg“ gesprochen, weil sich so jeder Einwand gegen die Unterstützung des Angegriffenen verbieten soll. Durch diesen Krieg sei die mustergültige Friedensordnung unter dem Schutz der NATO gebrochen worden, in der es jedem Staat freistehe, wie er seine Interessen zu behaupten versuche. Es sei daher überhaupt kein Einwand vorstellbar, wenn ein Staat sich dafür entscheide, der NATO beizutreten, die Ukraine kämpfe somit für das Recht jedes Staates, seine eigene Zukunft selbst zu bestimmen, wie uns Annalena Baerbock[1] erklärt. Die Mitgliedschaft in der NATO, das hört sich so unschuldig und harmlos an, schließlich soll es ja nur der Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis sein. Auch dafür, dass jeder Staat sich frei für einen Beitritt zur NATO entscheiden könne, sei die Unterstützung der Ukraine im „Verteidigungskrieg“ gegen Russland notwendig, um diesen Staat bei seinem „Angriffskrieg“ so sehr zu schädigen, dass er zu militärischen Interventionen solcher Art zukünftig nicht mehr in der Lage ist.

Menschen, die angesichts populistischer Kritik sich darüber beklagen, dass einfach gestrickte Leute einfache Lösungen für schwierige Probleme verlangen würden, haben überhaupt kein Problem mit einfachen Vorstellungen über das „böse“ Russland und die „unschuldige“ Ukraine. Auch die Selbstdarstellung westlicher Angriffe als „Verteidigungskriege“ ist diesen Leuten keiner Kritik würdig, die sich doch als standfeste Kritiker begreifen, denen ein Autokrat wie Putin nichts vormachen könne. Der damalige Außenminister Joschka Fischer forderte und bekam 1999 die Bombardierung Serbiens, um angeblich einen Genozid im Kosovo zu verhindern; wenn Russland behauptet, einen Genozid in der Ostukraine zu verhindern, gilt das natürlich nur als dreiste Lüge oder als Verfolgungswahn. Angriffe der USA auf Afghanistan oder den Irak? Da wurden doch nur arme unschuldige Menschen von den Taliban oder von Saddam Hussein befreit, solch hehre „Befreiungsaktionen“ sind doch keine „Angriffskriege“! Eine Flugverbotszone der NATO in Libyen zur Beseitigung von Gaddafi? Wo der Westen zuschlägt, kann sich jeder sicher sein, dass es das Böse trifft. Und wo das Böse angegriffen wird, kann man den Guten doch keinen „Angriffskrieg“ vorwerfen, zumal sie solchen Vorwürfen durch ihre überlegene Kriegsführung mit den dadurch schnell erreichten Siegen rasch jede Grundlage zu entziehen vermögen. Wer bald für klare Gewaltverhältnisse zu sorgen weiß, der hat eben keinen „Angriffskrieg“ mehr nötig!

Man kann doch keinem Land verbieten, Mitglied der NATO werden zu wollen! Schließlich soll jeder Staat selbst entscheiden dürfen, wie er seine Interessen am besten zur Geltung bringt. In der Ukraine war sich die politische Führung lange nicht klar darüber, dass ein Anschluss an EU und NATO ihre beste Option wäre. Hier mussten westliche NGOs und Geheimdienste bei der Entscheidungsfindung helfen, indem sie Proteste gegen Wahlentscheidungen schürten, im Fall der Ukraine waren das die besonders „liebenswerten“ orangefarbenen Revolutionen. Weil das immer noch nicht genug war, wurde die Hilfe 2014 mit dem Putsch in Kiew gekrönt. Der war natürlich lupenrein demokratisch, weil durch faschistische Prügelknaben die Abstimmung geschützt wurde, die für die Einsetzung einer prowestlichen Staatsführung sorgte. Ab nun hätte auch dem einfältigsten Ukrainer klar sein sollen, dass die Zukunft der Ukraine nur in der Einbindung in die westliche Herrschaft liegen könnte, da sie im gegenteiligen Fall den Schaden hätte tragen müssen, den ihr die netten „Herrschaften“ der Weltordnung sonst zu bereiten gewusst hätten. Wären da nur nicht die störrischen Ostukrainer mit ihrer prorussischen Haltung! Diese wollen offensichtlich nicht die Mitgliedschaft in der EU als die große Chance erkennen, die vor allem jungen Menschen der Westukraine darin sehen, weil sie dann in führende Staaten der EU auswandern und dort ihre Karriere verfolgen wollen. Seither gibt es die Spaltung der Ukraine in einen russenfeindlichen Westen und einen prorussischen Osten.

Diese scheinbar so harmlose und selbstverständliche Rede von der freien Selbstbestimmung der Nationen, denen es freistehe, sich der EU und der NATO anschließen zu wollen, hat es in sich. Nebenbei bemerkt beruft sich auch Donald Trumps viel gescholtenes „America first“ auf ebendiese Freiheit nationaler Souveränität. Will ein Staat wie die Ukraine sich den Bündnisangeboten führender Nationen verschließen oder sich gar deren Politik widersetzen, hat dieser natürlich die Konsequenzen zu tragen, und das hat durchaus den Gehalt einer Erpressung. Ob eine Nation wirklich den erhofften nationalen Erfolg dadurch erreicht, ist eine andere Frage, dass sie ihn mit einer alternativen Politik aber sicher nicht erreicht, dafür versuchen die Führungsmächte dieser Bündnisse zu sorgen. Wenn westliche Politikerinnen wie Baerbock eine NATO-Mitgliedschaft als harmlose Selbstbestimmung einer Nation darstellen, so könnte man genauso gut die Beschaffung von Kolonien als Selbstbestimmung hinstellen. Imperialismus besteht heutzutage allerdings nicht in der Beschaffung von Kolonien zur exklusiven Verwertung einer Kolonialmacht. Eine der Stärke ihres Kapitals bewusste Nation will auf die ganze Welt zugreifen und setzt dafür ihre Weltordnung durch. Diesem Zweck dienten die vorhin erwähnten „Angriffskriege“ der USA und der NATO, die kein Mensch so nennen will, weil ja niemand Imperialismus darin sehen will, wenn dort Freiheit, Demokratie und Menschenrechte durchgesetzt werden. Da spricht auch niemand von Ethno- oder Eurozentrismus, auch wenn diese Begriffe sonst bei jeder unpassenden Gelegenheit in Gebrauch sind. Diese „Werte“ gelten als unantastbar, als das Gute, Wahre und Schöne, an dem keinerlei Kritik vorstellbar ist, obwohl ein etwas genauerer Blick auf die Bestimmungen der Menschenrechte für diese Auffassung nicht sehr hilfreich sein dürfte.

Jeder Nation steht es also frei, sich der Weltordnung der Weltmächte zu unterwerfen und im Falle der Ukraine als Frontstaat gegen Russland Karriere zu machen, das sich nicht in die Rolle fügen will, die für diesen Staat in dieser Weltordnung vorgesehen ist, nämlich am besten als Rohstofflieferant, dessen wirtschaftliche Entwicklung vom Bedarf der führenden kapitalistischen Nationen abhängig ist. Um Russland wirtschaftlich zu schwächen, wurde die Ukraine zunächst umworben und wurden die Gegner einer auf Russland ausgerichteten Politik gefördert, schließlich ihr Putsch geschürt und unterstützt. Gegen eine Ukraine, zu deren Staatsräson Russenfeindschaft gehört, führt Russland nun seinen „Angriffskrieg“, der hier im Unterschied zu den oben erwähnten Fällen auch entsprechend bezeichnet wird. Damit auch noch der letzte Idiot begreift, wer hier der Böse ist, wird zugleich das Bild einer von Verblendung beherrschten russischen Führung gezeichnet, die jeden Widerspruch mit rücksichtsloser Gewalt im Keim ersticken würde. Da ist es ganz egal, was für Vorstellungen russische Oppositionelle verfolgen mögen, ihre Feindschaft zum „Autokraten“ Putin setzt sie prinzipiell ins Recht und macht sie zu „unseren“ Verbündeten. Dieselben Menschen, die sich hierzulande als Querdenker brüsten und als „Schwurbler“ belächelt werden, sind sofort als Freiheitshelden willkommen, wenn ihr Gegner eine Staatsmacht ist, die sich nicht der westlich bestimmten Weltordnung fügen will. Deren „Werte“ gelten als vorbildlich, genauso wie zu Zeiten des Kolonialismus das Christentum, mit dem die „Heiden“ in den Kolonien beglückt wurden.

All diese Einwände werden an dem Mantra vom „Angriffskrieg“ nichts ändern, dessen sich Russland schuldig mache, zumal es ja nicht die Fähigkeit von USA und NATO besitzt, diesen schnell zu gewinnen. Das ist auch nicht erstaunlich, denn mit Ausnahme des direkten Einsatzes eigener Soldaten im Kampf sind diese mit der Ukraine an der Front der Gegner von Russland. Allerdings ist auch Russland nicht so schwach wie Husseins Irak und so werden wir Zeugen eines langwierigen Krieges, in dessen Folge die NATO eine nachhaltige Schwächung Russlands zu erreichen hofft. Aber das gilt ja als gut und recht bei einem Subjekt, das einen „Angriffskrieg“ zu verantworten hat. Bei gegnerischen Herrschaften können sich kritische wähnende Geister gar nicht einkriegen, da ist Zerstörung angesagt und von der Kritik wird auch keinerlei „Konstruktivität“ gefordert. An der eigenen Herrschaft hat so ein kritischer Journalist daher auch höchstens auszusetzen, dass sie nicht konsequent durchgesetzt wird.[2] Welch immenser Unterschied zur verpönten faschistischen Herrschaft!


