2025

Das Elend linker Sozialstaatsillusionen

Wien, 1. 10. 2025

Die Rente ist sicher (zu gering)

Mit seinem Artikel über nachhaltige, weil starrsinnig gepflegte Rentenmärchen1 hat Suitbert Cechura am 2. August 2025 wohl einen wunden Punkt getroffen, wie sich der Reaktion von Reiner Heyse entnehmen lässt. Diesem zufolge richte sich Cechuras Kritik der Ideologie des Generationenvertrags gegen „ein Glanzstück der Sozialpolitik der 1950er Jahre“, dessen Urheber „richtige Lehren aus den Katastrophen der vorangegangenen 50 Jahre gezogen“2 hätten. Die Kritik des sogenannten „Umlageverfahrens“, wo die Altersversorgung durch Pflichtbeiträge der aktuell aktiven Lohnabhängigen finanziert wird, lege nämlich den Schluss nahe, diese Beiträge in Rentenkassen zu deponieren, obwohl das doch bereits zweimal gescheitert sei und diese Beiträge von der NS-Herrschaft „für Aufrüstung und Krieg zweckentfremdet“ worden seien. Anstatt einen Kapitalstock anzusparen, wurde also in der Nachkriegszeit beschlossen, die Pensionen aus den Löhnen und notfalls den Steuern zu finanzieren, da ohnehin „aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden“ müsse, wie Mackenroth laut Heyse 1952 festgestellt habe. Das ist insofern kein Unterschied zu einer auf Kapitalbildung beruhenden Altersrente, als ja auch die Wertpapiere nichts weiter als Beteiligungen am kapitalistischen Erfolg und Forderungen auf dessen Erträge darstellen, allerdings mit dem Unterschied, dass sie nicht auf den nationalen Reichtum beschränkt sind, sondern weltweit investiert werden können. Darüber hinaus besteht der Reichtum des Finanzkapitals auch nicht in der sinkenden Lohnsumme, sondern im stetig wachsenden Kapital großer Unternehmen, die auch aus Krisen meistens als Sieger hervorgehen und auf Kosten vernichteter Konkurrenten weiter wachsen.

Aus diesem Grund kommt der Staat auch nicht auf die Idee, für reiche Menschen ein Umlageverfahren zur Altersversorgung einzuführen. Sofern Angehörige dieser Klasse überhaupt eine Pension beziehen, weil sie sich in ihrem Unternehmen als Geschäftsführer angestellt haben, spielt diese für ihr Einkommen eine untergeordnete Rolle, weil die Kapitalerträge viel mehr dazu beitragen. Solche Bürger verpflichtet der Staat nicht zur Vorsorge für ihr Alter, ganz im Gegenteil zu jenen, die von Löhnen leben müssen. Diese halten in fortgeschrittenem Alter den Anforderungen des Kapitals nicht mehr stand und sollen daher durch die Beiträge der jüngeren Generationen finanziert werden, deren Verschleiß erst im Gange ist. Wie Cechura eigentlich unmissverständlich feststellt, sind Lohnabhängige also „wegen der Art ihres Einkommens gesetzlich gezwungen, einen Teil ihres Einkommens für die Altersvorsorge aufzuwenden“. (ebd.) Da hat der Staat auch gar nicht nachgefragt, ob die von dieser Verpflichtung betroffenen Bürger damit einverstanden sind, weswegen die Darstellung dieses staatlichen Zwangs als „Generationenvertrag“ eine Ideologie zu dessen Beschönigung darstellt.

Diesen schönen Schein des „Generationenvertrags“ will Heyse aber unbedingt für bare Münze nehmen und über dieses „Glanzstück der Sozialpolitik“ nichts kommen lassen. Deswegen ist für ihn die Kritik der Altersarmut, die sich mit der Einkommensquelle Lohnarbeit als Basis der Altersrente unvermeidlich einstellt, alles andere als unmissverständlich. Weil Heyse unbedingt daran festhalten will, dass Lohnarbeit eine taugliche Einkommensquelle darstellt, kann er dieser Kritik nur entnehmen, dass die Altersarmut durch alternative Finanzierungsweisen besser zu bewältigen, ja vielleicht sogar zu verhindern sei. Wenn Cechura die rhetorische Frage stellt, weshalb denn Lohnabhängige nicht wie Kapitalisten von ihren Einzahlungen einen Kapitalstock bilden können,3 dann sieht Heyse darin nichts als ein Angebot an das Kapital, von Lohnnebenkosten entlastet zu werden, indem die Vorsorge wieder ganz in die Hände jedes einzelnen Bürgers gelegt werde. Geradezu so, als hätte er Cechuras eigentliches Anliegen entlarvt, warnt er: „Da werden Fantasien zu Lohnkostensenkungen beflügelt. Es winken so schöne Zeiten wie einst vor 1891.“ (ebd.) Heyse will nicht einsehen, dass Cechura nicht ein bestimmtes Pensionssystem kritisiert, sondern die illusorische Erwartung, dass trotz der Beschränkung auf die Einkommensquelle Lohnarbeit mit dem „richtigen“ Pensionssystem Armut im Alter vermeidbar wäre.

Was die Ansprüche der pflichtversicherten Lohnarbeiter im Alter betrifft, hat sich durch das Umlageverfahren des Generationenvertrags nichts Wesentliches zu den früher bestehenden Rentenkassen geändert, die der Staat damals für Kriegsanleihen benutzt hat. Nun kann der Staat eben die Pensionsbeiträge erhöhen und die Ansprüche reduzieren, darüber hinaus muss er nur die Bedingungen für den Erwerb einer Pension erschweren. Dies erreicht der bürgerliche Staat relativ einfach, indem er die Zahl der Beitragsjahre erhöht, die zum Bezug einer Pension berechtigen, ebenso wie das Alter, ab welchem diese Berechtigung in Kraft tritt, das sogenannte „Pensionsantrittsalter“. Um dies politisch durchzusetzen, muss nur die leider unvermeidbare Notwendigkeit dieser Maßnahmen aufgrund einer staatlichen Notlage beschworen werden, für welche entsprechende Notstandsgesetze bereitstehen.

Wie auch immer ein Pensionssystem gestaltet werden mag, dessen Abhängigkeit von erfolgreicher Kapitalakkumulation bleibt bestehen, denn die davon bestimmte Anzahl der Lohnempfänger ergibt die Lohnsumme und damit die Basis der Pensionen. Wenn diese Basis nicht ausreicht und der Staat zu ihrer Finanzierung auf Steuereinnahmen zurückgreifen muss, dann spätestens sind wieder Reformen des Pensionssystems nötig, die in der Regel in die vorhin erwähnte Richtung gehen, dass höheren Beiträgen der Versicherten geringere Ansprüche und Leistungen gegenüberstehen. Angesichts dieser Ausgangsbedingungen mag Heyse schon Recht haben, wenn er behauptet: „Von allen denkbaren Systemen der Altersversorgung ist das Umlageverfahren, der Generationenvertrag, das sinnvollste.“ (ebd.) Allerdings gesteht Heyse mit den von ihm geforderten Rahmenbedingungen (garantiertes Versorgungsniveau, Absicherung gegen Altersarmut, Finanzierung durch alle Erwerbstätigen bei Ergänzungsleistungen aus dem Sozialetat des Staates) selbst ein, dass dieses Pensionssystem des politischen Willens bedarf, um die erwünschten Wirkungen zu entfalten, oder wie Cechura in seiner Replik auf Heyse ironisch anmerkt: „Seltsamerweise kennt der Autor gleich eine ganze Liste von Bedingungen, die erst noch erfüllt werden müssen, damit sein Lob Gewicht bekommt.“4 Da hätte Heyse genauso gut fordern können, dass der Staat doch bitte für eine ordentliche Pension sorgen möge. Aber wer unbedingt an seinen Sozialstaatsillusionen festhalten will, der findet, was er sucht, ausgerechnet in Österreich, dessen Pensionssystem Heyse als Vorbild empfiehlt – ein Pensionssystem, das dem österreichischen Staat als Belastung gilt, das er daher gerade abwickelt bzw. reformiert, um seine Zuschüsse loszuwerden oder zumindest zu senken, für die er eine bessere Verwendung weiß, als damit den Lebensabend nicht mehr gebrauchter Menschen zu finanzieren.

Wohnen muss leistbar sein

Nicht nur zu Pensionen, auch zu den Mieten pflegen sich als Linke verstehende Menschen ihre Illusionen und sind daher auch nicht in der Lage, die Argumente ihrer Gegner zurückzuweisen. Ein Beispiel dafür ist die gerade sehr stark in den Medien präsente Heidi Reichinnek,  Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, die sich für eine Mietpreisbremse einsetzt. In einer Diskussion, deren Internet-Quelle ich leider nicht mehr gefunden habe, hat sie sich für leistbaren Wohnraum durch Mietpreisbremsen starkgemacht. Das kann ja zunächst in der Praxis nichts anderes als ein gesetzliches Verbot weiterer Mieterhöhungen sowie die Festlegung einer Obergrenze für den Quadratmeterpreis bedeuten. Darauf kommt natürlich sofort die Entgegnung, dass dies nur zum Rückgang der verfügbaren Wohnungen führen würde, denn zum einen würden mangels Profit keine weiteren Wohnungen gebaut, zum anderen vorhandene Wohnungen nicht mehr angeboten werden, weil sich damit nicht genug verdienen ließe. Bestehende Mieten würden zwar nicht steigen, Menschen auf der Suche nach Wohnraum hätten aber darunter zu leiden. Und das wird schon so sein, zumindest dann, wenn es alternative Anlagesphären gibt, die höhere Gewinne versprechen. Schließlich vergleicht das Finanzkapital permanent die Rendite-Möglichkeiten von Finanzinvestitionen auf der ganzen Welt und sieht es gar nicht gerne, wenn der Staat diese beschränkt.

Etwas seltsam ist angesichts dieses Zusammenhangs von Preis und Angebot einer Immobilie das Lob hoher Mieten als Voraussetzung nicht nur höherer Investitionen in den Wohnungsbau, sondern auch langfristig niedriger Mieten. Das ist nämlich allen Ernstes das Argument, das gegen Mietpreisbremsen vorgebracht wird. Und da hätte Reichinnek schon einfallen können, dass es doch keinen Unterschied für Hauseigentümer ausmache, ob ihre Mieteinkünfte durch ein höheres Wohnungsangebot oder durch eine Mietpreisbremse sinken würden. Vermutlich ist allen Beteiligten in dieser Diskussion dieser Widerspruch nicht aufgefallen, weil insgeheim ohnehin niemand mit einer Mietsenkung durch freie Mietpreisbildung rechnet. Schließlich weiß jeder, dass mehr Wohnungen nur dann gebaut, renoviert und angeboten werden, wenn sich damit gut verdienen lässt. Die einzige reale Alternative lautet im Kapitalismus eben: Wer eine brauchbare Wohnung haben will, muss das Profitbedürfnis des Grundeigentums befriedigen und dafür die entsprechende Geldsumme aufbringen, denn sonst gibt es zwar vielleicht billige, aber nur wenige und heruntergekommene Wohnungen.

Weil der Profit stimmen muss, damit überhaupt produziert und gehandelt wird, muss auch die Profitrate in industriellen und kaufmännischen Betrieben gehegt und gepflegt werden. Wenn das Kapital also durch zu hohe Investitionen in Immobilien eine Blase bildet und seine Gewinnerwartungen in diesem Bereich platzen, verlagert es die Investitionen, ehe es sich mit niedrigen Mietpreisen und in der Folge auch mit stagnierenden Marktpreisen für seine Immobilien abfindet. Da müsste schon die Profitrate weltweit sinken, damit das Kapital auch niedrige Mieteinnahmen akzeptieren müsste. Aber solche Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und den Gegensatz von Kapitalinteressen zu den Lebensinteressen der übrigen Bürger einzusehen, ermöglicht es eben nicht, sich die bürgerlichen Lebensverhältnisse so zurechtzulegen, dass sie mit den richtigen sozialstaatlichen Maßnahmen doch noch eine vernünftige Einrichtung sein könnten, die allgemein nützlich ist. Dafür braucht es eben Sozialstaatsillusionen, auch wenn dies offensichtlich nicht nur zu materiellem, sondern auch zu geistigem Elend führt.

