Was ein Holocaust ist, bestimmen wir!
2010 stellt Gilbert Achcar, ein in London tätiger Professor für Studien über den Orient und Afrika, in seinem Buch The Arabs and the Holocaust die Frage, ob alle Formen der Leugnung des Holocaust gleich zu bewerten seien. Die darauf folgende Frage suggeriert, dass Leugnung nicht gleich Leugnung sei, dass man bestimmten Personenkreisen es nicht übel nehmen dürfe, wenn sie den Holocaust leugnen oder Rassisten seien: „Sollte man nicht zwischen einer Leugnung, die von Unterdrückern kommt, und einer Leugnung aus den Mündern der Unterdrückten einen Unterschied machen, so wie der Rassismus der herrschenden Weißen vom Rassismus der unterdrückten Schwarzen zu unterscheiden ist?“1 Es soll also durchaus zulässig sein, den Holocaust zu leugnen oder ein Rassist zu sein, abhängig von der gesellschaftlichen Position des urteilenden Subjekts. Arabischen Regierungen und Intellektuellen gesteht er dieses Recht zwar nicht zu, diese sollen ihr Leugnen beenden, aber bei den arabischen Massen sei dies entschuldbar, jedoch nicht wegen mangelnder „Bildung“, sondern „weil es doch aus berechtigter Wut rühre und aus gerechtfertigtem Haß“.2 Der Rassismus und die damit verbundene Holocaust-Leugnung der arabischen Maßen seien als Formen von Widerstand und Gegenwehr hinzunehmen und nicht als falsche Beurteilung eines politischen Konflikts zu kritisieren. Ganz anders stellt sich das für Bert Brecht dar, wie ich bereits in einem älteren Beitrag gezeigt habe: Rassismus ist ein Fehler, unabhängig von der Person.3 In seinen Geschichten vom Herrn Keuner hebt Brecht hervor, wie schnell sich dieser Fehler einstellen kann und wie notwendig es ist, sich dessen bewusst zu sein. Brechts Text stellt Hass nicht als berechtigt, sondern als unüberlegte Reaktion dar, als Verhalten, das ohne Gebrauch des Verstandes, ohne gedankliche Reflexion stattfindet und sich daher als Fehler erweist:
Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer
Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: „Ich kann überall hungern.“ Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. „Wodurch“, fragte Herr K., bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen.“4
Warum kommt Achcar nicht auf diesen einfachen Gedanken, dass der Hass arabischer Massen auf Juden nicht gerechtfertigt, sondern eine gedankliche Fehlleistung bzw. eine Folge unterlassenen Denkens ist? Oder anders gefragt: Was außer blankem, blindem Hass könnte einen Araber dazu, bringen, den Holocaust zu leugnen? Gilt den Arabern der Holocaust als Rechtfertigung Israels für ihre Vertreibung, um Raum für jüdische Siedler zu schaffen? Soll also mit der Leugnung des Holocaust dem Staat Israel die Legitimation für seine Gewaltanwendung bestritten werden? Wird der Holocaust deswegen in Frage gestellt, weil er zur Gleichsetzung des Kampfes der Palästinenser gegen Israel mit diesem genutzt wird? Sind Holocaust-Leugner der Auffassung, dass solche Gräueltaten ohnehin immer wieder vorkommen, ja sogar weit schlimmere? Stehen sie vielleicht gar auf dem Standpunkt, dass nur dann sofort von Genozid gesprochen werde, wenn „ein paar Juden“ umkommen, während dies bei anderen Völkern wie etwa den im Ersten Weltkrieg vernichteten Armeniern niemanden interessiert? Hat die Sowjetunion nicht sogar mehr zivile Opfer durch den NS-Staat hinnehmen müssen, von der Gesamtzahl ganz zu schweigen, statt Reparationsleistungen jedoch die Androhung endgültiger Vernichtung bis zur Selbstaufgabe erhalten? Beweist Netanyahus Krieg im Gaza-Streifen, dass Gefahr laufe, zum Opfer eines Holocaust zu werden, wer sich scheue, als Täter zu fungieren? Setzt er damit nun Hitler nachträglich ins Recht, dessen Genozid ja auch nur dem vermeintlichem Vernichtungswerk der Juden, der im Inneren der Nation wirkenden Feinde, gelten sollte? Würden Nazis Israels militärisches Vorgehen als Bestätigung der „jüdischen Gefahr“ betrachten oder wären sie beeindruckt von der Schlagkraft der israelischen Armee? Leugnen Araber den Holocaust vielleicht deswegen, weil sie die Vernichtung der Juden, die mit diesem Begriff verbunden ist, in Ordnung finden und selbst anstreben? Fragen über Fragen!