[1] https://www.youtube.com/watch?v=MbCho00uj1c, aufgerufen am 10. 10. 2022

[2] Hierzu empfehle ich folgenden künstlerischen Beitrag: https://www.youtube.com/watch?v=aeoFzb1ZyB8, aufgerufen am 10. 10. 2022

Sarah-Lee Heinrichs antirassistisches Ressentiment

Wien, 15. 9. 2022

Es ist ja schon wieder ein Jahr her, als eine junge Politikerin der deutschen Grünen namens Sarah-Lee Heinrich von der „ekligen weißen Mehrheitsgesellschaft“ sprach. Ihr Parteikollege Jürgen Trittin wurde von Markus Lanz zu einer Stellungnahme angesichts dieser Aussage gebeten und erklärte, dass hier jemand von seinen Erfahrungen spreche.[1] Sie habe „genau dieses erfahren“, dass es eine eklige weiße Mehrheitsgesellschaft gebe. Sie spreche aus „sehr leidvoller Erfahrung“, die sie mit anderen „People of Colour“ teile, unter anderem auch deswegen, weil man diese „permanent fragt, wo sie z. B. geboren sind“. Permanent? Also jeder Mensch, der ihnen beim Einkaufen oder auf der Straße begegnet, würde Menschen mit dunkler Hautfarbe nach ihrem Geburtsort fragen? Von solchen Übertreibungen abgesehen, frage ich mich, was denn an so einer Frage so verwerflich, diskriminierend und bösartig sein soll. Es spricht doch eher für Interesse, Neugier, Anteilnahme, wenn ich mehr über eine Person erfahren will und mich nach ihrer Biographie erkundige. Wer so eine Frage als diskriminierend betrachtet, der sollte sich schon fragen, ob er nicht eine gewisse Paranoia entwickelt hat und sich überall von Rassismus verfolgt sehen will.

Interessant ist auch die Formulierung „eklige weiße Mehrheitsgesellschaft“. Worin soll denn das Eklige dieser Gesellschaft bestehen? In ihren politischen Urteilen, ihrem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Rassismus oder in ihrer weißen Hautfarbe? Könnte es sich nicht bei Sarah-Lee Heinrich um Rassismus handeln, wenn sie von ekligen Weißen spricht, oder ist Rassismus eine Haltung, zu der nur Weiße „fähig“ sind, sozusagen deren „Privileg“? Was würde denn Herr Trittin einem Nazi antworten, der von der „ekligen jüdischen Weltherrschaft“ spräche? Würde er das auch mit dessen schmerzhaften Erfahrungen rechtfertigen, die dieser nun einmal mit Juden gehabt hätte? Oder käme er wenigstens hier auf die Idee, dass Erfahrungen als Bestätigung bereits bestehender Vorurteile genommen oder aus ihnen falsche Schlüsse gezogen werden können? Sieht sich Sarah-Lee Heinrich immer dann, wenn ein Mensch weißer Hautfarbe es wagt, ihren Vorstellungen zu widersprechen, rassistischer Verfolgung ausgesetzt und daher von den „Rassisten“ der „ekligen weißen Mehrheitsgesellschaft“ umzingelt? Fragen über Fragen! Aber diese treiben Herrn Trittin glücklicherweise nicht um, denn als „alter weißer Mann“ ist ihm klar, dass ihm solche Fragen nicht zustehen, sondern von diesen „alten weißen Männern“ Selbstgeißelung im Büßerhemd verlangt wird.

Blöderweise war an der Diskussion bei Markus Lanz allerdings auch noch eine alte weiße Frau beteiligt, die noch nicht solchen rassistischen Etikettierungen ausgesetzt ist, da besteht wohl bei den rassistischen Antirassisten noch ein gewisser Handlungsbedarf. Elke Heidenreich ist diese alte Dame, die sich nicht so zurückhaltend gegenüber der demonstrativen Dummheit von Sarah-Lee Heinrich zeigte. Sie hatte keine Hemmungen dabei, auf das Gestammel hinzuweisen, durch das sich Frau Heinrich „auszeichnete“. Das ist wohl wieder typisch für so eine „eklige Weiße“, dass die gleich einmal ihr „Bildungsprivileg“ zur Schau stellt! Was kann denn die arme Sarah-Lee dafür, wenn sie lieber dummes Zeug im Internet schreibt und vor Fernsehkameras absondert, als Bücher zu lesen? Heidenreich stellte nämlich völlig richtig fest, dass diese Sprachlosigkeit das Merkmal der Internet-Generation ist, die kaum noch Bücher zur Hand nimmt. Mittlerweile sind diese Menschen meines Erachtens von allem überfordert, was über die Aufmerksamkeitsspanne von einer Minute hinausgeht, weswegen ja das Videoportal Tik Tok mit seinen Kurzfilmchen bei diesen in höchster Gunst steht. Auch auf die Neigung zur beleidigten Leberwurst ging Elke Heidenreich ein und stellte klar, dass es überhaupt keinen Grund dafür gibt, sich wegen der Frage nach der Herkunft beleidigt zu fühlen. Dem will ich noch hinzufügen, dass es natürlich dafür gar keinen Grund gibt, außer man will unbedingt überall Zeichen rassistischer Verfolgung entdecken, um damit den Geltungsanspruch der eigenen Auffassungen gegen jeden Widerspruch zu immunisieren.

Ja, da müssen die Ritter der politischen Korrektheit wohl noch nachlegen und den Vorwurf gegen die „privilegierten weißen Männer“ auch auf die Frauen ausdehnen. Aber darüber, dass hier wohl genügend Lernfähigkeit besteht, braucht man sich bei solch geistiger Verelendung gewiss keine Sorgen zu machen! Einen Shitstorm soll Heidenreich ja bereits unverzüglich auf ihre Stellungnahme als Vorgeschmack auf künftige Anfeindungen erhalten haben.


[1] https://www.youtube.com/watch?v=QJtk8IzjKG4, aufgerufen am 15. 9. 2022 (Das ist leider das einzige mir bekannte Video, das hierzu das Wichtigste zusammengefasst hat.)

Wir sind immer die Guten

22. 5. 2022

Es mag ja noch als entschuldbares Problem durchgehen, Unwissen, dessen man sich gar nicht im vollen Umfang bewusst ist, nicht in die eigene Positionierung miteinzubeziehen, allerdings kann es durchaus als ein Symptom von Dummheit bezeichnet werden, zugängliche Information zu relevanten Themen nicht einzuholen und absichtlich im Zustand des Nicht-Wissens zu verbleiben, der dann schon als mutwillige Ignoranz bezeichnet werden muss. Heidi Kastner[1]

Hier ist eine Denkfeindschaft am Werk, die sich als Anständigkeit aufführt. Marlon Grohn[2]

Gütesiegel Ignoranz

„Wir sind immer die Guten“,[3] lautet der Titel eines im Jahr 2019 neu aufgelegten und um zwei Kapitel erweiterten Buches von Mathias Bröckers und Paul Schreyer, das bereits im Jahr 2014 mit dem Titel „Wir sind die Guten“ erschienen ist. Die Erweiterung dieses Titels um das Adverb „immer“ hat damit zu tun, dass sich dieser Standpunkt von keiner Argumentation abhängig macht, dass dieses Selbstverständnis des Westens gegen Argumentation immun ist. Es gilt nämlich als offensichtlich, dass es sich bei Putin um einen rücksichtslosen Despoten handle, gegen den jedes Mittel recht sei. Das sagen natürlich genau jene Personen, die sofort die rhetorische Frage äußern, ob der Zweck etwa die Mittel heilige, wenn ihnen der Zweck nicht passt, der sich gewaltsam behauptet, etwa eine kommunistische Staatsräson. Deswegen gilt auch die Bezeichnung „Putinversteher“ als Einwand gegen Personen, welche die Motive Putins für seine Handlungen begreifen, denn hier hat keinerlei Verständnis stattzufinden, sondern Abscheu gegenüber dem unfassbar Bösen zu herrschen. Da es aber gar nicht so schwer ist, Putins Motive zu begreifen, wenn man sich nur ein wenig mit den Fakten beschäftigt, machen sich die Putin-Dämonisierer des Vergehens schuldig, „absichtlich im Zustand des Nicht-Wissens zu verbleiben, der dann schon als mutwillige Ignoranz bezeichnet werden muss“, wie dem oben angeführten Zitat von Heidi Kastner zu entnehmen ist, die damit auf Impfgegner abzielt. Diese Ignoranz ist jene sich als Anständigkeit aufspielende Denkfeindschaft, die Marlon Grohn für ihre Weigerung kritisiert, Erscheinungen wie den Hass zu begreifen, weil sich deren Repräsentanten in der Pose des Streiters gegen den Hass gefallen. Wobei hier anzumerken ist, dass Denkfeindschaft ohnehin ein grundlegendes Merkmal von Anständigkeit darstellt, weil Denken ein Hindernis wäre, wenn es darum geht, als anständig zu gelten. Im Falle Putins jedenfalls wird es zum Gebot des Anstands erklärt, sich voller Unverständnis gegen diesen angeblichen Despoten in Szene zu setzen und dessen Vernichtung als Gebot für alle anständigen Menschen zu verkünden. Dies ist eine leichte Übung, für die es keinerlei Denkbemühung bedarf. Anders verhält es sich da schon, wenn man diese billige Hetze nicht mitmachen will.