Lohn-Preis-Spirale

Dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit und der Widerlegung einer hierzu beliebten Ideologie widmet sich Karl Marx in seiner Schrift Lohn, Preis, Profit, die auch sehr brauchbar für jene ist, die eine Einführung ins Werk von Marx suchen. Darin weist er nach, dass höhere Löhne nicht einfach durch höhere Preise kompensiert werden können, sondern eine allgemeine Anhebung der Lohnhöhe vielleicht die Preise für Güter des unmittelbaren täglichen Bedarfs zu steigern ermöglicht, dafür aber die Einkünfte der in der Luxusproduktion engagierten Kapitalisten schmälert. Diese haben nicht nur höhere Ausgaben zur Entlohnung des Personals in ihren Unternehmen und Residenzen zu leisten, sondern müssen auch mehr für alltägliche Konsumgüter bezahlen. Sie können aber nicht die Preise ihrer Luxusware entsprechend erhöhen, sondern müssen diese sogar senken, weil die Kaufkraft des Lebensmittelkapitals vielleicht erhalten bleibt, jene der übrigen Kapitalisten jedoch sinkt, die höhere Kosten für Löhne und Lebensmittel haben. Marx hat diesen Zusammenhang sehr klar dargestellt: „Daher würde in diesen Industriezweigen die Profitrate fallen, und zwar nicht bloß im einfachen Verhältnis zu der allgemeinen Steigerung der Lohnrate, sondern im kombinierten Verhältnis zu der allgemeinen Lohnsteigerung, der Preissteigerung der Lebensmittel und dem Preisfall der Luxusartikel.“5

Dies würde zu Produktionsumschichtungen führen, sodass schließlich mehr Konsumgüter für die Arbeiter und weniger Luxusgüter für die Besitzenden produziert würden, wodurch sich die Profitraten wieder ausgleichen. Auch eine Ausweitung des Konsums der Arbeiter auf Luxusartikel, die ja im Preis gefallen sind, wäre natürlich möglich. Würde dieser Fall eintreten, so hätten die Proleten den Ausfall der Nachfrage nach Luxuswaren teilweise kompensiert und ihren Konsum auf Kosten der Kapitalherren erweitert, sodass es ohnehin nicht zu übersehen wäre, wer von einem höheren Lohn den Nutzen und wer den Schaden hat. Marx hat bereits vor der oben zitierten Zusammenfassung darauf hingewiesen, dass die dadurch bewirkte Umstrukturierung der Produktion nicht geringe Ausmaße hätte, da es sich bei den Produzenten von Luxusgütern keineswegs nur um eine Handvoll handelt: „Wenn ihr bedenkt, daß 2/3 des nationalen Produkts von 1/5 der Bevölkerung – oder sogar nur von einem Siebtel, wie kürzlich ein Mitglied des Unterhauses erklärte – konsumiert werden, so begreift ihr, welch bedeutender Teil des nationalen Produkts in Gestalt von Luxusartikeln produziert oder gegen Luxusartikel ausgetauscht und welche Unmenge selbst von den Lebensmitteln auf Lakaien, Pferde, Katzen usw. verschwendet werden muß, eine Verschwendung, von der wir aus Erfahrung wissen, daß ihr mit steigenden Lebensmittelpreisen immer bedeutendere Einschränkungen auferlegt werden.“6 Dass diese Verteilung des Reichtums zwischen Arm und Reich, zwischen Lohnarbeit und Kapital heute gewiss noch viel größere Dimensionen angenommen haben wird, ist wohl eine naheliegende Schlussfolgerung.

Damit erweist sich die Behauptung einer Lohn-Preis-Spirale als Ideologie, was sich ja bereits daran erkennen ließe, dass sich das Kapital einer Forderung nach Lohnerhöhung widersetzt. Wenn es nämlich so einfach wäre, dass sich das Kapital für höhere Löhne durch höhere Preise schadlos halten könnte, dass also die lohnabhängige Bevölkerung gar nichts davon hätte, dann wäre es vollkommen überflüssig, Forderungen nach einer Lohnerhöhung zurückzuweisen. Es wäre sogar irrational, eher einen Streik zu riskieren, als höhere Löhne zu gewähren, wenn diese doch ganz einfach durch Preiserhöhungen kompensiert werden könnten! Da die vermeintlichen Linken der 2020er-Jahre aber viel vom Sozialstaat sowie von Genderismus, Multikulturalismus und Wokeismus, jedoch nichts von Klassenkampf halten, sind sie auch nicht in der Lage, die Ideologie der Lohn-Preis-Spirale zu kritisieren, obwohl bereits die ganz banale Praxis des Streits um die Lohnhöhe diese Ideologie widerlegen würde, wenn man denn bereit wäre, diesen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen.

1Suitbert Cechura: Nachhaltige Rentenmärchen, https://overton-magazin.de/top-story/nachhaltige-rentenmaerchen/, aufgerufen am 30. 9. 2025

2Reiner Heyse: Nachhaltiger Generationenvertrag – kein Märchen, https://overton-magazin.de/top-story/nachhaltiger-generationenvertrag-kein-maerchen/, aufgerufen am 30. 9. 2025

3Suitbert Cechura: Nachhaltige Rentenmärchen, a. a. O.: „Warum stammen die Leistungen nicht aus den Beträgen, die laut penibler Abrechnung vom Einzelnen für sein Alter in der Kasse deponiert wurden?“

4 Suitbert Cechura: Rentenversicherung: Märchen werden nicht glaubwürdiger, wenn man sie wiederholt, https://overton-magazin.de/top-story/rentenversicherung-maerchen-werden-nicht-glaubwuerdiger-wenn-man-sie-wiederholt/, aufgerufen am 30. 9. 2025

5 Karl Marx: Lohn, Preis, Profit, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 16, S. 108

6 Ebd., S. 107

Was ein Holocaust ist, bestimmen wir!

Wien, 12. 9. 2025

2010 stellt Gilbert Achcar, ein in London tätiger Professor für Studien über den Orient und Afrika, in seinem Buch The Arabs and the Holocaust die Frage, ob alle Formen der Leugnung des Holocaust gleich zu bewerten seien. Die darauf folgende Frage suggeriert, dass Leugnung nicht gleich Leugnung sei, dass man bestimmten Personenkreisen es nicht übel nehmen dürfe, wenn sie den Holocaust leugnen oder Rassisten seien: „Sollte man nicht zwischen einer Leugnung, die von Unterdrückern kommt, und einer Leugnung aus den Mündern der Unterdrückten einen Unterschied machen, so wie der Rassismus der herrschenden Weißen vom Rassismus der unterdrückten Schwarzen zu unterscheiden ist?“1 Es soll also durchaus zulässig sein, den Holocaust zu leugnen oder ein Rassist zu sein, abhängig von der gesellschaftlichen Position des urteilenden Subjekts. Arabischen Regierungen und Intellektuellen gesteht er dieses Recht zwar nicht zu, diese sollen ihr Leugnen beenden, aber bei den arabischen Massen sei dies entschuldbar, jedoch nicht wegen mangelnder „Bildung“, sondern „weil es doch aus berechtigter Wut rühre und aus gerechtfertigtem Haß“.2 Der Rassismus und die damit verbundene Holocaust-Leugnung der arabischen Maßen seien als Formen von Widerstand und Gegenwehr hinzunehmen und nicht als falsche Beurteilung eines politischen Konflikts zu kritisieren. Ganz anders stellt sich das für Bert Brecht dar, wie ich bereits in einem älteren Beitrag gezeigt habe: Rassismus ist ein Fehler, unabhängig von der Person.3 In seinen Geschichten vom Herrn Keuner hebt Brecht hervor, wie schnell sich dieser Fehler einstellen kann und wie notwendig es ist, sich dessen bewusst zu sein. Brechts Text stellt Hass nicht als berechtigt, sondern als unüberlegte Reaktion dar, als Verhalten, das ohne Gebrauch des Verstandes, ohne gedankliche Reflexion stattfindet und sich daher als Fehler erweist:

Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer

Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: „Ich kann überall hungern.“ Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. „Wodurch“, fragte Herr K., bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen.“4

Warum kommt Achcar nicht auf diesen einfachen Gedanken, dass der Hass arabischer Massen auf Juden nicht gerechtfertigt, sondern eine gedankliche Fehlleistung bzw. eine Folge unterlassenen Denkens ist? Oder anders gefragt: Was außer blankem, blindem Hass könnte einen Araber dazu, bringen, den Holocaust zu leugnen? Gilt den Arabern der Holocaust als Rechtfertigung Israels für ihre Vertreibung, um Raum für jüdische Siedler zu schaffen? Soll also mit der Leugnung des Holocaust dem Staat Israel die Legitimation für seine Gewaltanwendung bestritten werden? Wird der Holocaust deswegen in Frage gestellt, weil er zur Gleichsetzung des Kampfes der Palästinenser gegen Israel mit diesem genutzt wird? Sind Holocaust-Leugner der Auffassung, dass solche Gräueltaten ohnehin immer wieder vorkommen, ja sogar weit schlimmere? Stehen sie vielleicht gar auf dem Standpunkt, dass nur dann sofort von Genozid gesprochen werde, wenn „ein paar Juden“ umkommen, während dies bei anderen Völkern wie etwa den im Ersten Weltkrieg vernichteten Armeniern niemanden interessiert? Hat die Sowjetunion nicht sogar mehr zivile Opfer durch den NS-Staat hinnehmen müssen, von der Gesamtzahl ganz zu schweigen, statt Reparationsleistungen jedoch die Androhung endgültiger Vernichtung bis zur Selbstaufgabe erhalten? Beweist Netanyahus Krieg im Gaza-Streifen, dass Gefahr laufe, zum Opfer eines Holocaust zu werden, wer sich scheue, als Täter zu fungieren? Setzt er damit nun Hitler nachträglich ins Recht, dessen Genozid ja auch nur dem vermeintlichem Vernichtungswerk der Juden, der im Inneren der Nation wirkenden Feinde, gelten sollte? Würden Nazis Israels militärisches Vorgehen als Bestätigung der „jüdischen Gefahr“ betrachten oder wären sie beeindruckt von der Schlagkraft der israelischen Armee? Leugnen Araber den Holocaust vielleicht deswegen, weil sie die Vernichtung der Juden, die mit diesem Begriff verbunden ist, in Ordnung finden und selbst anstreben? Fragen über Fragen!

Auch in anderen Teilen der Welt komme es zu Gewaltakten in einem Ausmaß, das jenem Israels keineswegs nachstehe, nur im Falle Israels rege sich sofort Empörung, nur dem Staat der Juden gestehe man nicht zu, was jeder andere Staat als sein gutes Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nimmt. So beklagt eine Frau der Demokratischen Republik Kongo die selektive Wahrnehmung, welcher die Opfer in der Demokratischen Republik Kongo gleichgültig sind, obwohl besonders deren Osten als Rape Capital of the World gelte, ganz im Gegensatz zu den Opfern in Gaza.5 Wenn Nazis beklagen, dass „ein paar ermordete Juden“ gleich als Holocaust gelten, so weist auch Israel den Vorwurf eines Genozids zurück, wenn seine Armee doch nur „ein paar Araber“ ins Jenseits befördere. Das ist ja das „Praktische“ und „Schöne“ an einer imperialistischen Weltordnung, dass immer wieder der Einsatz von massiver Gewalt zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung notwendig ist! Da kann man bequem Vorwürfe eines Genozids erheben oder umgekehrt als Normalfall imperialistischer Konflikte relativieren! Als ich 2021 in dem Artikel Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“ geschrieben habe, „dass der Imperialismus eine Million Tote pro Jahr frei habe“,6 also mit dieser Anzahl an Opfern als Minimum zu rechnen sei, habe ich diese Zahl wohl noch zu tief angesetzt. Angesichts der weltweit üblichen Gewaltaffären der imperialistischen Staatenwelt sieht Israel in seinem militärischen Vorgehen keinen Genozid und kann es sich nur als Antisemitismus erklären, wenn ihm dieser vorgeworfen wird. Schließlich soll ja gerade mit der Behauptung der Einzigartigkeit des Holocaust der Nazis jede Gewalt in Ordnung gehen, solange sie nur nicht genozidale Ausmaße annehme oder in genozidale „Auswüchse entarte“, wobei sich die Frage stellen würde, wer feststellt, ab wann die Vernichtung von Menschen als Genozid gelten darf. Auch Deborah Feldman hat in einem Gespräch über ihr Buch Judenfetisch darauf hingewiesen, dass die Holocaust-Erinnerungskultur erst so richtig in Fahrt kam, als es darum ging, die gerade aufkommenden Forderungen der kolonisierten Welt zum Schweigen zu bringen.7 Deren Ansprüche gelten wohl als Anmaßung im Verhältnis zum Leid der Juden, die daher allein Forderungen nach Wiedergutmachung stellen dürften. Oder anders gesagt: Um die Unterstützung der Westmächte zu erlangen, muss man zumindest als Holocaust-Opfer geadelt worden sein. Vielleicht erhält diesen Status aber auch nur ein Staat, dessen Existenz mit den Zielen arabischer Staaten im Nahen Osten nicht vereinbar ist und dadurch den Interessen der USA entspricht. Dann würde die Beurteilung von Massenvernichtungen als „leider“ unvermeidbares „Übel“ oder als unverzeihlicher Genozid bzw. Holocaust davon abhängen, ob diese Massenmorde den Interessen der herrschenden Mächte dienen oder widersprechen.

Mit solchen Bilanzen über die zahlreichen Massenvernichtungen der von der Rechtmäßigkeit ihres Einsatzes militärischer Gewalt überzeugten Staaten setzt man sich natürlich dem Verdacht der Relativierung der Massenvernichtung aus, die der NS-Staat an den Juden verübt hat. Es stellt sich nur die Frage, ob es tatsächlich als Verdienst eines Staates gelten soll, wenn er seine Morde nach „rationalen“ Kriterien und daher maßvoll ausführt, anstatt sich blindem Hass und einem davon getriebenen absoluten Vernichtungswillen hinzugeben. Diese „Rationalität“ fällt den imperialistischen Führungs- und Ordnungsmächten aufgrund ihrer überlegenen militärischen Gewalt natürlich leicht, dank welcher der Feind schnell besiegt ist und dafür weniger Opfer erforderlich sind. Auch Wahnvorstellungen wie jene der Nazis über die Juden, dass diese die Nation von innen heraus bekämpfen und schwächen würden, indem sie den Siegeswillen untergraben, sind nicht unbedingt nötig für die nationale Selbstbehauptung, auch wenn die Domino-Theorie der USA solchen Hirngespinsten schon recht nahe gekommen ist, die ja als Begründung des Kriegs gegen Vietnam gilt. Zwar haben solche Wahnvorstellungen ihre Grundlage in der nationalen Konkurrenz, sind aber dafür nicht zwingend notwendig.8 Soll man es nun aber tatsächlich einer Nation zugute halten, wenn sie in ihren imperialistischen Handlungen ohne solchen Wahn auskommt?

