Der Naive und der zynische Heuchler
In der Sendereihe „Pro und Contra“ des privaten Fernsehsenders Puls 24 fand am 8. Mai 2024 eine Diskussion über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an Israel statt. Der Titel dieser Auseinandersetzung lautet „Farb-Attacken, Uni-Camps und Palästinenser-Fahnen – Wo endet der Protest und wo beginnt Antisemitismus?“[1] Zu Gast war ein Herr David Sonnenbaum, der „literweise Kunstblut“ vor einer Konferenz gegen Antisemitismus in Wien auf den Boden geschüttet und dabei Verfassungsministerin Karoline Edtstadler nur knapp verfehlt hatte. Zum Motiv seiner Handlung hatte Herr Sonnenbaum noch am Ort der Tat verkündet, dass er es nicht ertragen könne, wie die österreichische Regierung weiterhin eine rechtsextreme Regierung in Israel unterstütze. Zufällig sah ich den Beginn dieser Sendung, als diese am 12. 5. 2024 am Vormittag wiederholt wurde. Schon nach wenigen Minuten kam es darin zu bemerkenswerten Aussagen eines Herrn Daniel Kapp, auf die ich hier kurz eingehen will.
Die Diskussionsleiterin Corinna Milborn fragte zunächst, weshalb sich Herr Sonnenbaum ausgerechnet eine Konferenz gegen Antisemitismus für seine Protestaktion ausgesucht habe. Sie erhielt die Antwort, dass sich gerade an diesem Ort die Verantwortlichen aufhielten, die „im Namen aller Jüdinnen diese Verbrechen einfach rechtfertigen“,[2] worauf Herr Kapp sofort erstaunt fragte: „Welche Verbrechen?“ Für ihn ist es nämlich so, dass die Staatsführung Israels nach den Terroranschlägen der Hamas zu jeder Gewalt berechtigt sei, auch wenn dabei massenhaft Zivilsten ums Leben kommen, die damit nicht das Geringste zu tun haben. In diesem Sinne erwiderte Herr Kapp auch sofort auf den von Herrn Sonnenbaum geäußerten Vorwurf des Völkermords, dass es nur ein relevantes Massaker gegeben habe, nämlich jenes der Hamas am 7. Oktober 2023. Dies rechtfertigt für ihn jede Gewalt Israels im Gaza-Streifen. Und weil eine berechtigte Gewalt per se keine verbrecherische Gewalt ist, kann Israel sich für Herrn Kapp auch keiner Verbrechen schuldig machen. Dass mit genau diesem Rechtsstandpunkt auch die Hamas sich zu ihren grauenhaften Morden am 7. Oktober 2023 berechtigt sieht, spricht in diesem Fall nur gegen sie. Auch die Kollateralschäden der Militäreinsätze von Israel in Gaza sollen ja letztlich nur die Ruchlosigkeit der Hamas beweisen, die Zivilisten als Schutzschild missbrauche und sich hinter „Schulen, Krankenhäusern, UNO-Einrichtungen“ verstecke, sodass dem Militär Israels gar keine andere Wahl bleibe, als auch das Leben unbeteiligter, unschuldiger Menschen zu vernichten. Den Vorwurf des Genozids, der laut Herrn Sonnenbaum gemäß der UN-Konvention im Vorgehen Israels gegeben sei, wies Herr Kapp mit den Worten zurück, dass so ein Vorwurf nur dem Antisemitismus entstammen könne, denn damit sei erwiesen, dass mit zweierlei Maß gemessen werde. „Als Assad in Syrien Menschen ermordet hat, hat es Sie nicht so weit gestört, dass sie irgendwo aufgetreten sind“, brachte Herr Kapp als Beispiel für seine Behauptung vor, auch gegen die Gewalt im Iran sei Herr Sonnenbaum stumm geblieben. Wach werde er erst dann, wenn sich Israel nach dem 7. Oktober 2023 sein Recht auf Selbstverteidigung nehme.