Es ist wie gesagt gar nicht so schwierig, die Gründe für Putins Angriffskrieg nachzuvollziehen. Im Grunde macht Putin genau das, was versäumt zu haben die europäische Geschichtsschreibung gerne Arthur Neville Chamberlain vorwirft. Dieser habe als britischer Premierminister bekanntlich den Fehler gemacht, mit Nazideutschland ein friedliches Auskommen anzustreben, anstatt die unvermeidliche kriegerische Konfrontation mit dem damaligen „Reich des Bösen“ zu suchen. Dieses Versäumnis will Putin sich nicht nachsagen lassen, nachdem die NATO einen bedrohlichen Gürtel militärischer Einrichtungen immer näher und enger um Russland zieht. Der letzte Baustein in diesem Bedrohungsgürtel hätte die Ukraine werden sollen und die Vorbereitungen dazu waren ja nicht zu übersehen, zumal sie auch mit dem erklärten Ziel der Ukraine verbunden sind, die abtrünnigen Gebiete im Osten zurückzuerobern, nämlich Donezk, Luhansk und auch die Krim. Es ist offensichtlich so gewesen, dass die NATO an der Herstellung einer strategischen Überlegenheit arbeitete, wodurch Russlands Verteidigungsfähigkeit nachhaltig geschwächt werden sollte. Da hilft es auch nichts, wenn sich die NATO als Verteidigungsbündnis darstellt, denn wo die NATO ihre Interessen zu verteidigen hat, bestimmt sie selbst. So hat sie bekanntlich Serbien bombardiert, um den Kosovo abzuspalten, die USA haben im Alleingang den Irak von Hussein „befreit“, in Libyen haben vor allem Frankreich und Großbritannien für eine Flugverbotszone gesorgt, um dadurch zur Liquidierung Gaddafis beizutragen. In Syrien hat sich die unmittelbare Mitwirkung der NATO auf die Türkei beschränkt, aber mit Saudi-Arabien hat ein weiterer Staat die Rebellion gegen Assads Herrschaft unterstützt, der mit den USA verbündet ist. Da kann sich auch Putin leicht ausmalen, dass unter dem Vorwand, Russland von seiner despotischen Herrschaft zu befreien, die NATO auch gegen Russland militärisch vorzugehen wagt, wenn sie erst einmal eine entsprechende Fähigkeit zu mehrfachen Angriffen in kürzester Zeit erreicht hat. An all diesen Fakten gibt es nichts zu rütteln, da mögen sich hiesige Haus- und Hofberichterstatter noch so dumm stellen und von einem völlig unprovozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sprechen.

Um Russland strategisch zu schwächen, war es zunächst notwendig, die wirtschaftliche Verbindung zwischen Ukraine und Russland zu beseitigen. Dies war der Zweck des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine, das der damalige Regierungschef Janukowitsch nicht unterschrieben hatte, weswegen es 2014 zu den bekannten Unruhen in Kiew gekommen war. Dass bei diesen Unruhen die USA mit ihren Geheimdiensten mitgewirkt haben, weil sie nicht bis zur nächsten Wahl im Jahr 2015 warten wollten, die zudem vielleicht wieder nicht in ihrem Sinne ausgehen hätte können, lässt sich in dem bereits erwähnten Buch „Wir sind immer die Guten“ nachlesen. Wie es auch immer zugegangen sein mag, jedenfalls beschränkte sich der Aufstand auf die Stadt Kiew und hatte keine Unterstützung in der Ostukraine, wo nun die oben erwähnten Gebiete ebenso einen Putsch durchführten, sich von Kiew lossagten und schließlich abspalteten. Seither befindet sich die Ukraine in einer Konfrontation mit Russland und wer irgendetwas gegen die Politik in Kiew sagte, konnte mit Besuch von faschistischen Banden rechnen, weswegen die meisten Menschen dies unterließen, sofern es ihnen nicht bereits passiert war, sodass sie möglichst schnell die Flucht ergreifen mussten, wenn sie sich nicht als Leiche wiederfinden wollten. Die wirtschaftliche Unterstützung der EU beschränkte sich in dieser Zeit auf die Gelder, die zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Staatsorgane erforderlich waren, während die USA an der Ausbildung und Aufrüstung des ukrainischen Militärs arbeiteten, inklusive zahlreicher Manöver. So übel sah die Situation vor dem Angriff Russlands aus.

Putin nennt auch seine Gründe für diesen Angriff, aber die darf man natürlich nicht gelten lassen, die seien ja nur Propaganda, mit der ein Wahnsinniger sich rechtfertigen würde. So wurde ihm ja öfter erklärt, dass aktuell keine Aktionen gegen Russland vorgesehen seien, worauf er natürlich erwiderte, ob er das recht verstehe, wenn damit gemeint sei, später seien also wohl Aktionen geplant. Und wozu sonst hätten auch militärische Standorte immer näher zu Russland errichtet werden sollen? Kein Wunder, dass er eine Entmilitarisierung der Ukraine anstrebte mit seiner „Spezialoperation“, die mittlerweile wohl als gescheitert angesehen werden darf. Auch die Rede von der „Entnazifizierung“, die Putin in der Ukraine durchsetzen wollte, entbehrt keineswegs jeder Grundlage, auch wenn von antirussischen Pogromen im Westen nicht berichtet wird, die sich allein der Aussage Poroschenkos entnehmen lassen, als er im Juli 2014 die abtrünnige Stadt Donezk belagern ließ: „Die Militanten werden mit Hunderten ihrer Leben für das Leben eines jeden Soldaten von uns zahlen.“[4] Diese Worte sollen wohl deswegen nicht die Absicht eines Genozids anzeigen, weil Poroschenko im Bunde mit den maßgeblichen Weltordnungsmächten des „Westens“ ist.

Gütesiegel Antifaschismus

Wenn Russen das Objekt der Verfolgung sind, will anscheinend auch niemand darin Faschismus erkennen, vor allem dann nicht, wenn der Nachfolger Poroschenkos an der Staatsspitze, Selenskyj, jüdischer Herkunft ist. Deswegen könne dieser ja gar kein Faschist sein, heißt es nun, denn offensichtlich muss man Juden verfolgen, um als Faschist zu gelten, bei allen anderen Volksgruppen ist man hingegen fein raus, besonders wohl bei Russen, die ja bekanntlich selbst als Faschisten mit der Neigung zur Unterwerfung unter autoritäre Führer gelten. Ein Mensch jüdischer Herkunft gilt anscheinend als immun gegen Faschismus, denn nachdem nur die Verfolgung von Juden faschistisch sein kann, wird er wohl kaum sich und seinesgleichen verfolgen. Und wo sollen denn in der Ukraine Faschisten am Werk sein? Wenn dort gegen Russen vorgegangen wird, so wird das wohl als antifaschistischer Kampf beurteilt! Menschen, die angesichts irgendeines unbedeutenden Rülpsers eines rechten Politikers oder beim Anblick eines Hitler-Grußes in hysterische Schnappatmung verfallen, können gar nicht genug abwiegeln, wenn von Faschisten in der Ukraine die Rede ist. Wenn diese im Jahr 2014 an der Regierung beteiligt sind, so schließt das ach so kritische „profil“ daraus, dass eben nicht die gesamte Regierung faschistisch ist, also geht es in Ordnung: „So unappetitlich das alles sein mag: Dass, wie Russland und Links-Politiker vor allem aus Deutschland insinuieren, in der Ukraine ‚die Faschisten‘ an der Macht sind, lässt sich daraus nicht ableiten.“[5] Eben, wenn sie nur beteiligt sind, ist ja nicht die ganze Regierung faschistisch, auch wenn anderen Staaten die Beteiligung von Faschisten sehr wohl zum Vorwurf gemacht würde. Man erinnere sich hier nur an den Aufschrei samt Sanktionen, den die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 in Österreich hervorgerufen hat. Nachdem sich mittlerweile Faschisten in der Ukraine eher wie Freischärler umtreiben und keine offiziellen Machtbefugnisse haben, hat das den Vorteil, dass sie ganz ohne staatlichen Auftrag unliebsame politische Gegner liquidieren, der ukrainische Staat also schon wieder fein raus ist! Manchmal musste zwar selbst die Staatsführung der Ukraine sich ein wenig um ihre Sicherheit sorgen, weil Faschisten ihr zu viel Rücksichtnahme auf Russland und auf die abtrünnigen Provinzen vorgeworfen haben, obwohl diese nur den realen Kräfteverhältnissen geschuldet war, aber diese Sorge ist ja nun endgültig hinfällig geworden.

Wir nehmen also zur Kenntnis, dass sich Russland nicht anmaßen darf, andere als Faschisten zu bezeichnen, dass vielmehr umgekehrt Faschismus schlimmstenfalls eine unappetitliche Begleiterscheinung sein mag, aber im Prinzip in Ordnung geht, wenn dessen Objekt Russland heißt. Es ist ja schon erstaunlich, dass der ukrainische Faschismus nicht gleich zum heroischen antifaschistischen Kampf erkoren wurde! Das hat er wenigstens jetzt dank des russischen Angriffskriegs endlich erreicht! Fazit: Heißt der Gegner Russland, so kann man sich des Gütesiegels „Antifaschismus“ nun sicher sein.