1 Gilbert Achcar, zit. n. Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, Springe 2017, S. 241

2 Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft, S. 242

3 https://lektoratsprofi.com/2021/10/19/rassismus-ist-ein-fehler-unabhaengig-von-der-person/, aufgerufen am 12. 9. 2025

4 Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner, in: Kalendergeschichten, Berlin 2013, S. 140

5 Kongolesische Frau sendet eine harte Botschaft an palästinensische Demonstranten, https://www.youtube.com/watch?v=-8qwZ90NXYU, aufgerufen am 14. 9. 2025

6 Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“, https://lektoratsprofi.com/2021/02/08/imperialistische-leichenberge-und-haltlose-querdenker/, aufgerufen am 14. 9. 2025

7 99 zu eins: Judenfetisch mit Deborah Feldman, https://www.youtube.com/watch?v=xheEIBN4HRo&t=3439s, Minute 50,40, aufgerufen am 14. 9. 2025

8 Vgl. dazu auch mein Buch Von Nutzen und Nachteil des Faschismus für die Demokratie, Wien 2013

Neues von der Arbeitsfront

5. 8. 2025

Es muss wieder mehr und länger gearbeitet werden, tönt es durch den Blätterwald der bürgerlichen Haus- und Hofberichterstattung. So wird die deutsche Wirtschaftsministerin Katherina Reiche in der Zeitung Die Welt vom 28. 7. 2025 für ihren Mut gewürdigt, die zwar unangenehme, aber unvermeidbare Notwendigkeit deutlich auszusprechen, dass „wegen des demografische Wandels (…) die Deutschen später in Rente gehen“. Originalton Frau Reiche: „Wir müssen mehr und länger arbeiten.“ Der demographische Wandel und die steigende Lebenserwartung der Bürger in den führenden Nationen würden sonst eine Überlastung des Pensionssystems herbeiführen, das bereits jetzt auf Zuschüsse der öffentlichen Hand angewiesen ist, sich also nicht mehr allein durch die Pensionsbeiträge aus der Summe der Gehälter und Löhne finanzieren lässt. Daher freut sich Moritz Seyffahrt in seinem Kommentar über diesen „notwendigen Tabubruch“ zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit, denn bereits jetzt hat das Budget darunter zu leiden, wie er feststellt: „Mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr fließen aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkassen.“ Auch in Österreich liebäugelt IV-Präsident Georg Knill mit der Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 65 auf 70 Jahre1 und der Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer ist der Auffassung, dass das geringere Einkommen einer Teilzeitbeschäftigung diese immer noch viel zu attraktiv mache. Schließlich haben diese trotz geringerer Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Vollzeitarbeiter, weswegen ja auch der bereits erwähnte Herr Knill dafür eintritt, „dass Menschen in Teilzeitarbeit mehr in den Sozialversicherungstopf einzahlen sollten“.2

Bei so viel Einigkeit will das Nachrichtenmagazin profil natürlich nicht zurückbleiben, sondern lieber die elitäre Speerspitze bilden, indem es gleich einmal grundsätzlich vorgibt, welche Aufgaben anstehen – das ist man der Selbstdarstellung als „kritisches Medium“ einfach schuldig. So weiß Chefredakteurin Anna Thalhammer bereits in Ausgabe 29 vom 19. 7. 2025 auf Seite 5 von der großen Gefahr für den sozialen Frieden zu berichten, die bei weiterem Aufschub der unvermeidbaren Pensionsreform drohe. Dass „immer weniger Junge“ für „immer mehr Ältere“ arbeiten müssten, gehe sich nicht nur finanziell, sondern auch emotional nicht aus, führe also zur Gemütsverdunkelung der Jungen, wofür Thalhammer einen untrüglichen Spürsinn beweist und daher feststellt; „Wut liegt in der Luft.“3 Und diese Wut wird sich gewiss nicht durch ein „Pensionsreförmchen“ besänftigen lassen, wie die Chefredakteurin die Pläne der Regierung nennt. Diese würde sich nämlich vor einer richtigen Pensionsreform, die diesem Namen auch verdiene, drücken, um sich nicht mit der großen Wählergruppe der Pensionisten anlegen zu müssen. In diesem Urteil zeigt sich auch, was man in der Redaktion des profil unter Kritik versteht: Dienationense richtet sich gegen die mangelhafte Durchsetzung eines Zwecks, welcher umgekehrt offensichtlich als unantastbar oder alternativlos gilt. Eine Kritik, die für den Erfolg einer Sache eintritt, ist aber eine Totalaffirmation dieser Sache, in diesem Fall eben der Notwendigkeit einer Pensionsreform. Das würden die hier angeführten Personen des bürgerlichen Pressewesens auch gar nicht bestreiten, die sich vielmehr fragen würden, wie man denn nicht diesen Zweck gutheißen und affirmieren könne.

Wenn man eine affirmative Haltung zum Kapitalismus einnimmt, bleibt auch tatsächlich nichts weiter übrig, als die politischen Maßnahmen auf ihre Eignung zur Förderung des Kapitalstandorts zu begutachten und angesichts des für Pensionen „vergeudeten“ Geldes eine radikale Pensionsreform zu fordern, denn Thalhammer hat die keinerlei Widerspruch duldenden Fakten: „Ein Viertel des jährlichen Budgets muss für die Finanzierung von Pensionen zugeschossen werden. In nur wenigen Jahren soll dieser Beitrag auf ein Drittel anwachsen.“4 Wir können also vermerken, dass die auf ihren Aufbau des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg stolzen Generationen, die ihre Pensionen immer schon als wohlverdientes Recht für diese Pionierleistung betrachtet haben, nun für einen Schuldenberg gescholten werden, mit dem sie ihre Pensionen auf Kosten der Jüngeren finanziert haben. Das ist doch einmal eine feine Auskunft über den „Wohlstand“ der bürgerlichen Staaten, den deren Führungen immerzu als Einwand gegen die realsozialistischen Staaten beschworen haben! Dieser „Wohlstand“ war anscheinend nur auf Schulden gegründet und lässt sich nun dank des Sieges über den realen Sozialismus auch wieder abbauen! Wenn nur nicht dieses trotzige Wahlvolk sich hier als störrisch erweisen würde! Aber dafür hat die bürgerliche Gesellschaft ja ihre kritische Presse, um mit diesem verwöhnten und verweichlichten Volk einmal Klartext zu sprechen! Da will auch Rüdiger Safranski seine Schuldigkeit tun und erklärt den jahrzehntelangen angeblichen Genuss einer „Friedensdividende“ unter dem amerikanischen Schutzschild zur Ursache eines verwöhnten, nicht mehr wehrfähigen Volkes: „Eine an Frieden gewöhnte, wenn man so will: verwöhnte Gesellschaft muss auf einmal wehr- und kriegstüchtig gemacht werden.“5 So gibt Safranski der kommunistischen Propagandalüge Recht, dass es im Imperialismus kriegsträchtig zugeht und somit eine Illusion war zu glauben, mit dem Untergang der Sowjetunion das Zeitalter ewigen Friedens und das Ende der Geschichte ausrufen zu können. Aber nicht nur der Wehrwille, auch der Arbeitswille liegt darnieder, berichtet Anna Thalhammer, denn angesichts des für die Pensionen verschwendeten Geldes, das für Zukunftsinvestitionen fehle, leide die Arbeitsmotivation der Jungen, denen ja schon in Aussicht gestellt wird, dass ihr Pensionsantrittsalter höher und ihre Lebensarbeitszeit länger sein müsse als jene der Pensionisten der letzten vierzig Jahre. Weil aber die Übermacht der Alten mehr Wählerstimmen repräsentiert als die wenigen Jungen unterlasse es der Staat, hier für die notwendige „Gerechtigkeit“ einer für alle Generationen längeren Lebensarbeitszeit zu sorgen.

Beide Aussagen, dass eine Pensionsreform und die Wiedererlangung von Wehrfähigkeit notwendig seien, sind unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz und imperialistischer Konflikte zutreffend. Wer für Kapitalismus ist, kann diese Überzeugungen nicht kritisieren, wer sie kritisieren will, kommt nicht umhin, den Kapitalismus zu kritisieren. Das soll nun in groben Umrissen und in aller Kürze geschehen. Die Pensionen sind im Kapitalismus so eingeführt worden, dass sie sozusagen zur Klassensolidarität zwangen: Die aktuell beschäftigten Arbeiter sollten durch vom Staat erzwungene Abzüge von ihrer Lohnsumme für die Finanzierung der Pensionen sorgen, auf die auch nach einem langen und entbehrungsreichen Arbeitsleben jene Menschen angewiesen waren, die den Leistungsanforderungen kapitalistischer Produktion nach jahrzehntelangem Raubbau an ihrer Gesundheit nicht mehr gerecht werden konnten. Da nach dem Zweiten Weltkrieg jede Menge an Kapital vernichtet war und unter der US-Herrschaft eine nahezu den gesamten Globus mit Ausnahme des realsozialistischen Staatenblocks umspannende beschleunigte Kapitalakkumulation sich entwickeln konnte, ging diese Rechnung zunächst auch perfekt auf. Dass die Arbeitsbedingungen des Wiederaufbaus eher nicht besonders rüstige Pensionisten hervorbrachten, die nicht allzu lange Pensionen beziehen konnten, ehe sie der Tod ereilte, war dafür sicher kein Nachteil.

In den 1960er-Jahren kam es zu ersten Erscheinungen des Umschlags der beschleunigten Kapitalakkumulation zur Überakkumulation von Kapital. Diese zeigt sich darin, dass der mit der Steigerung kapitalistischer Arbeitsproduktivität verbundene Effekt der Verdrängung von Arbeitskräften nicht mehr durch das beschleunigte Kapitalwachstum kompensiert wird. Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit führt nämlich im Kapitalismus nie zu weniger Arbeit für alle, sondern zur Verringerung der Beschäftigung, denn zum Einsatz neuer Technologie kommt es im Kapitalismus nur unter der Voraussetzung, dass deren Anschaffung und Betrieb weniger finanziellen Aufwand erfordert, als dadurch an Lohnkosten gespart werden kann. Es muss also mehr bezahlte Arbeit verdrängt werden, als die neue Technik kostet, und daher kommt es zur Freisetzung von Arbeitskräften, wenn dieser Verdrängungseffekt nicht durch das Kapitalwachstum kompensiert wird. In der Phase der beschleunigten Kapitalakkumulation wird dieser Effekt sogar überkompensiert, weil das Kapital insgesamt mehr wächst, als es Arbeitskräfte wegrationalisiert. Fällt dieser Effekt weg, weil das Kapital die Grenzen seines Wachstums erreicht, so schlägt die beschleunigte Kapitalakkumulation in die Überakkumulation um. Es existiert zu viel Kapital, als dass es sich noch profitabel einsetzen ließe. Weil dessen Anspruch auf Vermehrung nicht mehr zu erfüllen ist, kommt es zur Kapitalentwertung und zur beschleunigten Freisetzung von Arbeitskräften. Anstatt den Verdrängungseffekt der Rationalisierung des kapitalistischen Arbeitsprozesses durch sein Wachstum zu kompensieren, verstärken Vernichtung und Schrumpfung des Kapitals diesen Effekt noch. Daher stieg in den 1960er-Jahren die Arbeitslosenrate der führenden Industrienationen, es kam zu politischem Widerstand und auch wieder zu Kritik am Kapitalismus, deren sichtbarster Ausdruck die Studentenproteste von 1968 waren. Erst im Zuge der verstärkten militärischen Aufrüstung und der dadurch schließlich bewirkten Selbstaufgabe des Sowjetblocks zum Ende der 1980er-Jahre konnte diese Überakkumulationskrise bewältigt und mit der Expansion in die vormals realsozialistischen Staaten wieder eine längere Phase beschleunigter Kapitalakkumulation etabliert werden.6

Nun hat der Kapitalismus bereits seit einiger Zeit wieder eine Überakkumulation von Kapital hinbekommen, die sich in einem Verdrängungswettbewerb der Unternehmen und der Nationen auswirkt. Zum sogenannten demographischen Wandel, dass immer mehr Ältere von immer weniger Jüngeren gegenüberstehen, hat dies insofern beigetragen, als in den führenden Nationen die Lohnabhängigen dazu genötigt sind, ihre Konkurrenzfähigkeit zu hegen und zu pflegen, denn die permanente Umwälzung der Produktivkräfte verlangt von ihnen einen flexiblen Einsatz ihrer Arbeitskraft samt der Bereitschaft zur Mobilität, also zum Wechsel von Wohnort und Arbeitsplatz gemäß den Interessen des Kapitals. Das verträgt sich nicht so gut mit der Kinderbetreuung, weil diese sowohl finanzielle Mittel als auch zeitlichen Aufwand verlangt, die nun der Pflege einer konkurrenzfähigen Arbeitskraft fehlen. Um nicht jederzeit ersetzbar zu sein und nicht nur schlecht bezahlte Arbeit leisten zu können, sind die Bürger aber dazu genötigt, die Qualität ihrer Arbeitskraft zu erhalten und zu steigern, sie können sich daher nur wenig Kinder leisten. Hierzulande gilt dies als Folge ihres Hangs zu Bequemlichkeit und Luxus, obwohl dies nur den Versuch darstellt, dem gewöhnlichen Elend einer kaum qualifizierten Arbeitskraft zu entkommen. Dieses Elend wird in die Staaten der Peripherie ausgelagert, zu denen sich seit dem Ende des „Ostblocks“ auch die ehemals realsozialistischen Gebilde zählen dürfen.