Die Argumentation des Herrn Kapp ist in ihrer Niedertracht schon wieder amüsant. Zunächst ist es lächerlich, weil überflüssig wie ein Kropf, wenn Herr Kapp verlangt, dass Kritik an Israel nur äußern dürfe, wer auch Syrien und den Iran an den Pranger stelle. Überflüssig ist dies deswegen, weil diese beiden Nationen ohnehin das in den westlichen Nationen allgemein anerkannte Feindbild sind, es hier also keines zivilgesellschaftlichen Engagements bedarf. Da noch mit zusätzlicher Anklage auf die Straßen zu gehen und zur „Kritik“ dieser Nationen aufzurufen, ist ungefähr so sinnvoll, wie Wasser in die Donau zu schütten. Weder der Iran noch Syrien erhalten Unterstützung von der EU und den USA, während dies im Falle Israels genau umgekehrt ist. Überdies kämpft Assad in Syrien ebenso gegen islamistische Fundamentalisten wie Israel in seinem Kampf gegen die Hamas. Will nun etwa Herr Kapp die Gewalt Israels mit jener Syriens und des Iran gleichsetzen? Dann müsste er doch denken, dass gegen Israel ebenso Sanktionen angebracht wären, wie sie gegen Iran und Syrien bereits bestehen! Wenn Herr Kapp den Vorwurf eines doppelten Maßes oder einer Doppelmoral erhebt, so fällt dieser angesichts des von ihm selbst vorgebrachten Vergleichs mit Iran und Syrien nur auf ihn und seinesgleichen zurück. Gerade deswegen sehen sich ja naive Moralisten wie Herr Sonnenbaum dazu aufgerufen, Israel zu kritisieren, weil sie die Geltung genau jener Maßstäbe auch für Israel fordern, an welchen der Iran und Syrien angeblich gemessen werden. Sie werden geradezu verrückt angesichts dieser „Ungleichbehandlung“ der Gewalt, die je nachdem, welches Subjekt sie ausübt, entweder verurteilt oder gebilligt wird.
Die US-Regierung ist gewiss ein ausgewiesener Experte für die Beurteilung von Genoziden, nachdem sie drei Generationen von Vietnamesen eliminiert hat, um dieses Land erfolgreich in die Steinzeit zurückzubomben. Darüber hinaus hat sie jede Menge Staaten unterstützt, sofern deren Ausrottung die „Richtigen“, nämlich tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder einer kommunistischen Partei oder auch nur irgendwie reformistischer Bewegungen, betraf, wie Vincent Bevins in seinem Buch Die Jakarta-Methode[3] nachgewiesen hat. Umso erfreulicher ist es nun für Israel, dass laut einer Meldung des ORF-Teletexts vom 14. 5. 2024 die US-Regierung keinen Völkermord Israels in Gaza zu erkennen vermag, auch wenn Israel mehr Einsatz dabei zeigen solle, unschuldige Zivilisten zu verschonen. Auch sei sich US-Präsident Biden dessen bewusst, dass die palästinensische Bevölkerung gerade durch die Hölle gehe, aber dieses Opfer müsse sie wohl für die Vernichtung der Hamas auf sich nehmen. Im zur gleichen Zeit tobenden Krieg Russlands gegen die Ukraine ist solches Verständnis natürlich nicht angebracht, da versteckt sich das Militär der Ukraine nicht hinter Zivilisten, wenn diese zu Tode kommen, sondern diese werden ganz gezielt von den „russischen Bestien“ getötet. Auch die Drohungen eines Genozids an Russen in der Ostukraine und die Tausenden Opfer von 2014 bis 2022 dürfen nicht als Erklärung der russischen Militäroperation gelten und werden daher einfach ausgeblendet. Nebenbei bemerkt besteht vor allem darin das Handwerk der als „Lügenpresse“ angeprangerten Medien, bestimmte Ereignisse ins gewünschte Licht zu stellen, unerwünschte oder nicht ins Bild passende Fakten hingegen zu relativieren oder zu verschweigen. Das ist auch der Grund dafür, dass kaum jemand von den Morden in den Ländern der sogenannten dritten Welt weiß, die in Indonesien 1965 stattfanden und das Land auf Linie brachten, also zum Vasallen der USA machten. „Die indonesischen Militäroffiziere wussten sehr wohl: Je mehr Menschen sie töteten, desto schwächer würde die Linke und desto zufriedener Washington.“[4] Da die kommunistische Partei Indonesiens, nach jener in Russland und China damals die drittgrößte der Welt, an einen friedlichen Weg zum Sozialismus glaubte, wurden deren unbewaffnete Mitglieder beliebig vom indonesischen Militär gefoltert und hingerichtet. Als Vorwand für ihr gewaltsames Vorgehen hatten die Militäroffiziere einen kommunistischen Staatsstreich vorgetäuscht. Für die massenhafte Ermordung von Zivilisten interessierte sich aber niemand, schon gar nicht die ach so kritische freie Presse, „solange es Kommunisten waren, die abgeschlachtet wurden“.[5]