Weil Antifaschisten bekanntlich Helden sind, werden wir seit Kriegsbeginn auch mit Berichten über die heroischen Abwehrkämpfe der Ukraine versorgt, während der russische „Untermensch“ angeblich auch hier kläglich versagt. Gleich zu Kriegsbeginn wurde ja die Wahrheit verkündet, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sei. Das scheint wohl vor allem für die Gegenseite zu gelten, in diesem Fall also für Russland. Oder sollen damit die eigenen Propagandalügen von vornherein ihre Rechtfertigung erhalten, gilt diese Aussage nun als Freibrief für Lügen, weil das nun einmal zu Kriegen dazugehört? Die Berichterstattung im „freien Westen“ zeichnet jedenfalls ein Bild, demzufolge russische Soldaten wie die Fliegen fallen würden, während diese umgekehrt nur zu Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilisten fähig seien. Zwar hat die Ukraine zu Beginn des Krieges alle Zivilisten aufgefordert, mit Molotow-Cocktails gegen russische Panzer vorzugehen, aber wenn diese dann zum Opfer russischer Soldaten werden, steht natürlich sofort fest, dass es sich hier nur um Kriegsverbrechen handeln kann. Das war ja eigentlich von vornherein klar, gilt doch Russlands Krieg als einziges Verbrechen ohne jeden nachvollziehbaren Grund. Kriege sind schließlich das Privileg der NATO und der USA, die gewinnen auch so schnell, dass irgendwo aufkeimende Kritik an diesen Kriegen dank des schnellen Kriegserfolgs auch schnell wieder verstummt. Auch hier hat bereits im Jahr 2014 das Nachrichtenmagazin „profil“ den Vogel abgeschossen. Anlässlich der Annexion der Krim als Reaktion darauf, dass nach dem Putsch in Kiew Russenfeindlichkeit zur Staatsräson der Ukraine wurde, stellte dieses Blatt doch tatsächlich fest, dass sich hier keine Parallelen zu den Kriegen des Westens in Afghanistan und Irak ergeben. Denn erstens gilt: „Beide Kriege richteten sich gegen tatsächlich despotische Regimes, auch wenn sich die Gründe im Fall von Saddam Hussein nachträglich als erlogen herausstellten“. Die Ukraine gilt dagegen wohl als der Hort der Menschenrechte, vor allem für russische Minderheiten. Zweitens seien diese Kriege „zudem in der Öffentlichkeit heftig kritisiert“[6] worden, hätten also trotz der davor genannten astreinen Motive der Vernichtung despotischer Regimes gar nicht die sonst in solchen Fällen übliche Heiligsprechung erhalten. Das hat die von dieser Kritik betroffenen Mächte zwar überhaupt nicht von ihren Kriegen abgehalten, scheint aber für einen Journalisten, der sich für den Nabel der Welt hält, solche Kriege zu rechtfertigen, weil diese immerhin seiner grandiosen Kritik standhielten. Das kriegt Russland zwar auch noch hin, aber in seinem Fall spricht es nur für seine Rücksichtslosigkeit.

Gütesiegel demokratischer Imperialismus

Russlands Kriegsgründe werden von den maßgeblichen Gewalten dieser Welt nicht anerkannt, deswegen gilt sein Krieg gegen die Ukraine als völlig unprovoziert und unerklärlich, als Verirrung eines größenwahnsinnig gewordenen Autokraten. Die Bedrohung durch die NATO hat sich so ein Autokrat schließlich wohl selbst zuzuschreiben, denn würde er sich um eine ordentliche demokratische und prowestliche, also sich den Forderungen der EU und der USA unterordnende Herrschaft bemühen, dann müsste die NATO auch nicht gegen ihn vorgehen. Wenn die EU den Nachbarstaaten Russlands das Angebot macht, in der Feindschaft gegen Russland ihren Erfolg als Nation zu suchen, dann darf das deswegen nicht als Kriegsgrund gelten, weil Russland diese Feindschaft selbst verursacht habe, schließlich müsste es nur darauf verzichten, seine Interessen durchzusetzen. Putin beklagt sich über einen Bedrohungsgürtel der NATO? Wie kann er nur, wo die Militäreinrichtungen doch nur der Verteidigung dienen, der Verteidigung der gegen Russland gerichteten Interessen nämlich. Wenn er von den NATO-Mächten bedroht wird, dann deswegen, weil seine Herrschaft auch zu Recht bedroht werde, weil sie zu eliminieren sei, also wird Putin auch nicht zugestanden, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wo die Gewalt für sie in Ordnung geht, vermag die demokratische Öffentlichkeit keine zu erkennen und kann sich daher Putins Angriff auf die Ukraine gar nicht erklären bzw. verurteilt diesen als ungerechtfertigt, weil diesem „Autokraten“ einzig und allein der Untergang zustehe, gegen den er sich nicht zu wehren habe.

Deswegen spricht es auch gegen Putin, wenn er gegen politische Gegner oder Demonstranten vorgeht, als würde es dergleichen in den lupenreinen Demokratien des Westens nicht geben. Hier genügt es schon, sich einem Straßenbauprojekt der Gemeinde Wien in den Weg zu stellen, um von der Polizei Hausbesuche zu erhalten. Da wurden sogar Teenager zum Objekt dieser Einschüchterungen, nachdem sie die offizielle Anerkennung ihrer Sorgen in den Demonstrationen namens Fridays for Future ernstgenommen und sich zu darüber hinausgehendem Engagement berufen geglaubt haben. Und die berüchtigten Demonstrationen der Gelb-Westen in Frankreich gingen natürlich ebenso sofort in Ordnung wie die Aufläufe der Verschwörungstheoretiker gegen die Corona-Maßnahmen, wenn das Ziel ihrer Aktionen Putin hieße. Während üblicherweise gilt, dass man sich nicht dem Druck der Straße beugen dürfe, weil schließlich die politische Herrschaft in Demokratien aus Wahlen hervorgehe, soll das für Putin nicht gelten. Es hat ja schon in der Ukraine so hervorragend funktioniert, 2014 einen Putsch gegen den „Russenfreund“ Janukowitsch durchzusetzen. In Russland waren die maßgeblichen Subjekte dieser Welt damit nicht erfolgreich, was natürlich nur noch mehr gegen diesen Staat und das „System Putin“ spricht. Egal, welche politischen Ziele ein Gegner Putins auch verfolgen mag, wenn es der Schwächung dieses Systems dient, kann er sich der Würdigung als Freiheitsheld gewiss sein. Dieses verlogene Spiel zu durchschauen, ist aber auch Putin nicht schwergefallen, der daher die Geldflüsse der NGOs in Russland schließlich genauso kontrollieren ließ, wie dies in Europa bei islamischen Organisationen der Fall ist, nur dass Putin dafür natürlich wieder als Autokrat angefeindet wurde.

Solange sich Russland nicht der US-Weltordnung unterwirft, gilt es als Reich des Bösen und ist kein Vorwurf zu lächerlich, um als Anklage gegen Russland zu dienen. Schon als die Sowjetunion bestand, wurde von den imperialistischen Mächten erfolgreich das Gerücht verbreitet, dass sich diese die unerbittliche Feindschaft des „Westens“ verdient habe, weil sie die Menschenrechte missachte und ein unerträgliches Völkergefängnis sei. Seither hält sich hartnäckig der Glaube, dass es imperialistischen Staaten bei ihren Kriegen tatsächlich darum gehe, Menschen von üblen Herrschern zu befreien. Da irritiert es auch niemanden, dass Assad in Syrien ein blutrünstiger Herrscher sei, während die repressive Herrschaft in Saudi-Arabien mit den USA in bestem Einvernehmen steht. Warum Assad dem Westen ein Dorn im Auge ist, müsste allerdings gar kein Geheimnis sein: „Das Schwarze Meer ist für Russlands Gas- und Ölverkäufe in den Süden essentiell – und eben darum geht es Big Oil, den Oligarchen der USA, die den frisch eroberten Rohstoff aus Irak und Libyen sowie Erdgas aus Katar über eine Pipeline an Jordanien, Israel, Libanon und Syrien verkaufen wollen. Dass der Syrer Assad aber lieber einen Deal mit Putin abschloss, um die schon bis in die Türkei führende russische Blue Stream Pipeline ans Mittelmeer zu verlängern, ist ein wesentlicher Hintergrund des vom Westen finanzierten ‚Regime-Change‘ in Syrien.“[7] So verhält es sich nämlich mit dem Demokratieverständnis imperialistischer Mächte: Demokratie muss immer als Hebel einsetzbar sein, um unliebsame Herrscher zu entmachten, die doch glatt ihre Interessen nicht auf die Weise durchsetzen wollen, die ihnen der Westen zugesteht. Dann kann man innenpolitische Gegner einer solchen Herrschaft ausbilden und finanzieren, notfalls muss man eben auch noch die Geheimdienste hinzuziehen, um einen Putsch wie jenen in Kiew durchzusetzen. Behaupten solche Herrscher dennoch ihre Macht, dann kann es sich wohl nur um Wahlbetrug handeln und wird die Opposition zu heftigen Demonstrationen aufgerufen. Diese Unsitte hat mittlerweile auf ihre Erfinder zurückgewirkt und in den USA nach Trumps Wahlniederlage zum berüchtigten Sturm auf das Kapitol geführt. Wer allen Ernstes glaubt, dass hier die Guten gegen die Bösen vorgehen würden, der ist zumindest naiv, wenn er sich nicht in seiner Ignoranz absichtlich dumm stellt.