Trotz der mit der gesteigerten Arbeitsproduktivität verbundenen Vereinfachung der Arbeit hätte es der Kapitalismus schon noch hinbekommen, die Lebenserwartung gering zu halten, indem er seinen Ansprüchen gemäße Leistungsstandards setzt, die sich nicht so leicht ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen erfüllen lassen. Da aber die Medizin und die Pharmazie sehr große Fortschritte gemacht haben, ist die Lebenserwartung in den führenden Industrienationen tatsächlich gestiegen, allerdings um den Preis hoher Ausgaben der staatlichen Kassen für die Gesundheit. Allein für Medikamente wachsen diese Ausgaben ständig, sodass man zynisch behaupten könnte, der Staat habe sich durch die Fortschritte der Medizin eine Kostenexplosion der Ausgaben für Gesundheit und damit auch der Ausgaben für die Pensionen eingehandelt, die sich wechselseitig weiter steigern: Mehr Medikamente führen zu mehr Pensionisten, die wiederum mehr Medikamente benötigen etc.

Nun kommt es also zur Schere zwischen Einzahlungen und Auszahlungen in die Pensionsversicherung, ebenso haben auch die Krankenkassen immer wieder mit finanziellen Engpässen zu kämpfen, da können sie sich noch so oft in „Gesundheitskasse“ umbenennen. Die Ausbeutung hat so prächtig funktioniert, dass immer weniger Lohnarbeiter für das Kapitalwachstum nötig sind, wie hoch oder gering dieses auch immer sein mag. Weil die Lohnsumme immer kleiner wird, können daraus immer weniger Pensionen finanziert werden und der Staat muss dafür Mittel aufwenden, die ihm dann zur Pflege der Attraktivität seines Standorts für das Kapital fehlen. Deswegen entdecken die Apologeten des Kapitals auch keine Milchmädchenrechnung in ihrer Aussage, dass eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung auch eine längere Arbeitszeit verlange. Wenn hohe Arbeitslosigkeit manche Leute auf die Idee bringt, die Arbeit insgesamt zu verkürzen und entsprechend aufzuteilen, erkennen sie darin hingegen sofort eine „Milchmädchenrechnung“. Da im Kapitalismus höhere Produktivität nicht zu weniger Arbeit für alle, sondern zur Verringerung bezahlter Arbeit führt, können auch nicht mehr Pensionen finanziert werden, als die durch diese Verringerung reduzierte Lohnsumme erlaubt. Weil dies dem Interesse des Kapitals entspricht, handelt es sich hier auch nicht um eine Milchmädchenrechnung, um die es sich bei der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, auch noch bei vollem Lohnausgleich, sehr wohl handelt, weil diese dem Interesse des Kapitals widerspricht.

Der Verdrängungswettbewerb des Kapitals verlangt also mehr Leistung von der lohnabhängigen Bevölkerung, sodass selbst bei jeder Gelegenheit als „reich“ bezeichnete Nationen wie Deutschland und Österreich ihrer Bevölkerung mehr Armut zumuten wollen. „Wir alle“, heißt es dann, müssen mehr arbeiten, um dem „Wettbewerb“ gewachsen zu sein. Dieser Wettbewerb verlangt auch mehr Kriegstüchtigkeit, weil im Verdrängungskampf der Kapitale imperialistische Konflikte entstehen, schließlich will hier jede Nation ihr Kapitalwachstum auf Kosten ihrer Konkurrenten durchsetzen. Genau deswegen herrscht seit mehr als drei Jahren Krieg in der Ukraine, die durch den Putsch im Jahr 2014 sich endgültig als Gegner der russischen Föderation aufstellte, deren Gegenwehr ausgerechnet als Imperialismus gilt, während die imperialistischen Staaten doch nur die Freiheit verteidigen, ihren Interessen weltweite Geltung zu verschaffen.

Solche Zusammenhänge nicht sehen zu wollen, ja sie nicht einmal in Erwägung zu ziehen oder nach ihnen zu fragen, stellt allerdings ein bemerkenswertes Armutszeugnis hiesiger Intellektueller und der sich ach so kritisch wähnenden Presse dar, die sich daher die eingangs angeführte Bezeichnung als „bürgerliche Haus- und Hofberichterstattung“ redlich verdient hat. Interessant ist auch, dass selbst von der Migration nicht mehr der Ausgleich des demographischen Wandels erwartet wird. Irgendwie haben die Pressesprecher der bürgerlichen Staatsräson anscheinend doch eine Ahnung davon, dass nicht einfach genügend junge, sondern über ein Lohneinkommen verfügende Personen zur Finanzierung der Pensionen notwendig sind. Nur profitabel einsetzbare Arbeit wird vom Kapital bezahlt, das lässt sich allein daran erkennen, dass es auch Jugendarbeitslosigkeit gibt, die so gar nichts zur Finanzierung der Pensionen beiträgt, da können die davon betroffenen Menschen noch so jung sein. Um dem Staat die Last überflüssiger, weil nicht einmal mehr als Ersatzarmee brauchbarer alter Leute abzunehmen, muss nun der Pensionsantritt verschoben werden, am besten mindestens auf 70 Jahre. Das erhöht auch die Chance, dass viele Menschen ihre Pension gar nicht mehr erleben, weil Arbeit in diesem Alter immer schwieriger gesundheitlich auszuhalten ist, und so kommt es sicher zur Entlastung des Staates von überflüssigen Menschen, die weder an der Arbeits- noch an der Kriegsfront noch zu gebrauchen sind. Wenn das nicht hervorragende Aussichten sind!

1 Aufregung um Forderung von IV-Präsident nach Arbeiten bis 70, in: Der Standard, 5. 7. 2025, https://www.derstandard.at/story/3000000272937/pensionen-aufregung-um-sager-von-iv-pr228sidenten, aufgerufen am 1. 8. 2025

2 Arbeit in Teilzeit soll weniger „attraktiv“ werden, in: Der Standard, 20. 7. 2025, https://www.derstandard.at/story/3000000272937/pensionen-aufregung-um-sager-von-iv-pr228sidenten, aufgerufen am 1. 8. 2025

3 Anna Thalhammer: Die fehlende Pensionsreform gefährdet den sozialen Frieden, in: Profil 29, 19. 7. 2025, S. 5

4 Ebd.

5 Rüdiger Safranski: „Kein Wunder, wenn es knirscht in der Gesellschaft“, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 167, 22. 7. 2025, S. 9

6 Vgl. dazu auch meinen Beitrag vom 25. 12. 2024 über den Imperialismus seit 1945 auf meiner Homepage: https://lektoratsprofi.com/2024/12/25/der-imperialismus-seit-1945/

Ayn Rands Formierung eines rationalen bürgerlichen Subjekts

27. 4. 2025

1. Altruistische Moral – Negation des Eigennutzens

Ayn Rand kritisiert den Altruismus als Herrschaft einer zynischen Opfermoral. Er gilt ihr als Nachwirkung einer Stammesmoral, in der kein Mensch in der Lage war, sein Leben selbst zu gestalten, weshalb die Erhaltung der Gemeinschaft wichtiger war als die Lebenserhaltung des Einzelnen. Die bisherige Philosophie hält aber an diesem Altruismus selbst dann noch fest, als keine Stammesgesellschaft mehr existiert, für die er eine Notwendigkeit war. Selbst im Zeitalter der Aufklärung gilt Altruismus als Prinzip einer vernünftigen Moral, wie sich an Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer zeigen lässt.

Für Kant bedarf die Moral der Vernunft als ihrer Basis, denn was die Menschen von Natur aus tun, dient nur ihrem Eigennutz. Eigennütziges Verhalten kann aber anderen Menschen zum Schaden gereichen, deswegen müsse jeder prüfen, ob die von ihm in Erwägung gezogenen Handlungen auch allgemein gültig sein könnten oder ihm schaden würden, wenn er nicht deren Subjekt, sondern ihr Objekt wäre. Da aber eine Handlung einem allgemeinen Gesetz genügen und dennoch eigennützig sein kann, ist das Kriterium ihres moralischen Gehalts, dass sie frei von jeglichem persönlichen Interesse ist. Nicht der geringste Nutzen für die handelnde Person darf einer Handlung beigemischt sein; nur solche Handlungen, zu welchen ein Mensch keinerlei Neigung hat, die er daher wegen ihrer Vernunft vollzieht, haben einen moralischen Wert. Eigennützige Handlungen sind zwar nicht von vornherein amoralisch oder unmoralisch im Sinne von verwerflich, aber sie können keinen moralischen Wert beanspruchen, weil sie auch ohne moralische Gesinnung, allein wegen ihres subjektiven Nutzens stattfinden würden. Solche Handlungen können zwar pflichtgemäß sein, solange sie aber nicht aus Pflicht geschehen, also nicht auf reinem Pflichtbewusstsein beruhen, sind sie zwar nicht tadelnswert, besitzen aber keine moralische Qualität. Die folgende Aussage Kants ist hierzu ganz eindeutig: „Dagegen, sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen innern Wert, und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet, als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht, und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“[1]

Wenn die eben erwähnte Lebenserhaltung oder eine Handlung uns zwar unangenehm ist, wir aber dennoch daran festhalten sollen, weil die Vernunft uns dazu verpflichtet, dann ist es kaum erstaunlich, dass sich auf diese Weise ein unbehagliches, mühseliges Leben voller Leiden und Schmerzen einstellt. Auch das ist Kant nicht verborgen geblieben, er stellt daher fest: „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann (…).“[2] Nur ein Masochist könnte sich mit dieser Wirkung anfreunden, die hier geradezu als ein Merkmal moralisch bestimmten Handelns gilt. Umgekehrt müssten sich immer Zweifel an der moralischen Qualität einer Handlung einstellen, wenn sich diese nicht im Widerspruch zu den persönlichen Neigungen befinden und die entsprechenden Schmerzen daher ausbleiben würden. Neurotische Erkrankungen, die Sigmund Freud dem Widerspruch von Es und Über-Ich zugeschrieben hat, entstehen demnach aus dem Gegensatz von Neigung und Pflicht und dürfen zudem als Indiz für die Erfüllung der moralischen Ansprüche von Selbstlosigkeit und Altruismus gelten.

Schopenhauer setzt nicht wie Kant auf die Vernunft als Quelle der Ethik, sondern auf die Triebfeder des Mitleids, das sich ganz spontan bei allen Menschen angesichts fremden Leids regen kann. Da dies ein Wesenszug ist, der in der menschlichen Natur angelegt ist, auch wenn er zunächst in dieser nur schlummert, besteht hier ein Potential, dessen Erweckung, Förderung und Entwicklung zu moralischem Verhalten führt. Hierbei kann die Vernunft zwar als Mittel dienen und hilfreich sein, würde Moral jedoch allein auf Vernunft beruhen, also nur durch Vernunft bestimmt sein, so wäre sie zu praktischer Unwirksamkeit verdammt. Als Fundament oder Basis der Moral kann hingegen die spontane Triebfeder des Mitleids fungieren, weil diese genauso wie die übrigen menschlichen Triebe und Motive der menschlichen Natur angehört. Somit tritt an die Stelle von Kants Vernunftethik Schopenhauers Mitleidsethik. Kant folgt Schopenhauer jedoch darin, dass der moralische Wert einer Handlung sich im Altruismus zeige und keinerlei Bezug zum Interesse des handelnden Subjekts aufweisen dürfe: „Daher eben die Entdeckung eines eigennützigen Motivs, wenn es das einzige war, den moralischen Wert einer Handlung ganz aufhebt und, wenn es akzessorisch wirkte, ihn schmälert. Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Kriterium einer Handlung von moralischem Wert.“[3] Positiv ausgedrückt ist die Abwesenheit aller egoistischen Motive dann gegeben, wenn der Zwecke einer Handlung ausschließlich altruistischer Natur ist, wie Schopenhauer weiter ausführt: „Dieser Zweck allein drückt einer Handlung oder Unterlassung den Stempel des moralischen Wertes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines andern geschehe oder unterbleibe.“[4]

2. Kritik des Altruismus

Im Unterschied zu Kant gilt für Schopenhauer nicht mehr das eigene Leiden als Indiz dafür, dass eine Handlung moralisch bestimmt ist, sondern das fremde. Mit anderen Menschen Mitleid zu empfinden, deren Leid zu vermeiden oder durch Anteilnahme und Hilfe zu verringern, macht nun den moralischen Wert einer Handlung aus. Ohne Leid kann es in dieser Welt daher keinen moralischen Wert geben, weswegen umgekehrt zufriedene Menschen den Nachteil aufweisen, nicht zur Demonstration der eigenen moralischen Vortrefflichkeit geeignet zu sein. Schopenhauer stellt in diesem Sinne fest: „Die unmittelbare Teilnahme am andern ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht, wenigstens nicht direkt, auch durch sein Wohlsein erregt: sondern dieses an und für sich läßt uns gleichgültig.“ Oft bleibt es allerdings nicht bei einer gleichgültigen Reaktion, sondern es „kann der Anblick des Glücklichen und Genießenden rein als solchen sehr leicht unsern Neid erregen“.[5] Wenn jemand Beistand braucht, dann ist schließlich die Person, die ihm diesen gewährt, sich ihrer Bedeutung bewusst, umgekehrt darf sie sich nicht so wichtig fühlen, wenn dieser Beistand nicht erforderlich oder erwünscht ist. Nietzsche stellt daher in aller Deutlichkeit fest: „Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen haben sie nichts zu tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen deshalb leicht Missvergnügen.“[6]

Aber nicht nur der Demonstration moralischer Gesinnung kann zur Schau gestelltes Mitleid dienen, sondern auch der Demütigung einer des Mitleids bedürftigen Person, wie bereits Nietzsches Aussage einer sich im Mitleid darstellenden „Überlegenheit“ andeutet. So kann vorgetäuschtes Mitleid die Verhöhnung des leidenden Menschen bezwecken; die scheinbar mitleidige Handlung kann also auf den Schaden der von ihr betroffenen Person aus sein, sie erweist sich dann als Boshaftigkeit und Grausamkeit. Laut Schopenhauer gibt es mehrere Möglichkeiten für einen böswilligen Einsatz des Mitleids, „z. B. wenn ich einem wohltue, um einen andern, dem ich nicht wohltue, zu kränken oder ihm sein Leiden noch fühlbarer zu machen; oder auch um einen Dritten, der demselben nicht wohltat, zu beschämen; oder endlich um den, dem ich wohltue, dadurch zu demütigen“.[7]

Mitleid bedarf also zum einen des Leids anderer Menschen, um überhaupt wirksam zu werden, zum anderen beweist es nicht von vornherein ein gütiges oder wohlwollendes Verhalten, sondern kann auch umgekehrt böswilligen Absichten dienen. Soll die Handlung des Mitleids hingegen keinerlei Nutzen für die handelnde Person haben, so wird der Altruismus zur Opfermoral, die den Einsatz des eigenen Lebens zum Wohle anderer Menschen verlangt. Und wenn schon nicht das eigene Leben gefordert ist, um die moralische Qualität einer Person zu bezeugen, so muss diese zumindest im Widerspruch zu ihren Neigungen handeln, wie uns Kant erklärt hat, denn ein Mensch, dessen Handlungen nicht im Kampf mit seiner Natur liegen, folgt nur Letzterer und kann daher keinen Anspruch auf Tugendhaftigkeit erheben.