Es gäbe noch genügend weitere Beispiele für sich von kommunistischen Verschwörern rund um den Globus umzingelt wähnende US-Regierungen, die sich genauso paranoid verhielten wie Stalin in seiner Angst vor Spionen und Saboteuren. Das Buch von Bevins bietet hierzu eine Fülle an Material, ebenso die Bücher von Michael Parenti wie Blackshirts and Reds, Against Empire und To Kill a Nation. Es lässt sich daher feststellen, dass Gewalt immer nur dann gegen deren Urheber spricht, wenn man dessen Zweck nicht billigt. Daher ist die Gewalt des Gegners immer ein riesiges Unrecht, während es an der eigenen Gewalt nichts auszusetzen gibt, diese nur aus Gründen der Selbstverteidigung ausgeübt werde. Was da so verteidigt werden muss, gab neulich Oberst Markus Reisner ganz offen zu, als er auf die Frage antwortete, was passieren würde, falls Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnen würde. Dann stehe nämlich die Weltordnung auf dem Spiel, die „unsere“ bisherige Stellung, „diese Vorreiterrolle, diese dominante Rolle“, sowie „unsere Rohstoffversorgung“ und „unseren“ Wohlstand garantiert habe; dann müsse man vielleicht glatt „auf Augenhöhe“ mit anderen Akteuren umgehen.[6] Na, wenn das nicht einmal ein klares Bekenntnis zu den imperialistischen Motiven des Kriegs gegen Russland ist! Um ihre Dominanz zu erhalten, müssen imperialistische Mächte eben auch immer wieder einmal gewaltsam für Ordnung sorgen. Die hierbei anfallenden Toten darf man ihnen natürlich nicht vorwerfen, die lassen sich doch schon angesichts der Vernichtungsqualität moderner Waffensysteme kaum vermeiden. Deswegen muss man dem Imperialismus auch zugestehen, dass er sich mindestens eine Million Tote pro Jahr erlauben darf, die als Genozid zu bezeichnen doch nur kleinlich wäre! Diese zynische These lässt sich bereits seit 2021 auf meiner Homepage finden.[7]
Solche Einsichten wären auch für die psychische Gesundheit eines Herrn Sonnenbaum günstig, denn dann müsste er nicht darüber verzweifeln, dass die von ihm so heißgeliebte österreichische Staatsgewalt sehr genau zu unterscheiden weiß, wo Gewalt in ihrem Interesse und daher zu unterstützen ist, wo sie hingegen ihren Interessen widerspricht und daher ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Dann muss man auch nicht zu einem zynischen Heuchler werden wie Herr Kapp, der offensichtlich jede Gewalt Israels als Verhinderung eines weiteren Genozids an den Juden gutheißt. In dessen Weltbild ist man anscheinend entweder Opfer oder Urheber eines Genozids, womit er Hitlers Lebensphilosophie entspricht, wonach das Leben ein ständiger Kampf sei, in dem der Schwache unterliegen muss, um eine Höherentwicklung der menschlichen Spezies zu erreichen. Der Unterschied zwischen der Hamas und Israel bestünde dann nur darin, dass es der Hamas an Mitteln für einen Genozid mangelt, während Israel auch dank der US-Unterstützung darüber verfügt, wie es eindrucksvoll beweist: „Die prompt nach Israel entsandten US-Berater dürfen ungefragt zusehen, wie die israelische Armee alle amerikanischen Rekorde bezüglich der Zerstörung ziviler Stadtbebauung und Tötung von Zivilisten innerhalb weniger Wochen einholt. Vor allem beeindruckt sie offensichtlich der Abwurf von Hunderten zerstörungsintensiver 900 kg-Fliegerbomben, von denen sie während des gesamten Krieges gegen den IS in Irak und Syrien nur eine einzige eingesetzt haben; usw.“[8] Es wäre zum Vorteil aller Beteiligten, wenn der sich so ungemein intellektuell und herablassend gebende Herr Kapp solche Fakten zur Kenntnis nähme und sich der Einsicht in die fatalen Konsequenzen seines Denkens nicht weiterhin verschließen würde.
[1] https://www.puls24.at/video/pro-und-contra/pro-und-contra-farb-attacken-uni-camps-und-palaestinenser-fahnen-wo-endet-der-protest-und-wo-beginnt/v1awru0n3x2he, aufgerufen am 14. 5. 2024.
[2] Die Anführungszeichen kennzeichnen wörtliche Auszüge aus den Gesprächen.
[3] Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023
[4] Ebd., S. 215
[5] Ebd., S. 217
[6] Was passiert, wenn Russland den Krieg gewinnt? Oberst Reisner ordnet das ein. #ntv, https://www.youtube.com/shorts/Ob7eP01Bdd0, aufgerufen am 14. 5. 2024
[7] https://lektoratsprofi.com/2021/02/08/imperialistische-leichenberge-und-haltlose-querdenker/, aufgerufen am 15. 5. 2024
[8] Gegenstandpunkt 1-24, München 2024, S. 27, Fußnote 7
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