Solche naiven Menschen weisen eine Geistesverfassung auf, die Marlon Grohn treffend darstellt: „Das naive Bewusstsein zeichnet sich dadurch aus, die Vorgänge der Erscheinungsebene schon für die ganze Wirklichkeit zu nehmen.“[8] Genau dieses Fehlers machen sich all jene schuldig, für die sonnenklar ist, dass an einem „Angriffskrieg“ nur der Angreifer Russland schuld sein kann. Der Westen würde hingegen bei seinen Kriegen immer nur gegen böse Machthaber vorgehen, wobei es die Westmächte inzwischen vorziehen, andere für sich kämpfen zu lassen. Dies macht nun die Ukraine, die sich sozusagen ihre ersehnte Mitgliedschaft in NATO und EU verdienen zu können erhofft, wenn sie Russlands Ziele möglichst stark durchkreuzt und den Angreifer möglichst stark schädigt, alles andere denn vernünftige Zwecke, für welche nun leider viele Menschen in der Ukraine gerne ihre Köpfe hinhalten oder auch hinhalten müssen, wenn sie nicht als Deserteure bestraft werden wollen. Und hier muss man sich schon fragen, ob es denn so ein großes Opfer gewesen wäre, sich zu einem neutralen Staat zu erklären, wenn damit dieser Krieg zu vermeiden gewesen wäre. Ein Staat, dem dieses Opfer nicht zuzumuten ist, sieht sich offensichtlich in seinen Interessen von Russland bedroht, weil er gegen Russland gerichtete Interessen entwickelt hat. Russland aber hat auch nicht vor, klein beizugeben, und macht sich mit seinem Krieg als Störung der Pläne von USA und EU bemerkbar, die jeder für sich und keineswegs aus gemeinsamem Interesse an der Entmachtung Russlands arbeiten, deren letzter Baustein vorläufig darin bestand, die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Ukraine zu beenden, was ja bereits 2014 erreicht worden ist. Ob sich Russland mit seinem Krieg dem Würgegriff dieser Mächte entziehen können wird, ist anzuzweifeln, aber offensichtlich ist sich Putin sicher, dass Russland ohne diesen Angriff seinem sicheren Untergang entgegengesehen hätte.

Ehe über Russlands Krieg empörte Gutmenschen sich mit solchen Sachverhalten auseinandersetzen, pflegen sie lieber das zu ihrer guten Meinung über sich passende Märchen von ihrer guten Obrigkeit, die die Menschheit von bösen Tyrannen befreien wolle. Sie glauben tatsächlich, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen würden, weil sie dieselbe Herrschaftsform pflegen. Würde man dieses Urteil ernstnehmen, hätte es keine Kriege zwischen Monarchien geben dürfen, da diese schließlich auch dieselbe Art der Herrschaft praktizierten. Aber vermutlich glauben die Verehrer der Demokratie sogar, dass „echte“ Demokratien keine Herrschaftsform wären und daher auch keine Kriege führen würden, dass sie Militär und Polizei nur wegen der böswilligen Menschen brauchten, die sich nicht brav und anständig an die demokratischen Regeln halten wollen. Boris Jelzin konnte daher auch das russische Parlament beschießen lassen, das nahm man diesem „liebenswerten“ alten Suffkopf nicht übel, denn dieser musste sich ja nur gegen jene zur Wehr setzen, die nicht so viel Verständnis und so offene Arme für die Interessen der USA hatten wie er. Seit der Machtübernahme Putins sind die „schönen“ Zeiten für die Westmächte vorbei, in denen ihnen Russland zu Füßen lag, deswegen machen sich diese seither an die wirtschaftliche und militärische Einhegung Russlands. Das Ziel wird vermutlich sein, diesen Staat so zu zerschlagen und als Großmacht zu eliminieren, wie das nach dem Ersten Weltkrieg mit Österreich-Ungarn geschehen ist.

Wer etwas gegen den Krieg in der Ukraine hat, darf es sich nicht so einfach machen, die Schuld daran Russland anzulasten, alle übrigen daran beteiligten Mächte aber zu Opfern zu erklären, die dazu kämen wie die Jungfrau zum Kind. Aber das will natürlich niemand hören, denn die Kriege der Westmächte sind ja immer gut, sind immer nur Verteidigung oder richten sich gegen das Böse, wenn sich ein Angriff schlecht als Verteidigung darstellen lässt. Deutschlands Staatsführung geht sogar so weit, aus seiner faschistischen Vergangenheit die „Verantwortung“ abzuleiten, weltweit den faschistischen Anfängen zu wehren, wie Johannes Schillo[9] gezeigt hat. Gemeinsam mit den USA setzt die EU genau in diesem Sinne natürlich überall Freiheit, Demokratie und Menschenrechte durch, denn darin besteht Imperialismus, dem Kapital die Freiheit zu verschaffen, dass es über die ganze Welt als Geschäftssphäre verfügt. Solche Wahrheiten anzusprechen, fällt nicht einmal jenen ein, die sich gegen die militärische Unterstützung der Ukraine aussprechen, damit dieser Krieg nicht eskaliert. Wer Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert, begibt sich auch in Gefahr, dass ihm die Rechtfertigung von Russlands Krieg unterstellt und er dafür gerichtlich verfolgt wird. Und wer wie Karin Kneissl auf der Gehaltsliste eines russischen Ölkonzerns steht, gegen den werden von der EU Sanktionen gefordert, also von denselben Leuten, die Russland die Unterdrückung von Oppositionellen vorwerfen, einem Land, das mitten in einer existentiellen militärischen Konfrontation steckt, während die EU sich keiner solchen Bedrohung gegenübersieht, sondern mit den USA die Ukraine als Stellvertreter im Krieg gegen Russland benutzt und dabei vor keiner Eskalation zurückschreckt.

Alle diese Ausführungen werden natürlich nichts an der Einstellung hierzulande ändern, dass die Gewalt Russlands nur dessen abgrundtiefe Schlechtigkeit offenbart, bei „uns“ hingegen der hehre Zweck die Mittel heiligt und Gewalt daher immer in Ordnung geht. Und natürlich wird man mir erklären, dass die Duldung meiner Kritik ein weiteres Gütesiegel der hiesigen Herrschaft sei und ich froh sein dürfe, dafür nicht gerichtlich belangt zu werden. Für all diese elenden Heuchler lautet meine abschließende Botschaft: Ihr könnt mich mal kreuzweise!


[1] Heidi Kastner: Dummheit, Kindle E-Book, Wien 2021, S. 21 f.

[2] Marlon Grohn: Hass von oben, Hass von unten. Klassenkampf im Internet, Berlin 2021, S. 135

[3] Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind immer die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie der Kalte Krieg neue entfacht wird, Kindle E-Book, Frankfurt am Main 2019

[4] Petro Poroschenko, zit. n. Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind immer die Guten, a. a. O., S. 119 f.

[5] profil, zit. n. Orientierungsprobleme an der Heimatfront. Die Deutschen – ein Volk von „Putinverstehern“? Das kann doch nicht wahr sein!, in: Gegenstandpunkt 2-14, München 2014, S. 116

[6] profil, zit. n. Gegenstandpunkt 2-14, a. a. O., S. 117

[7] Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind immer die Guten, a. a. O., S. 28

[8] Marlon Grohn: Hass von oben, Hass von unten, a. a. O., S. 146

[9] Johannes Schillo: Ein nationaler Aufreger. Zur Kritik der Erinnerungskultur, Ulm 2022

Krieg in der Ukraine – Sternstunden der Propaganda

Wien, 27. 2. 2022

Um das gleich einmal vorauszuschicken: Mir wäre es auch lieber, wenn Russland keinen Krieg gegen die Ukraine führen würde. Leider sehen das die USA und die EU nicht so, insbesondere der ukrainische Staatschef hofft dadurch die Aufnahme in die westlichen Bündnisse EU und NATO erzwingen zu können. Deswegen hindert er bekanntlich auch die männliche Bevölkerung der Ukraine im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren an der Ausreise, die sich für diesen Zweck opfern soll. Wie üblich fällt hier auch niemandem ein, von geschlechtlicher Diskriminierung zu sprechen, und es fragt sich auch niemand, wofür es dieses Ausreiseverbot braucht, wo doch ohnehin jeder Ukrainer zum Kampf gegen Russland fest entschlossen sei.