Gemäß dem Altruismus haben nur negativ bestimmte Handlungen moralischen Wert. Sie müssen die eigenen Interessen und das Leid anderer Menschen negieren, eigenes Leid ist hingegen sogar ein Indiz für die moralische Qualität meiner Handlungen, wenn auch immerhin nicht deren Kriterium. Dafür reicht es nämlich aus, dass Handlungen frei von jeglichem eigenen Interesse sind, weswegen wiederum Schmerzen und somit eigenes Leid laut Kant ziemlich wahrscheinlich damit verbunden sind. Angesichts dieses Wesenszugs altruistischer Moral hat Ayn Rands Kritik des Altruismus einiges für sich. Auch ihr ist aufgefallen, dass dieser ein Leben voller Leid voraussetzt, dessen Linderung er sich widmen kann: „A morality that holds need as a claim, holds emptiness—nonexistence—as its standard of value; it rewards an absence, a defect: weakness, inability, incompetence, suffering, disease, disaster, the lack, the fault, the flaw—the zero.“[8] Wie Nietzsche stellt sie über die Mitleidigen fest, dass diese das Leid beflügelt: „When no actual suffering can be found, the altruists are compelled to invent or manufacture it.“[9]

Bereits der Ausgangspunkt des Altruismus ist für Ayn Rand irrational, denn weshalb soll eigentlich das Wohl anderer Menschen mehr gelten als das eigene: „Why is it moral to serve the happiness of others, but not your own? If enjoyment is a value, why is it moral when experienced by others, but immoral when experienced by you?“ Und warum sollte die Forderung, andere Menschen mögen sich altruistisch verhalten, nicht genau dem Egoismus jener dienen, die diese Forderung aufstellen? „Why is it immoral for you to desire, but moral for others to do so? Why is it immoral to produce a value and keep it, but moral to give it away? And if it is not moral for you to keep a value, why is it moral for others to accept it?“[10] In dieser Kritik des Altruismus stimmt Ayn Rand mit Nietzsche überein, der bereits die Heuchelei der altruistischen Moral bloßgestellt hat: „Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der ‚Nächste‘ lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat!“[11]

3. Rationaler Egoismus

Die Forderung altruistischen Verhaltens entspricht also dem Egoismus einer Person, die entweder unfähig oder unwillig ist, für sich selbst zu sorgen, und die Selbstlosigkeit und Altruismus deswegen lobt, weil ihr andere Menschen diese Aufgabe abnehmen sollen. Wie kommt es nun aber dazu, dass dieser sich verstellende Egoismus als moralisch beurteilt wird, während der unverblümte, ehrliche Egoismus als unmoralisch gilt? Das liegt zunächst daran, dass Egoismus als selbstverständliche, natürliche Haltung jedes Menschen gilt, wie wir das an Kants Beispiel der Lebenserhaltung gesehen haben: Zur Erhaltung seines Lebens habe jeder Mensch die Neigung, daher habe diese nur dann einen moralischen Gehalt, wenn sie trotz eines durch Leid unerträglich gewordenen Lebens praktiziert werde. Darüber hinaus gilt Egoismus nicht nur als von Natur her gegebene Haltung, die zu praktizieren kein Verdienst ist, sondern auch als Negation der Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen. Diesen sei ein Egoist zumindest gleichgültig, wenn nicht feindlich gesinnt, deren Leid bekümmere ihn nicht, weswegen umgekehrt der sich dessen annehmende Altruist moralische Wertschätzung genießt. Es ist also eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Egoismus, die dessen Geringschätzung hervorruft und die Ayn Rand als irrationalen Egoismus kritisiert, demzufolge „to injure, enslave, rob or murder others is in man’s self-interest – which he must selflessly renounce“.[12]

Die Menschen gelten diesem Egoismus als Bestien von Natur aus, die sich permanent in die Quere kommen und einen allseitigen Krieg (Hobbes) heraufbeschwören würden; sie erscheinen als irrationale Wesen, die einen irrationalen Egoismus praktizieren, mit dem sie anderen schaden, wenn sie sich nicht selbst beherrschen, wie schmerzhaft das auch für sie wäre. Diese Selbstbeherrschung aber würde erst ein Zusammenleben der Menschen ermöglichen, auch wenn mit ihr das „Unbehagen in der Kultur“ verbunden sei. Diese lebensfeindliche Vorstellung, in der man entweder andere Menschen opfert oder selbst deren Opfer wird, zeigt sich in der lebensfeindlichen Moral Kants, die Ayn Rand sehr treffend in folgender Aussage kritisiert: „Only a vicious represser, who feels a profound desire to lie, cheat and steal, but forces himself to act honestly for the sake of “duty,” would receive a recognition of moral worth from Kant and his ilk.“[13] Diesen „Repressor“ hält der Altruismus für die unmittelbare Wahrheit des Egoismus, den er deswegen ablehnt. Für Ayn Rand ist dies allerdings ein irrationaler Egoismus, der seine Interessen nicht vernünftig bestimmt. Der Altruismus ist für sie im Grunde eine Erscheinungsform dieses irrationalen Egoismus, auch wenn sie das so nirgendwo ausspricht. Nietzsche lässt hier nichts an Deutlichkeit vermissen, wenn er den Altruismus zu einer heuchlerischen Form des Egoismus erklärt. Allerdings dreht er nun die Sache einfach um und setzt an die Stelle des heuchlerischen den sich offen bekennenden Egoismus, was bereits seine Schwärmerei von der „blonden Bestie“ bezeugt. Wenn der Mensch schon eine Bestie ist, dann soll er sich darüber auch nichts vormachen und den Willen zur Macht anerkennen, der sich darin offenbart und in dessen Dienst auch die Vernunft steht, die daher für Nietzsche keineswegs dem Egoismus zu einer rationalen Gestalt verhilft, sondern höchstens zu einer effektiven.

Nietzsche hebt die Dichotomie von Egoismus und Altruismus nicht auf, sondern setzt der Herrschaft des Altruismus jene des Egoismus entgegen. Er akzeptiert damit das Menschenbild des Altruismus und stellt sich auf die andere Seite, nämlich jenen irrationalen Egoismus, gegen den der Altruismus seine Notwendigkeit erklärt. Für solche Psychopathen, die statt ihrer selbst die anderen Menschen opfern, hat Ayn Rand nichts übrig: „The men who accept that dichotomy but choose its other side, the ultimate products of altruism’s dehumanizing influence, are those psychopaths who do not challenge altruism’s basic premise, but proclaim their rebellion against self-sacrifice by announcing that they are totally indifferent to anything living and would not lift a finger to help a man or a dog left mangled by a hit-and-run driver (who is usually one of their own kind)“.[14]

Der rationale Egoismus kennt keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen den Interessen der Menschen. Andere Menschen gelten ihm nicht prinzipiell als Feinde, sondern können auch im Sinne gegenseitiger Bereicherung zusammenwirken, wie dies allein durch die Arbeitsteilung geschieht. Während der Altruismus meint, um anderen Menschen von Nutzen zu sein, müsse man selbstlos handeln, sieht der rationale Egoismus die Möglichkeit gegenseitigen Nutzens, wie er in einem ganz banalen Tauschhandelsgeschäft zustande kommt. Der Altruismus unterstellt „that a man can have no personal interest in others – that to value another means to sacrifice oneself – that any love, respect or admiration a man may feel for others is not and cannot be a source of his own enjoyment, but is a threat to his existence, a sacrificial blank check signed over to his loved ones“.[15] Da andere Menschen nur Gegner der eigenen Zwecke seien, könne man sich an diesen auch nicht erfreuen. Um sich anderen Menschen zuzuwenden, müssten diese solcher Zuwendung bedürfen und würden diese nur von selbstlosen Altruisten erhalten. Niemand könnte also das persönliche Interesse erwecken, das in einem anderen Menschen eine Bereicherung des eigenen Lebens erblicken würde. Liebe aber ist keineswegs selbstlos, selbst wenn jemand sein Leben riskiert, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten, macht er dies nicht aus Selbstlosigkeit, sondern weil sein Leben durch den Verlust des Geliebten nicht mehr lebenswert wäre. Auch das hat Ayn Rand ganz klar und richtig gesehen, wenn sie verkündet, dass es nicht gerade schmeichelhaft für jemanden wäre, wenn dieser erführe, dass ihm nicht das Interesse an seiner Person Aufmerksamkeit verschafft, sondern das Mitleid mit seinem Bedürfnis nach dieser. Während Schopenhauer nur Mitleid als Ursache für die Hinwendung zu einer anderen Person anerkennt, ist dies bei der Liebe die Freude an deren Existenz. So stellt Ayn Rand unmissverständlich klar: „When you are in love, it means that the person you love is of great personal, selfish importance to you and to your life. (…) It is for your own happiness that you need the person you love, and that is the greatest compliment, the greatest tribute you can pay to that person.“[16]

Welche Besonderheiten muss aber eine Person aufweisen, um das Gefühl der Liebe zu erwecken? Selbstachtung ist dafür wohl eine Voraussetzung, denn eine sich selbst verachtende, in Selbstzweifeln verharrende und sich daher nicht entwickelnde Person könnte wohl höchstens Mitleid auslösen. Und Selbstachtung bedeutet, dass man um die Bedeutung des eigenen Lebens weiß und um die Notwendigkeiten, die zu Erhaltung und Entwicklung eines anregenden Lebens notwendig sind. Um dies zu erreichen, müssen die Menschen Gebrauch von ihrem Verstand machen und sich um die Erkenntnis der von ihnen unabhängig und objektiv gegebenen Welt bemühen. Ein rationaler Egoist ist des Interesses anderer wert, weil er sich der Mühe des Denkens unterzieht und dadurch die objektiv gegebenen Möglichkeiten der Welt zu seinem Nutzen zu verwenden und zu gestalten weiß. Er vollbringt jene Leistungen, die für ein gutes und interessantes Leben erforderlich sind, sei es in der Produktion innovativer Technik oder in der Pflege der Künste.

Da ein rationaler Egoist nicht von den Leistungen anderer Menschen leben, sondern eigenständig sein Leben durch seine Leistungen gestalten will, übernimmt er für sein Leben die Verantwortung. Der Altruist ist hierin genauso sein Gegenteil wie der irrationale Egoist, denn diese wollen von den Leistungen anderer leben und sie rücksichtlos für ihre Interessen benutzen – der Altruist, indem er die Sorge für seine Bedürfnisse zur moralischen Pflicht erklärt, der irrationale Egoist, indem er sich rücksichtlos mittels Gewalt fremder Leistungen und Güter bemächtigt.

4. Objektivismus

Ayn Rand nennt ihre Philosophie und ihre Ethik objektivistisch, weil sie die Bedeutung objektiver Wahrheit für die Lebenserhaltung betonen und sich vom Subjektivismus Nietzsches abgrenzen will, der sich z. B. in der Aussage zeigt, dass Wahrheit und Falschheit keine Rolle spielen würden, weil es nur auf den Nutzen ankäme: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist;“ schließlich wäre „Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens“.[17] Wie ein falsches Urteil nützlich sein soll, bleibt Nietzsches Geheimnis. Für Ayn Rand ist ein falsches Urteil alles andere als lebensfördernd, sondern gefährlich und lebensbedrohlich, wenn etwa eine falsche Heilungsmethode zum Einsatz käme, die eine Krankheit durch den Tod „heilen“ würde. Gerade weil das Leben der Menschen ihrer Anstrengungen bedarf, weil es darauf angewiesen ist, die Wahrheit einer von ihnen unabhängigen Realität zu erfassen, kann den Menschen nur die Wahrheit nützen. Das einzige Mittel zur Erfassung dieser Realität ist der menschliche Verstand, der in verbesserten Produktionsmethoden zur Anwendung kommt. Einen auf diese Weise sein Leben selbstverantwortlich und durch eigene Leistungen rational gestaltenden Menschen als Egoisten zu denunzieren, ist daher lebensfeindlich: „Since nature does not provide man with an automatic form of survival, since he has to support his life by his own effort, the doctrine that concern with one’s own interests is evil means that man’s desire to live is evil – that man’s life, as such, is evil.“[18]

Für das Überleben der Menschen ist es also wichtig, dass sie sich zutreffende Vorstellungen von ihrer Lebenswirklichkeit machen, daher muss ihnen die objektive Wahrheit wichtig sein. Objektivismus bedeutet also keineswegs, dass die Urteile der Menschen immer richtig sein müssen, ganz im Gegenteil, es ist immer möglich, sich zu irren, weshalb ein Mensch umso mehr zu schätzen ist, wenn er wahre Urteile erlangt. Genau jene Menschen, die sich solchen Anstrengungen unterziehen, trotz aller Rückschläge nicht aufgeben und weitermachen, schließlich auch noch erfolgreich sind, zeigen diese Haltung auch in ihrer Körperhaltung und ihrer Körpersprache, erscheinen deswegen als attraktiv und liebenswert. Die ihnen zugewandte Liebe ist daher eine Wertschätzung ihrer Person und ihrer Verdienste, weswegen die weibliche Hauptfigur in Ayn Rands Roman Atlas Shrugged sich auch nur mit solchen Männern einlässt. Der produktive Mensch ist auch kreativ, er erfreut sich seines Lebens, weiß um dessen Notwendigkeiten, legt seine Ziele entsprechend fest und verfolgt sie konsequent, genauso konsequent geht er auch in zwischenmenschlichen Beziehungen vor und seine Selbstachtung würde ihm verbieten, erst einmal um Erlaubnis zu fragen, wenn er sich einer Person mit sexuellen Absichten nähert.

Ein rationaler Egoist gibt sich nicht beliebigen Launen hin und ist daher sehr zielstrebig in der Verfolgung seiner Interessen: „Just as man cannot survive by any random means, but must discover and practice the principles which his survival requires, so man’s self-interest cannot be determined by blind desires or random whims, but must be discovered and achieved by the guidance of rational principles. This is why the Objectivist ethics is a morality of rational self-interest—or of rational selfishness.“[19]

5. Rationaler Egoismus und Kapitalismus

In aller Kürze folgen hier noch ein paar Bemerkungen über das Verhältnis des rationalen Egoismus zum Kapitalismus. Ayn Rand ist ja der Auffassung, dass sie mit ihrer Philosophie des Objektivismus und des rationalen Egoismus dem Kapitalismus endlich zu jenem philosophischen Fundament verhilft, das ihm bisher gefehlt und ihn auch angreifbar gemacht habe. Den Kapitalisten will sie damit ein angemessenes Klassenbewusstsein verschaffen, sodass sie sich nicht mehr vom Altruismus des Egoismus bezichtigen und Schuldgefühle auferlegen oder ein schlechtes Gewissen verschaffen lassen. Das kapitalistische Eigentum gilt ihr als Resultat der geistigen Errungenschaften herausragender Menschen, die mit ihren technologischen Innovationen den verdienten Ertrag erhalten und erfolgreicher als ihre Konkurrenten sind. Dass wissenschaftliche Forschung und deren kapitalistische Anwendung in Form neuer Produktionsmittel in der Regel kaum von einzelnen Menschen betrieben werden können, ficht sie nicht an. Auch den Umstand, dass wissenschaftliche Forschung zunächst einmal für einen mehr oder weniger langen Zeitraum nur Kosten verursacht und deswegen von staatlichen Institutionen betrieben wird, blendet sie aus.

Der rationale Egoismus hat einiges für sich, da er jede Gewalt zurückweist und für eine freiwillige, auf wechselseitigem Nutzen beruhende Zusammenarbeit der Menschen argumentiert, ganz so wie sich Marx die Assoziation freier Produzenten vorgestellt hat. Diese gewaltfreie Zusammenarbeit ist für Ayn Rand aber nur im Kapitalismus gegeben, denn da würden die Menschen über den Austausch von Leistungen zueinander finden, niemand würde andere zu diesen Leistungen zwingen können. Der Vertrag zwischen zwei Vertragspartnern, wie er in jedem Tauschgeschäft zur Geltung kommt, ist das Prinzip dieses rationalen Egoismus. Hier verhält sich Ayn Rand ignorant gegen den Fall, dass solche Vertragsbeziehungen auf Nötigung beruhen, wenn sie die Notlage eines Vertragspartners ausnutzen. Genau hier setzt ja die marxistische Kritik an, da Marx im Kapital selbst deutlich ausspricht, dass der Bereich des Tauschverhältnisses noch geradezu als ein wahres Eden der Menschenrechte erscheint, wenn man ihn mit dem Produktionsbereich vergleicht, in dem der seine Arbeitskraft gegen Lohn zur Verfügung stellende Bürger seine Haut zu Markte trägt und nichts anderes erwarten darf als die Gerberei.[20]

Ayn Rands Versuch einer Rationalisierung des Kapitalismus stellt letztlich nichts weiter als eine jener Utopien dar, die am real existierenden Kapitalismus alles ignorieren, was dem Ideal widerspricht, das sie sich von diesem machen. Die Sehnsucht nach dem rationalen Egoisten entspricht der Forderung nach dem neuen Menschen im realen Sozialismus. Um den Kapitalismus weißzuwaschen, erklärt Ayn Rand den Staat zum Übeltäter, der die Entfaltung der segensreichen Wirkungen des Kapitalismus verhindere, indem er das Kapital mit seinen Steuern ausbeuten und diese Praxis als Altruismus rechtfertigen würde. Jeder sei seines Glückes Schmied und nur faule sowie verwahrloste Bürger würden ihr eigenes Unglück erzeugen und dann auf den Altruismus als ihre Lebensgrundlage setzen. Würde der Altruismus des Sozialstaats diese Haltung nicht begünstigen, so wären diese Menschen genötigt, ihre Verwahrlosung zu überwinden.

Dabei ist Ayn Rand insofern Recht zu geben, als ganz gewiss nicht über ein revolutionäres Bewusstsein verfügt, wer vom Kapital verlangt, dass es auf seine Interessen Rücksicht nehme und die Verteilung des Profits zur Versorgung der Armen akzeptiere. Es wäre schon eher im Sinne eines rationalen Egoismus, Verhältnisse abzuschaffen, welche die auf Lohnarbeit angewiesenen Bürger vom Zugriff auf die Produktionsmittel ausschließen, der ihnen nur unter der Voraussetzung gestattet wird, dass ihre Arbeit deren Eigentümer reicher macht. Ein rationaler Egoismus wäre in einer kommunistischen Gesellschaft viel besser aufgehoben, wo eine altruistische Moral ohnehin überflüssig und sogar schädlich wäre. So machen „die [Ko]mmunisten weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend“, sondern offenbaren die „materielle Geburtsstätte“ dieses Gegensatzes, „mit welcher er von selbst verschwindet“.[21]


[1] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Kant-Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 198910, S. 23 (= BA 10)

[2] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Werke (herausgegeben von Wilhelm Weischedel):, Bd. 7, a. a. O., S. 192 f. (= A 129)

[3] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch (herausgegeben von Rüdiger Safranski), Kindle E-Book, Frankfurt am Main 2011, S. 237 f., siehe auch die beiden Schriften Schopenhauers: Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral (herausgegeben von Philipp Theisohn), Stuttgart 2013, S. 259

[4] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 241; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 263

[5] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 244 f.; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 266 f.

[6] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1, Nr. 321, in: Sämtliche Werke (herausgegeben von Siegfried König), Kindle E-Book, Nürnberg 2013, S. 561 f.

[7] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 253

[8] Ayn Rand: Atlas Shrugged, Kindle E-Book, New York 1996, S. 1032; Übersetzung: Eine Moral, die Bedürftigkeit für einen Anspruch hält, nimmt das Leere – Nicht-Existenz – als ihren Richtwert; sie belohnt eine Abwesenheit, einen Defekt: Schwäche, Unfähigkeit, Inkompetenz, Leiden, Krankheit, Unheil, den Mangel, den Fehler, den Makel – die Null.

[9] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, Kindle E-Book, New York 1986, S. 8; Übersetzung: Wenn kein gegenwärtiges Leid gefunden werden kann, sind die Altruisten genötigt, es zu erfinden oder herzustellen.

[10] Ayn Rand: Atlas Shrugged, a. a. O., S. 2031; Übersetzung: Warum ist es moralisch, dem Glück anderer zu dienen, aber nicht deinem eigenen? Wenn Genuss ein Wert ist, warum ist dieser moralisch, wenn er von anderen erlebt wird, aber unmoralisch, wenn von dir erlebt? – Warum ist es für dich unmoralisch zu begehren, aber für andere moralisch, dies zu tun? Warum ist es unmoralisch, etwas Wertvolles zu produzieren und zu behalten, aber moralisch, es wegzugeben? Und wenn es für dich nicht moralisch ist, etwas Wertvolles zu behalten, warum ist es moralisch für andere, es zu empfangen?

[11] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Erstes Buch, Nr. 21, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1159

[12] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 446; Übersetzung: (…) andere zu verletzen, zu versklaven, zu berauben oder zu ermorden entspricht dem Interesse eines Menschen für sich selbst – das er selbstlos aufgeben muss.

[13] Ebd., S. 131; Übersetzung: Nur ein bösartiger Unterdrücker, der ein tiefes Verlangen zu lügen, zu betrügen und zu stehlen empfindet, aber sich selbst zwingt, der Pflicht zuliebe ehrlich zu handeln, würde von Kant und seinesgleichen eine Anerkennung seines moralischen Werts erhalten.

[14] Ebd., S. 11; Übersetzung: Die Menschen, die diese Dichotomie akzeptieren, aber ihre andere Seite wählen, die letzten Produkte des entmenschlichenden Einflusses des Altruismus, sind jene Psychopathen, welche die grundlegende Prämisse des Altruismus nicht anfechten, aber ihre Rebellion gegen ihre Selbstaufopferung verkünden, indem sie angeben, dass ihnen jedes Lebewesen vollkommen gleichgültig ist und sie keinen Finger rühren würden, um einem Menschen oder einem Hund zu helfen, die von einem fahrerflüchtigen Lenker (der üblicherweise einer von ihrer Art ist) verstümmelt zurückgelassen worden sind.

[15] Ebd., S. 10 f.; Übersetzung: “ (…) dass ein Mensch kein persönliches Interesse an anderen haben kann, dass andere zu schätzen bedeute, sich selbst zu opfern – dass jegliche Liebe, Respekt oder Bewunderung, die jemand für andere empfinden möge, nicht eine Quelle seines eigenen Vergnügens ist oder sein kann, sondern eine Bedrohung seiner Existenz darstellt, einen Blankoscheck der Opferbereitschaft, den er seinen geliebten Menschen überschreibt.

[16] Ebd., S. 452; Übersetzung: Wenn du jemanden liebst, bedeutet das, dass die Person, die du liebst, von großer persönlicher, eigennütziger Wichtigkeit für dich und dein Leben ist. (…) Du brauchst die Person, die du liebst, für dein eigenes Glück, und das ist das größte Kompliment, die höchste Anerkennung, die du dieser Person zollen kannst.

[17] Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 4, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1646

[18] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 7; Übersetzung: Da die Natur den Menschen nicht mit einer automatischen Form des Überlebens versorgt, da er sein Leben durch seine eigene Anstrengung erhalten muss, bedeutet die Lehre, wonach die Sorge um das eigene Interesse böse sei, dass die Sehnsucht des Menschen zu leben böse sei – dass das Leben des Menschen an sich böse sei.

[19] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 448 f.; Übersetzung: Genauso wie der Mensch nicht durch irgendein zufällig erlangtes Mittel überleben kann, sondern die Prinzipien, die sein Überleben erfordert, entdecken und praktizieren muss, so kann das Eigeninteresse des Menschen nicht durch blinde Sehnsüchte und zufällige Launen bestimmt sein, sondern muss unter der Leitung rationaler Prinzipien entdeckt und verwirklicht werden. Deshalb ist die objektivistische Ethik eine Moral des rationalen Eigeninteresses – oder des rationalen Egoismus.

[20] Karl Marx: Das Kapital, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 23, S. 189 f.

[21] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 229

Was soll die Ukraine denn sonst machen?

Wien, 24. 3. 2025

Diese Frage stellt sich sofort ein, wenn jemand die Ukraine dafür kritisiert, dass sie es auf einen Krieg ankommen ließ, ehe sie sich den politischen Forderungen der russischen Föderation unterwarf. Letzteres wäre doch nur ein Zurückweichen vor einem Despoten, der sich dadurch überdies ermuntert sehen würde, auch andere Nationen mit der Androhung von Krieg zum Gehorsam zu zwingen. Ganz unabhängig vom Inhalt der Forderungen Russlands gilt es als Herrschaftsstreben, dass es dieser Staat überhaupt wagt, Ansprüche gegenüber anderen Nationen zu erheben. Diese Ignoranz ist auch notwendig, sonst könnte es schon ein wenig irritieren, dass der Ukraine ein Bekenntnis zur Neutralität nicht zumutbar sei, weil sie unbedingt ein Mitglied der NATO sein will. Schließlich hat ein Staat, der nicht neutral sein will, auch nicht unbedingt friedfertige Absichten und will daher zumindest die Fähigkeit zur Kriegsführung hegen und pflegen, welcher die Neutralität Schranken setzen würde. Weil alle Einwände Russlands gegen die Aufrüstung der Ukraine ignoriert und deren Vorbereitungen zur Zurückeroberung annektierter und separatistischer Regionen offenkundig wurden, kam es zum Angriff Russlands, gegen den sich die Ukraine ja bloß verteidigen würde, weshalb sich auch jede Kritik an diesem Staat verbiete.