Welche Gründe Putin für diesen Krieg haben mag, interessiert keinen Menschen, obwohl in den letzten Jahren in der Ukraine Fakten geschaffen wurden, welche hinzunehmen man eigentlich nur einem Kriegsverlierer zumuten würde. So lautete bereits 2014 die Kritik Russlands an einer Einbindung der Ukraine in die EU: „Zahlreiche industrielle Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine wären von der Umstellung auf die technischen Normen und Standards der EU betroffen, u. a. auch sicherheitspolitisch bedeutsame Kooperationen in Abteilungen der Rüstungsproduktion, im Raketen- und Flugzeugbau.“ Dies hätte gravierende Auswirkungen für Russlands Handlungsfähigkeit, die sich keine Nation bieten lassen würde, was in dem eben zitierten Text mit folgender rhetorischer Frage aufzeigt wird: „Was würde deutschen Politikern wohl einfallen, wenn sich ein Nicht-EU-Mitglied die Kontrolle über Teile der Airbusproduktion verschafft?“[1]

Auch die Provokationen der Ukraine gelten wohl als bloße Hofnarrenscherze, zumal es sich beim aktuellen Staatsoberhaupt der Ukraine ja auch um einen Kabarettisten handelt. Hätte Russland diese „harmlosen“ Sticheleien doch nur vornehm zur Kenntnis genommen, um zumindest als moralischer Sieger dazustehen, wenn es dafür auch reale Niederlagen in Kauf nehmen hätte müssen! Was ist denn schon dabei, wenn die Ukraine ein bisschen Krieg spielt, für „Straßen- und Häuserkämpfe in städtischer Umgebung“ probt und die „Vorverlegung schwerer Waffen, die gemäß einer Einigung im Minsk-Format zurückverlegt worden waren“,[2] durchführt? Wie kann man nur so kleinlich sein, im Ziel der Ukraine, ihre territoriale Integrität innerhalb ihrer Staatsgrenzen wiederherzustellen, die Gefahr eines „Srebrenica im Donbass“[3] erblicken zu wollen? Was sollen denn Manöver der USA auf ukrainischem Boden anderes sein als Verteidigungsvorbereitungen, wenn die USA nun einmal weltweit ihre Interessen zu verteidigen haben?

Da kann die Selenskyj-Regierung noch so offen die Strategie verfolgen, einen russischen Angriff zu provozieren und damit das Eingreifen von USA und NATO zu ihren Gunsten zu erzwingen,[4] für die USA ist es keine Option, sich „vom ukrainischen Revanchismus in dessen Krieg hineinziehen zu lassen“.[5] Die USA bestimmen schließlich immer noch selbst, wann wieder einmal Krieg geboten ist: „Die Dienstleistungen, für die Amerika die Ukraine und ihr Militär verplant hat, decken sich eben überhaupt nicht mit den Zielen des aktuellen Präsidenten (gemeint ist der Präsident der Ukraine – Anm. G.L.) in seinem politischen Überlebenskampf: Russland mit einer Dauerinvasionsdrohung im Donbass militärisch bedrängen, erhebliche russische Kräfte binden, das ist in den USA erwünscht; dafür sind die ca. 2 Mrd. $, die in den letzten sieben Jahren ins ukrainische Militär gesteckt worden sind, gut angelegtes Geld. Aber ihre Konfrontation mit Russland wollen die USA schon weiterhin selbst gestalten: erstens mit dem schier unendlich erscheinenden Arsenal der zivilen Kriegführung, das der US-Regierung die gute Hoffnung einflößt, den großen Rivalen nach Belieben zu schwächen; und zweitens mit der Fortentwicklung ihrer militärischen Fähigkeiten zur Entmachtung des Kreml in Szenarien ihrer Wahl – unter maßgeblicher Beteiligung auch des geschätzten Verbündeten Ukraine: Allein sieben Manöver finden auf ukrainischem Boden im laufenden Jahr statt, darunter das Großmanöver ‚Defender-Europe 21‘ im Schwarzen Meer. Aber über den Ernstfall und sein Eintrittsdatum will die Weltmacht ganz nach ihrem Bedarf entscheiden.“[6]

Politische Abenteurer wie der ukrainische Präsident Selenskyj wollen dadurch Karriere machen, dass sie sich den Interessen von EU und NATO dienstbar erweisen, und machen die frustrierende Erfahrung, dass sich der dadurch erhoffte nationale Erfolg gar nicht einstellen will. Der Angriff Russlands auf die Ukraine nährt daher nun die Hoffnung, den Beistand dieser Mächte endlich in jenem Ausmaß zu erhalten, welches diese bisher verweigert hatten. Den Interessen von EU und USA kommt Putin damit tatsächlich in die Quere, deswegen zieren sich diese auch nach Auffassung der ukrainischen Führung immer noch viel zu sehr in ihren Unterstützungsmaßnahmen. Die Ukraine wird jedoch für ihre Helden gefeiert, die sich nach Art von Hitlers Volkssturm der russischen Invasion entgegenstellen, um Russland einen hohen Blutzoll abzutrotzen. Da werden auch Menschen, die sich mit einer Brücke in die Luft sprengen, nicht als Selbstmordattentäter verabscheut, sondern zu Kriegshelden erklärt.[7] Wen interessiert es schon, dass damit wohl bald das Ziel Russlands, militärische Einrichtungen auszuschalten und die Zivilbevölkerung zu schonen, nicht mehr beachtet werden wird? Hier hat Putin auch die Fehleinschätzung gemacht, dass es eine Spaltung zwischen einer faschistischen Führung und einem braven Volk gäbe, das sich ohnehin nicht für diese Führung opfern würde, nun aber genau dazu fest entschlossen ist. Angesichts dieser Lage wird es wohl auch bald mit der versprochenen Rücksichtnahme auf die Zivilisten des vermeintlichen Brudervolkes vorbei sein.

Nun hat Russland also die Berechnungen von USA und NATO zunichte gemacht, dass man durch Schaffung einer angemessenen Bedrohungskulisse den russischen Riesen mehr oder weniger „friedlich“ den eigenen Interessen unterwerfen könnte. Putin hat sich nicht erpressen lassen, eine Vorgangsweise von NATO und USA zu akzeptieren, die sich Staaten üblicherweise erst nach Kriegsniederlagen bieten lassen müssen. Da dies niemand in der westlichen Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen will, da niemand einen Einwand dagegen hat, dass Russland von der NATO immer mehr in die Zange genommen wird, gilt Russland nun als durchgeknallter Aggressor, dessen Handeln sich nur durch die Wahnvorstellungen eines Verrückten erklären lasse. Schließlich lässt sich eines gewiss nicht bestreiten: Mit seiner Invasion in der Ukraine erscheint Russland als Aggressor. Die Frage ist nur, wogegen sich diese Aggression richtet und ob Aggression nicht auch ein Versuch der Gegenwehr sein kann. Für Putin stellt sich die Situation ganz sicher so dar, er will nicht wieder warten, bis ein Angriff aus dem Westen kommt, wie das unter Napoleon sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg geschehen ist.

So sieht sie eben aus, die „friedliche“ Weltordnung seit Abdankung des Sowjetreiches. Da schien die Welt in bester Ordnung, die Sowjetunion hatte sich dem Totrüsten des Westens gebeugt und schließlich ohne Krieg kapituliert. Und sie ging auch gleich beim ehemaligen Klassenfeind in die Lehre und bot ihre Konkursmasse dessen befugten Händen zur kapitalistischen Verwertung an. Diese bestand in einer großflächigen Abwrackung von Produktionsstätten und der kapitalistischen Nutzung des Restes, insbesondere gut ausgebildeter und billiger Arbeiter sowie der Energieträger Erdöl und Erdgas. Weil man sich der nützlichen Dienste Russlands mit seiner nun kapitalistischen Ausrichtung so gewiss war, kam es auch zu jenem Zugriff auf billiges russisches Erdgas, der heute als Abhängigkeit beklagt wird. Das neue Russland wollte sich nämlich keineswegs damit begnügen, billige Energie und Arbeitskräfte bereitzustellen, und so kamen auch die ersten Konflikte um Einflusssphären auf, denn in der freien Marktwirtschaft gilt das Recht des Erfolgreichen und Starken, der die Bedingungen internationalen Handels setzt, um seinen Erfolg sicherzustellen. Angesichts der Sorge, dass mit China und Russland ein neuer Machtblock entstehen könnte, machten sich EU und NATO an die Osterweiterung, die nun zum Krieg in der Ukraine geführt hat.

In diesem Krieg kann man es sich als Außenstehender nun leicht machen und dem „Aggressor“ Russland alles Übel dieser Welt wünschen. Da muss man sich das Leben nicht mit dem irritierenden Gedanken schwermachen, dass es Putin vielleicht satt hatte, sich für die bisherige „Besonnenheit“ als „moralischer Sieger“ loben zu lassen und darüber in der Staatenkonkurrenz zum Verlierer zu werden. So wird Russland zum Störenfried der scheinbar „friedlichen“ Weltordnung, deren soziale Verheerungen man auch gar nicht beschönigt, sondern z. B. in dem Film „Mind the Gap“ gerne zur Diskussion stellt, solange es bei Diskussionen bleibt. Beim Krieg in der Ukraine kann man sich nun leicht als Gutmensch inszenieren, indem man sich gegen jede Form von Gewalt ausspricht, obwohl man mit dieser Einstellung z. B. Hitler nie in die Knie gezwungen hätte. Die westliche Öffentlichkeit macht sich damit jenes Verrats der Intellektuellen schuldig, den bereits Julien Benda kritisiert hat: „Ein Argument dieser Clercs war die These, die Kleinen müßten zwangsläufig die Beute der Großen werden, das sei das Gesetz dieser Welt, und wer die Kleinen auffordert, sich ihm zu widersetzen, der sei der wahre Störer des Friedens. Wenn es euch nicht gäbe, so hielten sie dem Genfer Gerichtshof mehr oder minder unverhüllt vor, dann hätte das mächtige Italien in Ruhe das schwache Äthiopien verschluckt und die Welt stünde jetzt nicht in Flammen.“[8] Auch wenn es im Krieg Russlands gegen die Ukraine so scheint, als wäre die Ukraine der Kleine, der sich nur zur Wehr setzen würde, verhält es sich genau umgekehrt. Die Ukraine inszeniert sich allerdings geschickt als der Kleine, der das Opfer einer völlig unverständlichen Aggression Russlands sei, denn auch sie will nicht nur als der nützliche Idiot der USA agieren und nur nach deren Befehl gegen Russland vorgehen, sondern dieses Interesse der USA und der EU benutzen, um im Wettstreit imperialistischer Nationen an Bedeutung zu gewinnen.