Als zu Beginn des Kriegs zwischen der Ukraine und der russischen Föderation das Argument vorgebracht wurde, die Ukraine solle besser kapitulieren, als sich auf einen Krieg mit dem militärisch überlegenen Gegner einzulassen, machten sich Hohn und Spott breit. So meinte Carolin Kebekus, die Schrack-Zimmermann des deutschen Kabaretts und daher auch Haus- und Hofkabarettistin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass dieser Vorschlag dazu führen würde, den Ukrainern mitzuteilen: „Sterbt!“ Dass es sich genau umgekehrt verhält, nämlich durch die Kapitulation das massenhafte Sterben verhindert werden soll, können sich solch schlichte Gemüter offensichtlich nicht vorstellen. Für Menschen solcher Geistesverfassung scheint der Zweck eines Krieges in der Vernichtung des Feindes zu bestehen, nicht in der Durchsetzung politischer Zwecke, für welche diese Vernichtung nur ein Mittel darstellt, dessen ein Staat nicht mehr bedarf, sobald er diese politischen Zwecke erreicht hat. Anders gesagt: Jeder Staat hätte nichts dagegen, wenn er seine politischen Ansprüche gegen andere Staaten auch ohne Krieg durchsetzen könnte, er würde dann auf kriegerische Anstrengungen verzichten, weil diese ja gar nicht erforderlich wären, um seine Ziele zu erreichen. Es ist gar nicht das Anliegen von Staaten, möglichst viele Menschen zu töten, auch wenn sie deren Vernichtung ohne jeden Skrupel in Kauf nehmen, sobald ihnen dies zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche erforderlich scheint.

Ein Staat hätte also immer die Möglichkeit, einen Krieg zu vermeiden, zugleich sind es aber auch gerade seine Interessen, die mit kriegerischen Mittel behauptet werden sollen und welchen seine Bürger im Krieg genauso zu dienen haben wie in Friedenszeiten. Keineswegs verhält es sich daher so, dass die Ukraine sich gegen Russland wehrt, um ihre Bürger vor der Vernichtung zu bewahren, sondern es wird gerade umgekehrt deren Leben zur Durchsetzung ihrer politischen Ansprüche eingesetzt, die im Gegensatz zu jenen der russischen Föderation stehen. Russland hätte natürlich ebenso nicht auf der Geltung seiner Ansprüche beharren müssen, aber genauso wie die Ukraine für ihren Erfolg in der nationalen Konkurrenz auf ihre Ziele nicht verzichten will, will dies auch Russland nicht. Allerdings stellt sich hier schon die Frage, inwiefern die Forderung nach Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine einen Beweis für die Aggression Russlands darstellen soll. Zeigt sich darin nicht vielmehr die Wahrnehmung der Ukraine als Bedrohung, die durch solche Maßnahmen beseitigt werden soll? Wer natürlich unbedingt sein Feindbild vom russischen Aggressor pflegen will, sieht darin nur den Versuch, die Ukraine zu schwächen, um sie danach umso leichter unterwerfen zu können. Die russische Föderation soll hingegen den beschwichtigenden Worten vertrauen, wonach die Stationierung von Waffen und Soldaten in der Ukraine nur der Verteidigung dienen solle. Ja, der Verteidigung der gegen Russland gerichteten Vorhaben in der Ukraine.

Die Beschäftigung mit den politischen Absichten, die solche Gegensätze zwischen Staaten bilden, dass sich diese genötigt sehen, mit kriegerischen Mitteln deren Durchsetzung zu erzwingen, ist der Feindbildpflege natürlich nicht förderlich. Dann könnte man nämlich feststellen, dass der hochgeschätzte Frieden kapitalistischer Staaten bereits von kriegsträchtigen Gegensätzen geprägt ist, weswegen diese Staaten ja auch sehr schnell zum Krieg bereit sind, von dem die bürgerliche Öffentlichkeit dann immerzu überrascht ist, weil dies ihren schönen Vorstellungen von Demokratie und Weltordnung widerspricht, an denen sie unbedingt festhalten will.[1] Es muss daher auch sofort ein despotischer Herrscher mit einem autokratischen Staat ausgemacht werden, dem die „demokratischen“ Medien die Schuld am „Ausbruch“ eines Krieges zur Last legen, in diesem Fall stehen eben Putin und der russische Nationalcharakter unter Anklage. Dabei haben die Staaten nicht deswegen sofort ihre Armee einsatzbereit, um kriegerische Handlungen auszuführen, weil ja für den Krieg bereit sein müsse, wer den Frieden wolle. Es ist gerade umgekehrt so, dass die Ansprüche der Staaten, ihresgleichen für ihr kapitalistisches Wachstum zu benutzen, ohne die Fähigkeit zum „Schutz“ dieser Ansprüche nicht einmal erhoben werden können. Weil die Staaten sich in Konkurrenz zueinander für ihr Kapitalwachstum benutzen wollen, gibt es immer wieder Konflikte über die Handelsbeziehungen, die sich bereits in deren Einrichtung geltend machen und für sehr lange Verhandlungen sorgen. Und auch nach einer Einigung auf allgemein gültige Handelsbedingungen ergibt sich immer wieder ein Bedarf für deren Überwachung oder Korrektur, sodass auch dann immer wieder Konflikte entstehen, zu deren kriegerischer Austragung die beteiligten Staaten jederzeit bereit sind, um ihre Macht zu behaupten oder zu erweitern, was für sie ohnehin aufs Gleiche hinausläuft.

Die von den USA seit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzte Weltordnung übt imperialistische Herrschaft nicht durch Aneignung von Kolonien, sondern durch freien Handel aus. Das hat auch den Vorteil, dass der Aufwand einer militärischen und zivilen Verwaltung der Kolonien entfällt und den neu gebildeten Nationen obliegt. Der Erfolg nationaler Befreiungsbewegungen in der Vertreibung ihrer Kolonialherren rief daher keine Intervention der USA hervor, sofern sich diese nicht kommunistisch betätigten, wie Vietnam, sondern sich in den freien Handel einzufügen und auf diese Weise ihren Erfolg anzustreben suchten. Keineswegs war und ist es somit natürlich für diese Staaten vorgesehen, eine Politik zu betreiben, die sich gegen diese Handelsordnung richtet oder deren Konditionen zu ihren Gunsten zu verändern trachtet. Änderungen der eingerichteten Handelsbeziehungen sind und bleiben das Privileg der USA, die sich dessen immer dann bedienen, wenn sich der nationale Erfolg nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelt. Das ist z. B. dann der Fall, wenn eine nicht zufällig als „Ölstaat“ bezeichnete Nation sich von diesem Status zu emanzipieren bestrebt ist, in welchem die Lieferung von Öl ihre einzige Funktion für den Weltmarkt darstellt. Weil deswegen zur Ausbeutung der Erdölquellen eingesetztes US-Kapital enteignet wurde, war das für die USA nicht hinzunehmen. Nachdem dann auch noch die zum Zeitpunkt dieser Enteignung hohen Ölpreise der Finanzierung eines Entwicklungsprogramms dienen sollten, um Unabhängigkeit von ausländischem Kapital zu erlangen, sahen die USA sich erst recht in ihrer Vormachtstellung herausgefordert und gingen dagegen durch Unterstützung oppositioneller Kräfte in Venezuela sowie durch Handelsboykotte in der bereits gegen Castros Kuba bewährten Art vor.

Solange allgemein kapitalistisches Wachstum in Form einer beschleunigten Kapitalakkumulation herrscht, haben auch untergeordnete Nationen einen Nutzen davon. Diesen bleibt ohnehin keine andere Wahl, als einen Anteil am allgemeinen Kapitalwachstum zu erhalten, denn eine alternative Erwerbsquelle steht ihnen nicht zu und daher auch nicht zur Verfügung. Versuchen sie alternative Wege zu beschreiten, führt das in der Regel zu einem Ordnungsruf der Weltordnungsmächte, dem auch mit begrenzten Militärinterventionen Nachdruck verliehen werden kann. Spätestens nach dem Umschlag der beschleunigten Akkumulation in die Überakkumulation von Kapital ist allerdings kein allgemeines Wachstum mehr möglich, an welchem die sogenannten Entwicklungsländer zwar in geringerem Maße partizipieren als die führenden Nationen, das aber immerhin auch bei ihnen noch stattfindet. Mit dem Beginn der Überakkumulation ist allerdings Kapitalwachstum nur noch durch eine Verdrängung anderer Kapitale möglich, also durch eine Kapitalvernichtung, die vor allem in den untergeordneten Nationen stattfindet. Solche Verdrängungsprozesse einzuleiten, war das Ziel des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine, dessen Scheitern im Jahr 2014 für die USA ein solches Ärgernis war, dass diese einen Staatsstreich in der Ukraine förderten, um eine „westlich orientierte“ Regierung einzusetzen. Die seither bestehende Auseinandersetzung zwischen der Ukraine als imperialistischem Vorposten der Westmächte und der russischen Föderation hat den fundamentalen Gegensatz gezeigt, in welchem die beteiligten Staaten es vorziehen, ihre Interessen mit kriegerischen Mitteln zu behaupten, ehe sie auf deren Durchsetzung verzichten. Offensichtlich halten sie es für notwendig, ihren Interessen um jeden Preis Geltung zu verschaffen, um als kapitalistisch erfolgreiche und politisch einflussreiche Macht bestehen zu können. Wenn das nicht gegen die Herrschaft solcher Mächte spricht, dann ist diese wohl durch nichts zu erschüttern!

Man muss übrigens gar nichts über die widersprüchliche Entwicklung der Kapitalakkumulation wissen, um die Ideologie zu entkräften, dass internationaler Handel dem wechselseitigen Vorteil der Handelspartner diene. Wenn sich nämlich ein Entwicklungsland tatsächlich entwickelt und zum kapitalistischen Konkurrenten aufsteigt, wird das von den maßgeblichen Nationen keineswegs als Erfolg verbucht, in dem sich wieder einmal die Unschlagbarkeit des kapitalistischen Systems erweisen würde. So gilt der Aufstieg Chinas keineswegs als erfreulich: „Offensichtlich ist es nicht so, dass sich der Rest der Staatenwelt und mit ihm die Völker unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen.“[2] Im Gegenteil: „Weil in dieser Welt der Marktwirtschaft und Staatenkonkurrenz jeder Erfolg des einen letztlich auf Kosten anderer geht, gibt China als Newcomer auf dem Weltmarkt neben allen Geschäftsmöglichkeiten, die es anderen eröffnet, ganz offensichtlich auch Grund zur Sorge um die eigenen Erfolgsaussichten und damit Anlass zu einer immer auch latent feindseligen Stellung zu ihm.“[3]

Die Frage, was die Ukraine denn sonst machen solle, nachdem sie von Russland angegriffen wurde, zeugt angesichts all der hier vorgebrachten Argumente von nichts als Ignoranz. Wer so denkt, dem ist die Geltung nationaler Interessen eine Selbstverständlichkeit, deren Verteidigung er mit dem Schutz unschuldiger Menschen gleichsetzt, die man ohne Krieg nur einem blutrünstigen Mörder ausliefern und der Vernichtung preisgeben würde.


[1] Vgl. dazu die Ausführungen von Freerk Huisken: FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass, Hamburg 2023

[2] Renate Dillmann: Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, Kindle E-Book, Köln 2025, S. 229

[3] Ebd., S. 229 f.

Bildungskatastrophen! Alice Weidel und Elon Musk sprechen über Hitler

Wien, 11. 1. 2025

Nachdem Alice Weidel schon des Öfteren als „Nazi-Schlampe“ beschimpft wurde, scheint es ihr ein Anliegen zu sein, Hitler und die Nazis als Kommunisten darzustellen, die eher im Lager jener anzusiedeln seien, welche sie auf diese Weise zu beschimpfen pflegen. In einem Gespräch mit Elon Musk behauptete sie daher, dass Hitler ein Linker gewesen sei. Seinen Kampf gegen Kommunisten und Sozialdemokraten wird sie demnach wohl für eine stalinistische Säuberungsaktion halten, umgekehrt wohl auch noch den Kampf der Kommunisten gegen die Nazis.

Diese Behauptung ist allerdings keineswegs neu, sondern schon lange bei Weißwäschern des Kapitalismus sehr beliebt. Seltsam ist nur, dass Hitler das ganz anders gesehen hat. So urteilt er in „Mein Kampf“ über die Sozialdemokratie: „Jedenfalls war das, was ich so vernahm, geeignet, mich aufs äußerste aufzureizen. Man lehnte da alles ab: die Nation, als eine Erfindung der ‚kapitalistischen‘ – wie oft mußte ich nur allein dieses Wort hören – Klassen; das Vaterland, als Instrument der Bourgeoisie zur Ausbeutung der Arbeiterschaft; die Autorität des Gesetzes, als Mittel zur Unterdrückung des Proletariats; die Schule, als Institut zur Züchtung des Sklavenmaterials, aber auch der Sklavenhalter; die Religion, als Mittel der Verblödung des zur Ausbeutung bestimmten Volkes; die Moral, als Zeichen dummer Schafsgeduld usw. Es gab da aber rein gar nichts, was so nicht in den Kot einer entsetzlichen Tiefe gezogen wurde.“[1] Eine Kritik der kapitalistischen Nation will Hitler nicht hinnehmen, ebenso hat er nichts gegen die kapitalistischen Klassen und stößt sich an deren Verunglimpfung als „kapitalistisch“, kann dieses Wort gar nicht mehr hören. Das Vaterland, die Autorität des Gesetzes, die Schule, die Religion und die Moral gelten ihm als unantastbare Werte, sind sie doch die ideologischen Mächte, die der Herrschaft von Kapital und Nation dienen und die ihm vertraute und als natürlich geltende bürgerliche Gesellschaftsordnung bilden.