Trotz dieses kurzen Aufrisses der Motive Russlands für die Invasion der Ukraine will ich nicht für Russland Partei ergreifen. Russland hat sich nach der Abdankung der Sowjetunion seine früheren Systemgegner zum Vorbild gemacht und will nun mit deren Methoden erfolgreich sein, genauso wie China. China und Russland streben den imperialistischen Erfolgsweg an, den ihnen die USA vorgezeigt haben, und es ist daher nicht für sie Partei zu ergreifen, wenn ihre Berechnungen nicht aufgehen. Eine unterlegene Nation, die nicht die imperialistischen Herrschaftsverhältnisse aufheben, sondern sich zu deren Nutznießer erheben will, trifft die gleiche Kritik wie jene, die diese Herrschaftsverhältnisse eingerichtet haben.[9]

Auf die Idee, im Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht Partei zu ergreifen. sondern diesen Krieg als Folge einer Weltordnung zu begreifen, die abzulehnen ist, kommt in der hiesigen Öffentlichkeit anscheinend niemand. Das Feindbild Russland wird mit Material versorgt, die Verhaftung von Russen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, gilt nur als weiterer Beleg für die Herrschsucht des Systems Putin. Das muss man sich auch auf der Zunge zergehen lassen: Wikileaks-Gründer Julian Assange wird von den USA gnadenlos verfolgt und fertiggemacht, weil er deren Ruf ein wenig beschädigt hat, aber Russland soll Demonstrationen zulassen, die für eine Nation im Kriegszustand tatsächlich ein Problem darstellen, weil sie die Kampfmoral schädigen können! Aber man kann auch so tun, als würde man ganz sachlich Putins Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine überprüfen. Hier hat wieder einmal der ORF den Vogel abgeschossen. Unter dem Titel „Putins Nazi-Erzählung über die Ukraine“[10] weist Österreichs Staatsfunk nach, dass zwar beim Putsch 2014 viele Nazis beteiligt waren, diese aber mittlerweile ihre Schuldigkeit getan haben und die Ukraine ganz ohne die faschistischen Wahnvorstellungen schlichter Gemüter ihre imperialistischen Hilfsdienste für die NATO leistet. Darüber hinaus sei Putin auch deswegen unglaubwürdig, weil er zwar behaupte, gegen Neonazis vorzugehen, dafür aber Kontakte zu Ultrarechten in Europa pflege – was ja durchaus sein mag, wenn er sich dadurch eine Destabilisierung seiner Gegner erhofft. Auch Russlands „hartes Durchgreifen gegen Friedensdemonstrationen“ spricht natürlich gegen Russland, aber Christian Körber, der Verfasser dieses Propaganda-Artikels, sieht Licht am Horizont. Er setzt auf die wirtschaftliche Schädigung Russlands, die in diesem Fall auch keineswegs vor der Zivilbevölkerung haltmachen soll, ganz im Gegenteil. Herr Körber stellt frohlockend fest: „Auch Putins Darstellung von der Ukraine als bitterarme Gegend mit hohen Lebenshaltungskosten mag viele Russinnen und Russen eher an ihre eigene Lage erinnert haben. Nach zwei Jahren Pandemie und schwieriger wirtschaftlicher Lage könnte die Bevölkerung den Angriffskrieg Putin vor allem aus Kostengründen übel nehmen. Nächster Wahltermin für die Präsidentschaft ist 2024.“ Aber er sollte sich da besser nicht zu früh freuen. Wenn angesichts der Eskalation des Krieges in der Ukraine demnächst kein billiges russisches Erdgas mehr zur Verfügung steht und die Energiepreise hierzulande ungeahnte Höhen erklimmen, dann sollten sich vielleicht auch die zynischen Eliten des Westens nicht mehr ganz so sicher im Sattel fühlen, die die Verarmung ihrer Bevölkerung ohne Skrupel in Kauf nehmen, wenn dies für die Unterwerfung Russlands erforderlich ist.


[1] EU-Osterweiterung zum Dritten: die „östliche Partnerschaft“ mit der Ukraine. Europa geht bis an die Grenzen seiner Methode friedlicher Eroberung und darüber hinaus, in: Peter Decker (verantwortlicher Redakteur): Gegenstandpunkt 1-14, München 2014, S. 59; vgl. https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-europa-geht-an-grenzen-friedlichen-eroberung, aufgerufen am 27. 2. 2022

[2] Wie die Ukraine die Szenerie eines drohenden Kriegsausbruchs produziert und die Welt um eine neue Anklage gegen Russland bereichert, in: Peter Decker (verantwortlicher Redakteur): Gegenstandpunkt 3-21, München 2021, S. 87, vgl. https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ukraine-szenerie-eines-drohenden-kriegsausbruchs-produziert, aufgerufen am 27. 2. 2022

[3] Ebenda

[4] A. Jermak, Assistent des Präsidenten der Ukraine: „Strategie der militärischen Sicherheit der Ukraine. Militärische Sicherheit – Umfassende Verteidigung“, bestätigt durch das Dekret des Präsidenten der Ukraine Nr. 121/2021 vom 25. März 2021, zit. n. Gegenstandpunkt 3-21, a. a. O., S. 90

[5] Gegenstandpunkt 3-21, a. a. O., S. 93

[6] Ebenda, Hervorhebungen dort

[7] Soldat sprengt sich mit Brücke in die Luft und wird zum Helden, https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91733064/ukraine-krieg-soldat-sprengt-sich-mit-bruecke-in-die-luft-und-wird-zum-helden.html, aufgerufen am 27. 2. 2022

[8] Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, Mainz 2013, Kindle E-Book, Positionen 314–318; Benda bezieht sich hier auf den Abessinien-Krieg des faschistischen Italien von 1935 bis 1936.

[9] Vgl. meinen Artikel „In der Tiefe des dialektischen Widerspruchs verborgen ruht Chinas Sozialismus – oder: Ist es nicht logisch, so ist es dialektisch!“ aus dem Jahr 2016, https://lektoratsprofi.com/2016-2/, aufgerufen am 28. 2. 2022

[10] https://orf.at/stories/3249151/, aufgerufen am 28. 2. 2022, die folgenden Zitate finden sich dort.


Die heile Welt der Impfgegner und ihre verschworenen Feinde

Wien, 26. 1. 2022

Wenn man ein Kind daran hindert, über eine Straße zu laufen, weil darauf ein Auto naht, so spricht wohl kaum jemand davon, dass dieses Kind einem unzumutbaren Zwang unterworfen werde. Kinder haben aufgrund ihrer geringeren Körpergröße und ihrer ebenso geringen Erfahrungen keinen guten Überblick, sie müssen daher an der Hand genommen werden, um nicht in Gefahr zu kommen. Natürlich muss man zusätzlich versuchen, den Kindern Verhaltensweisen zu erklären, die ihnen dabei helfen, sich in einer Stadt sicher zu bewegen.

Bei der Impfung jedoch sind viele außerstande einzusehen, dass diese vor der Gefahr einer viralen Infektion schützt. Schließlich ist das Virus nicht sichtbar wie das Auto, von dem ein Kind offensichtlich überfahren worden wäre, wenn es die Eltern nicht aufgehalten hätten. Es finden sich daher jede Menge Menschen, die von unzumutbarem Zwang sprechen, wenn eine Impfung nicht aufgrund einer freien Entscheidung erfolgt. Wie selbstverständlich nehmen diese Bürger dagegen ihr Recht auf medizinische Versorgungsleistungen im Falle einer Erkrankung, die durch eine Impfung sehr einfach zu verhindern gewesen wäre, in Anspruch. Da fragt niemand die Ärzte, ob sie sich freiwillig zur Betreuung solcher Menschen entschlossen haben, denn dies hätten Ärztinnen in Kauf zu nehmen, da sie sich schließlich freiwillig für den Beruf des Arztes entschieden hätten. Man tut geradezu so, als wäre die ärztliche Behandlung auf einer Intensivstation nur eine kleine Gefälligkeit und als wäre der Krankenhausaufenthalt für den Patienten selbst so etwas wie eine Kur oder ein Urlaub ohne größere Gefahren oder besonderen Aufwand.

Den Impfgegnern kommt es keineswegs in den Sinn, dass sie sich mit der Verweigerung der Impfung zu einer Virenschleuder machen, dass sie für eine Virenschwemme sorgen, die dann auch vermehrt zu den berüchtigten Impfdurchbrüchen führt, die diese „Impfskeptiker“ dann voller Genugtuung als Beweis für die Unwirksamkeit der Impfung heranziehen. Völlig gleichgültig scheint ihnen in diesem Zusammenhang auch, dass diese Impfdurchbrüche nur selten mit einem schweren Krankheitsverlauf einhergehen. Und wenn sie sich schon nicht impfen lassen wollen, so wäre es wenigstens angebracht, sich nach Möglichkeit von anderen Menschen fernzuhalten. Nicht einmal das darf man jedoch von ihnen verlangen, da klagen sie sofort über Diskriminierung, wenn man ihnen irgendwo den Zutritt verwehrt, weil sie ungeimpft sind und deswegen das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Corona-Virus aufweisen. Da schrecken sie nicht einmal davor zurück, diesen Ausschluss von der Teilnahme an Kulturveranstaltungen mit der Diskriminierung von Juden in Nazi-Deutschland gleichzusetzen, wenn sie nicht ohnehin in der Impfung eine Massenvernichtung sehen, wie sie von den Nazis an den Juden praktiziert wurde.

Wer mit solchen Wahnvorstellungen konfrontiert ist, also mit Menschen, welche die Corona-Pandemie nur für eine Erfindung der Eliten zur massenhaften Vernichtung unliebsamer Menschen halten, der braucht sich natürlich nicht zu wundern, wenn jedem Versuch einer Widerlegung solchen Schwachsinns mit dem Aufschrei „Lügenpresse“ begegnet wird. Auch erfolgreiche Sportler wie der Tennisspieler Djokovic werden sogleich zu Opfern erklärt, wenn sie nach Australien einreisen wollen, obwohl sie ganz genau wissen, dass sie eine wichtige Voraussetzung dafür nicht erfüllen, weil sie es vorgezogen haben, sich nicht gegen das Corona-Virus impfen zu lassen. Da soll man plötzlich für jemanden eintreten, der die ganze Welt als seinen selbstverständlichen Besitz betrachtet, zu dem er natürlich immer Zugang haben müsse. Man soll für jemanden eintreten, der nicht die geringsten Hemmungen hat, seinen ökologischen Fußabdruck dadurch zu maximieren, dass ihn Flugzeuge jederzeit an jeden beliebigen Ort dieser Erde bringen sollen. Dieselben Menschen, die im Falle der Migration gar nicht genug Hindernisse errichten können, um die Bewegungsfreiheit unerwünschter Personen einzuschränken und deren Zuwanderung zu verhindern, betrachten es als unzumutbare Verletzung der Menschenrechte, wenn ungeimpften Personen die Einreise verweigert oder der Besuch öffentlicher Veranstaltungen verboten wird.

Viele Bürgerinnen sind davon überzeugt, dass der Widerstand der Impfgegner gegen das Impfen nicht nur diesen selbst, sondern auch den vom Kontakt mit ihnen betroffenen Menschen schadet. Dafür werden sie von manchen Personen als Konformisten an den Pranger gestellt. Schließlich fällt es einfach gestrickten Geistern leicht, ihr Verhalten unter umgekehrten Vorzeichen beizubehalten: Während sie früher alles gut fanden, wenn es nur vom Staat kam, betrachten sie jetzt alles als schlecht, sobald es vom Staat kommt. So können sie sich im Widerstand gegen die Impfpflicht als Helden der Zivilcourage, als engagierte Bürgerinnen für ihre Vortrefflichkeit loben. Um gegen eine Impfpflicht aufzutreten, wird schnell alles aufgegriffen, was diesen Standpunkt unterstützt. So hört man nun, dass die Impfung gegen die Omikron-Variante des Corona-Virus ohnehin wirkungslos und darüber hinaus diese Virus-Variante ohnehin ganz harmlos sei. Wenn der Staat dennoch an einer Impfpflicht festhalte, so nur deshalb, weil er keine Fehler eingestehen wolle oder ganz andere Absichten verfolge, eben den großen Bevölkerungsaustausch, um die Querulanten loszuwerden, die ihm andauernd solche Absichten unterstellen.

Bemerkenswert an diesem Aufruhr ist die affirmative Haltung, der dieser entspringt. Es ist nämlich gar nicht so, dass Impfgegner Feinde der bürgerlichen Gesellschaft wären. Sie sind ganz im Gegenteil von den Segnungen der freien Marktwirtschaft und ihrer freien Selbstbehauptung in dieser derartig überzeugt, dass ihnen die wegen Corona auferlegten Einschränkungen als unerträgliche Behinderung erscheinen. Diese Bürger nehmen daran nicht wahr, wie sehr sie vom Erfolg des Kapitals abhängig sind, wie sehr sie also gute Gründe hätten, diese Abhängigkeit zu beseitigen. Sich für diesen Erfolg nützlich zu machen, gilt ihnen vielmehr als ihre natürliche Freiheit, die ihnen von einer überbehütenden Obrigkeit mit deren Corona-Maßnahmen genommen werde. Da ist es nur konsequent, wenn FPÖ-Obmann Herbert Kickl den „Impfkommunismus“ an den Pranger stellt, denn für diesen ist Impfen ohnehin nur ein Zeichen von Schwäche. Nur solche Menschen, die ohnehin immerzu nach staatlicher Unterstützung verlangen, würden nun auch Hilfe durch eine Impfung fordern, da sie niemals für sich selbst Verantwortung übernehmen und sich nie mit eigenen Leistungen durchsetzen würden. Freiheitsdürstende und erfolgshungrige Bürgerinnen würden hingegen auch ein starkes Immunsystem aufweisen, solchen Menschen kommt ein neues Virus als Bewährungsprobe gerade recht, um ihre Fähigkeiten zur Selbstbehauptung weiterzuentwickeln, denn was sie nicht umbringe, könne sie nur stärker machen.

Menschen, denen es nie in den Sinn käme, eine Kritik an der allgemeinen, wenn auch allein den „privilegierten“ Männern vorbehaltenen Wehrpflicht vorzutragen, halten eine Impfpflicht für einen böswilligen Akt des Staates. Während ihnen üblicherweise sofort einfällt, dass Rechten auch Pflichten gegenüberstehen, wollen sie in diesem Fall nichts von einer Verpflichtung wissen, sondern nur auf ihr vermeintliches Recht pochen, jederzeit jedem zur Last zu fallen, weil sie einer mittlerweile milliardenfach erprobten Impfung nicht trauen. Wenn es organisatorisch durchführbar wäre, würde ich ihnen am liebsten vorschlagen, sich mit ihren homöopathischen Ärzten in Reservate zurückzuziehen, wo sie erstens von der Impfpflicht verschont werden und zweitens im Falle ihrer Erkrankung ausschließlich auf die Pflege ihrer Lieblingsärztinnen zurückgreifen können. So aber halte ich fest, dass ausgerechnet im Falle der Impfung, wo der Staat einmal einen sinnvollen Gebrauch von seiner Gewalt macht, sich Widerstand regt. Zwar dient auch die Impfung natürlich der Standortpflege für das Kapital, da kranke Menschen für dieses nicht zu gebrauchen sind, aber in diesem Fall fällt eine allgemein vernünftige mit einer staatsnützlichen Maßnahme zusammen. Das kann man von den üblichen Verarmungsprogrammen nicht behaupten, die Staaten ebenfalls zur Standortpflege einsetzen, um ihre für Lohn arbeitende Klasse für die kapitalistische Benutzung attraktiv zu machen.

Solche Einsicht ist von Impfgegnern allerdings nicht zu erwarten. Diesen ist es nämlich ein Bedürfnis, daran festzuhalten, dass die bürgerliche Gesellschaft schon in Ordnung wäre, wenn nicht dunkle Mächte ihren Einfluss geltend machen würden. Da fällt ihnen nicht einmal der Widerspruch auf, dass ihnen das üblicherweise als gesundes Erwerbsstreben eingestufte Profitinteresse im Falle der Pharmaindustrie missfällt, weil diese die Menschen krank machen wolle, um ihnen ihre Medikamente und Impfungen zu verkaufen. Sie wollen an ihrer heilen Welt festhalten, dass ein konkurrenztüchtiges und gesundes Subjekt mit ein paar Vitaminen jede Krankheit bewältigen würde, dass nur die Verschwörung des Staates mit der Pharmaindustrie und der „Lügenpresse“ daran interessiert sei, ihnen ihre natürlichen Abwehrkräfte zu nehmen. Einen Vorwurf muss man der sogenannten „Lügenpresse“ allerdings schon machen: Es wäre einfacher, solche Vorwürfe zu entkräften, wenn sie nicht in einigen Fällen etwas für sich hätten, etwa in der Berichterstattung über das Verhältnis Russlands zur Ukraine, in der z. B. darauf beharrt wird, dass die Annexion der Krim völkerrechtswidrig gewesen sei, weil sie nicht unter der Obhut der NATO-Staaten stattfand, wie etwa die Gründung des Kosovo.

Angesichts derartiger Zerwürfnisse mit gegensätzlichen Rechtsansprüchen hilft es auch nichts mehr, einfach die Ruhe zu bewahren und mit Gelassenheit eine sachliche Auseinandersetzung mit den „Argumenten“ der Gegnerinnen demonstrieren zu wollen, wie das ein sich wie ein altkluges Kind präsentierender Lehrer vorgeschlagen hat. Denn wer hier Stellung bezieht, wird mit Anfeindungen zu rechnen haben, da wird der Vorschlag eines gelassenen Umgangs mit diesen kaum aufrecht zu erhalten sein.