Hitler lehnte also ganz unmissverständlich Marxismus und Kommunismus ab. Deren Internationalismus betrachtete er als Angriff insbesondere auf die deutsche Nation und damit auf jegliche Kultur, dennoch soll er allein deswegen links gewesen sein, weil ja bereits in dem Wort „Nationalsozialismus“ auch vom Sozialismus die Rede sei. Um an dieser Auffassung festzuhalten, blenden Menschen wie Alice Weidel auch aus, dass der Zusatz „national“ einen Widerspruch zur sozialistischen Kritik der Nation und dem eben erwähnten Internationalismus darstellt. Wenn man unbedingt wollte, könnte man genauso sachlich ungerechtfertigt Weidels Ablehnung der EU mit Hitlers Ablehnung des Internationalismus gleichsetzen. Alice Weidel, die man auch als Deutschlands Ayn Rand bezeichnen könnte, kümmert sich jedoch nicht um jene Aspekte, die ihrer Legende von Hitler als einem Linken widersprechen. Stattdessen greift sie nach jedem Strohhalm und daher alles auf, was diese These unterstützen könnte, auch wenn dies nur bei ignoranter und oberflächlicher Betrachtung möglich ist. Hierzu passt es auch wunderbar, dass die Nazis die Opferbereitschaft des arischen Arbeiters gerne zur Schau stellten. Zu diesem Zweck bedienten sie sich natürlich ganz billig der Rituale der Arbeiterbewegung, „to steal the Left’s thunder“,[2] um den Linken das Rampenlicht zu stehlen, wie Michael Parenti bereits in seinem 1997 erschienen Buch Blackshirts and Reds über diese verlogene Tour geschrieben hat. So setzt sich der Faschismus nach außen als Revolution in Szene, um die herrschenden Interessen von Kapital und Staat durchzusetzen: „It propagates a ’new order’ while serving the same old moneyed interests.“[3] (Er verkündet eine „neue Ordnung“, während er weiterhin denselben alten finanziellen Interessen dient.)

Solche Gesten der Anerkennung sind eigentlich leicht als Heuchelei zu durchschauen, zumal dann, wenn ihnen keine materielle Aufwertung entspricht, ganz im Gegenteil. Laut Parenti wurde zwar dank der Kriegsrüstung die Arbeitslosigkeit um die Hälfte reduziert, „but overall poverty increased because of drastic wage cuts“,[4] insgesamt nahm also die Armut wegen drastischer Lohnkürzungen zu. Diese Lohnkürzungen waren nur konsequent für den faschistischen Standpunkt, dass die Arbeit dem kapitalistischen Wachstum und dem davon abhängigen nationalen Reichtum, nicht aber einem angenehmen Leben der Arbeiter dienen sollte. Schließlich würde nur ein forderndes, kampfbetontes Leben zu jener Höherentwicklung der menschlichen Natur führen, die es für konkurrenz- und kriegstüchtige Subjekte braucht. Hitler war daher gegen die „Gleichmacherei“ des Kommunismus, weil damit die natürliche Unterteilung der Menschheit in mächtige Herrenmenschen, brauchbare Hilfsvölker und unwerte, der Vernichtung preiszugebende Untermenschen missachtet werde. Dem Kommunismus und seiner „Sozialromantik“ einer klassenlosen Gesellschaft setzt Hitler daher in einer Rede am 22. Juni 1944 vor Wehrmachtsoffizieren das Prinzip des Lebens als Kampf entgegen: „Der Krieg ist … das unabänderliche Gesetz des ganzen Lebens, die Voraussetzung für die natürliche Auslese des Stärkeren und zugleich der Vorgang der Beseitigung des Schwächeren. Das, was dem Menschen dabei als grausam erscheint, ist vom Standpunkt der Natur aus selbstverständlich und weise. Ein Volk, das sich nicht zu behaupten vermag, muss gehen und ein anderes an seine Stelle treten. Ein Wesen auf dieser Erde wie der Mensch kann sich nicht dem Gesetz entziehen, das für alle anderen Wesen auch gültig ist … Seit es Wesen auf dieser Erde gibt, ist der Kampf das Unvermeidliche.“[5] Wie Parenti berichtet, erklärt 1934 Benito Mussolini genau in diesem Sinne die Vorstellung eines „perpetual peace“ (ewigen Friedens) zu einer „depressing“ (niederdrückenden) Doktrin, denn nur durch grausamen Kampf und Eroberung erreiche die Menschheit ihre höchste Entwicklung. Mussolini stellt schließlich fest: „War alone … puts the stamp of nobility upon the peoples who have the courage to meet it.“[6] (Allein der Krieg drückt den Stempel der Vornehmheit auf die Völker, die den Mut haben, sich ihm zu stellen.)

Alice Weidel nennt es den größten Erfolg (wohl der Linken), dass ein antisemitischer Sozialist als konservativ und rechts dargestellt wurde, denn in Wirklichkeit sei er weder ein Konservativer noch ein Libertärer, sondern ein „communist-socialist guy“(Originalton Weidel) gewesen. Zwar hat er die Bolschewisten als Bestandteil der jüdischen Weltverschwörung zur Schädigung Deutschlands betrachtet, genauso wie das international raffende Finanzkapital im Unterschied zum der Nation dienenden schaffenden Industriekapital, aber ein Libertärer war er gerade deswegen sicher auch nicht und damit von vornherein ein Gegner von Weidel, für diese damit also ganz eindeutig ein Kommunist. Deswegen ist Weidel ja auch für grenzenlosen Kapitalverkehr, daher für die Erhaltung des EU-Binnenmarktes, nur ohne dessen Regulierungen und ohne die politische Bevormundung der EU-Bürokratie. Wer nicht für den entfesselten, sondern für einen regulierten Kapitalismus Partei ergreift, kann für Weidel vermutlich nur ein Kommunist sein. Da spielt es auch keine Rolle, dass es ohne zwischenstaatliche Regeln gar keine Handelsbeziehungen zwischen Staaten und daher auch keinen internationalen Kapitalverkehr gäbe. Auch dass diese Handelsbeziehungen immer wieder zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden, wenn sich für eine der beteiligten Nationen die ursprünglich erhofften Vorteile nicht einstellen, scheint Frau Weidel als Missbrauch einer anti-libertären Staatsgewalt zu betrachten. Anscheinend will sie in ihrer Begeisterung für die libertäre Ideologie einer allseitig nützlichen freien Marktwirtschaft nicht zur Kenntnis nehmen, dass Handelsverträge allein deshalb umstritten sind, weil sich hier Nationen jeweils zu ihrem Vorteil benutzen und damit widersprüchliche Interessen zur Geltung bringen wollen.

Hitler wollte unbedingt ein der deutschen Nation nützliches Kapital und lehnte aus diesem Grund das Finanzkapital ab. Darin würde Weidel ihm beim gegenwärtigen Stand der Dinge nicht folgen, wie es damals ausgesehen hätte, ist aber fraglich. Für den Erfolg des deutschen Kapitals setzte Hitler die staatliche Gewalt schließlich ohne Rücksicht auf Verluste ein und das nicht erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Zu diesem Zweck garantierten sowohl Hitler als auch Mussolini den Profit der Investitionen großer Unternehmen und der faschistische Staat übernahm auch den Großteil ihrer Risiken und Verluste. Darüber hinaus privatisierten sie staatseigene Elektrizitäts- und Stahlwerke sowie Dampfschifffahrtsgesellschaften.[7] Weidel behauptet jedoch im Gespräch mit Elon Musk das glatte Gegenteil, nämlich eine Nationalisierung des Kapitals durch Hitler, die sie wohl darin erblicken will, dass der Staat das Kapital auf diese Weise förderte, anstatt es sich selbst zu überlassen, weil doch für Weidel nur jene Unternehmen zu existieren verdienen, die sich als konkurrenztüchtig erweisen und daher keiner staatlichen Förderung bedürfen. Vielleicht hat sie auch Arisierungen mit Nationalisierungen verwechselt. Neu ist allerdings auch nicht ihre Behauptung, dass Hitler Privatunternehmen verstaatlicht hätte, diese scheint vielmehr zum Repertoire konservativer Auffassungen zu gehören. Aber wenn man immer nur jene Bücher liest, die den eigenen Standpunkt bestätigen, findet man eben nichts anderes. Ganz anders verhält sich Michael Parenti, der Angelo Codevilla als Beispiel für diese falsche Darstellung des Faschismus präsentiert, von dem Weidel abgekupfert haben könnte : „If fascism means anything, it means government ownership and control of business.“ (Wenn Faschismus irgendetwas bedeutet, so bedeutet er staatliches Eigentum und Kontrolle der Wirtschaft.) Parenti erwidert darauf mit einer Paraphrase dieser Behauptung: „In fact, if fascism means anything, it means all-out government support for business and severe repression of antibusiness, prolabor forces.“[8] (Tatsächlich, wenn Faschismus irgendetwas bedeutet, so bedeutet er totale staatliche Unterstützung für die Wirtschaft und harte Unterdrückung unternehmensfeindlicher, arbeiterfreundlicher Kräfte.)

Staatliche Unterstützung für die Wirtschaft, das ist für Weidel wohl Sozialismus, auch wenn diese vor allem dem Kapital dient. Sie will nämlich einen Staat, der sich auf seine Kernaufgaben zurückzieht, nämlich den Schutz des Privateigentums nach innen mittels Polizei wie nach außen mittels Militär, das den weltweiten Zugriff des Kapitals auf Geschäftsgelegenheiten durchsetzen soll. Dafür braucht es aber „starke Führer“, teilt sie Elon Musk mit, hätte also in dieser Hinsicht auch gegen Hitler nichts einzuwenden gewusst. Der Staat soll also keinerlei wirtschaftliche Interventionen durchführen, sondern nur dafür sorgen, dass die kapitalistischen Unternehmen ungehindert in die nächste Überakkumulationskrise schlittern können, in der sie wieder nach der starken Hand des Staates rufen, den sie sonst immer nur als Behinderung ihrer freien Entfaltung betrachten. Damit erweist sich Alice Weidel einmal mehr als Deutschlands Ayn Rand, für die sich ja bereits ein anderer Ökonom begeistern konnte. So gratulierte ihr Ludwig von Mises zu ihrem Mut, in ihrem Werk Atlas shrugged unangenehme Wahrheiten auszusprechen, welche die dummen Massen nicht gerne hören würden: „You have the courage to tell the masses what no politician told them: you are inferior and all the improvements in your conditions which you simply take for granted you owe to the effort of men who are better than you.“[9] (Sie haben den Mut, den Massen mitzuteilen, was ihnen kein Politiker erzählte: Ihr seid minderwertig und all die Verbesserungen eurer Lebensbedingungen, die ihr einfach für selbstverständlich haltet, schuldet ihr der Anstrengung von Menschen, die besser sind als ihr.)

Falls Alice Weidel einmal in die Lage kommen sollte, ihren ökonomischen Sachverstand durchzusetzen, wird sie sich mit dem Problem herumschlagen müssen, das bereits Friedrich A. Hayek zu schaffen machte, nämlich mit dem „Widerspruch zwischen Marktschicksal und Leistungsmobilisierung“,[10] wie Jan Rehmann Hayeks Dilemma nennt. Schließlich sollen die Bürger an den Zusammenhang von Leistung und Erfolg glauben, um weiterhin motiviert zu sein, ihre Leistungen zu erbringen oder zumindest anzubieten, auch wenn dieser Zusammenhang sich als unzutreffend erweist. So plädiert Hayek zwar dafür, an der Auffassung festzuhalten, dass der persönliche Reichtum von der eigenen Leistungsfähigkeit abhänge, aber „übertriebene“ Erwartungen zu vermeiden, dass dies immer der Fall sein müsse. Rehmann stellt daher ganz richtig fest: „Ohne illusionäre Anteile am Prinzip ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ ist Motivation nur schwer aufrechtzuerhalten.“[11] Das trifft vermutlich auch auf Weidels politische Überzeugungen zu.


[1] Adolf Hitler, zit. n. Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, Kindle E-Book, München 2017, S. 130; S. 39 der kritischen Edition, online zugänglich:

https://www.mein-kampf-edition.de/?page=band1%2Fp039.html&term=verbl%C3%B6dung#Fn101Chap2-volI-p017, aufgerufen am 11. 1. 2025

[2] Michael Parenti: Blackshirts and Reds. Rational Fascism and the Overthrow of Communism, San Francisco 1997, S. 16

[3] Ebd., S. 17

[4] Ebd., S. 7

[5] Adolf Hitler, zit. n. Manfred Schindlbauer: Thema: Geschichte. 7. Klasse, Wien 2007, S. 168

[6] Benito Mussolini, zit. n. Michael Parenti: Blackshirts and Reds, a. a. O., S. 12

[7] Michael Parenti: Blackshirts and Reds, a. a. O., S. 7

[8] Ebd., S. 8

[9] Ludwig von Mises zit. n. Georg Loidolt: Die Tugend des Kapitals, Wien 2020, S. 85, vgl.: https://cdn.mises.org/Ludwig%20von%20Misess%20Letter%20to%20Rand%20on%20Atlas%20Shrugged_4.pdf, aufgerufen am 12. 1. 2025

[10] Jan Rehmann: Einführung in die Ideologietheorie, Kindle E-Book, Argument Verlag 2008/2022, S. 275

[11] Ebd., S. 277 f.