Auch in anderen Teilen der Welt komme es zu Gewaltakten in einem Ausmaß, das jenem Israels keineswegs nachstehe, nur im Falle Israels rege sich sofort Empörung, nur dem Staat der Juden gestehe man nicht zu, was jeder andere Staat als sein gutes Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nimmt. So beklagt eine Frau der Demokratischen Republik Kongo die selektive Wahrnehmung, welcher die Opfer in der Demokratischen Republik Kongo, obwohl besonders deren Osten als Rape Capital of the World gelte, gleichgültig sind, ganz im Gegensatz zu den Opfern in Gaza.5 Wenn Nazis beklagen, dass „ein paar ermordete Juden“ gleich als Holocaust gelten, so weist auch Israel den Vorwurf eines Genozids zurück, wenn seine Armee doch nur „ein paar Araber“ ins Jenseits befördere. Das ist ja das „Praktische“ und „Schöne“ an einer imperialistischen Weltordnung, dass immer wieder der Einsatz von massiver Gewalt zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung notwendig ist! Da kann man bequem Vorwürfe eines Genozids erheben oder umgekehrt als Normalfall imperialistischer Konflikte relativieren! Als ich 2021 in dem Artikel Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“ geschrieben habe, „dass der Imperialismus eine Million Tote pro Jahr frei habe“,6 also mit dieser Anzahl an Opfern als Minimum zu rechnen sei, habe ich diese Zahl wohl noch zu tief angesetzt. Angesichts der weltweit üblichen Gewaltaffären der imperialistischen Staatenwelt sieht Israel in seinem militärischen Vorgehen keinen Genozid und kann es sich nur als Antisemitismus erklären, wenn ihm dieser vorgeworfen wird. Schließlich soll ja gerade mit der Behauptung der Einzigartigkeit des Holocaust der Nazis jede Gewalt in Ordnung gehen, solange sie nur nicht genozidale Ausmaße annehme oder in genozidale „Auswüchse entarte“, wobei sich die Frage stellen würde, wer feststellt, ab wann die Vernichtung von Menschen als Genozid gelten darf. Auch Deborah Feldman hat in einem Gespräch über ihr Buch Judenfetisch darauf hingewiesen, dass die Holocaust-Erinnerungskultur erst so richtig in Fahrt kam, als es darum ging, die gerade aufkommenden Forderungen der kolonisierten Welt zum Schweigen zu bringen.7 Deren Ansprüche gelten wohl als Anmaßung im Verhältnis zum Leid der Juden, die daher allein Forderungen nach Wiedergutmachung stellen dürften. Oder anders gesagt: Um die Unterstützung der Westmächte zu erlangen, muss man zumindest als Holocaust-Opfer geadelt worden sein. Vielleicht erhält diesen Status aber auch nur ein Staat, dessen Existenz mit den Zielen arabischer Staaten im Nahen Osten nicht vereinbar ist und dadurch den Interessen der USA entspricht. Dann würde die Beurteilung von Massenvernichtungen als „leider“ unvermeidbares „Übel“ oder als unverzeihlicher Genozid bzw. Holocaust davon abhängen, ob diese Massenmorde den Interessen der herrschenden Mächte dienen oder widersprechen.
Mit solchen Bilanzen über die zahlreichen Massenvernichtungen der von der Rechtmäßigkeit ihres Einsatzes militärischer Gewalt überzeugten Staaten setzt man sich natürlich dem Verdacht der Relativierung der Massenvernichtung aus, die der NS-Staat an den Juden verübt hat. Es stellt sich nur die Frage, ob es tatsächlich als Verdienst eines Staates gelten soll, wenn er seine Morde nach „rationalen“ Kriterien und daher maßvoll ausführt, anstatt sich blindem Hass und einem davon getriebenen absoluten Vernichtungswillen hinzugeben. Diese „Rationalität“ fällt den imperialistischen Führungs- und Ordnungsmächten aufgrund ihrer überlegenen militärischen Gewalt natürlich leicht, dank welcher der Feind schnell besiegt ist und dafür weniger Opfer erforderlich sind. Auch Wahnvorstellungen wie jene der Nazis über die Juden, dass diese die Nation von innen heraus bekämpfen und schwächen würden, indem sie den Siegeswillen untergraben, sind nicht unbedingt nötig für die nationale Selbstbehauptung, auch wenn die Domino-Theorie der USA solchen Hirngespinsten schon recht nahe gekommen ist, die ja als Begründung des Kriegs gegen Vietnam gilt. Zwar haben solche Wahnvorstellungen ihre Grundlage in der nationalen Konkurrenz, sind aber dafür nicht zwingend notwendig.8 Soll man es nun aber tatsächlich einer Nation zugute halten, wenn sie in ihren imperialistischen Handlungen ohne solchen Wahn auskommt?
1 Gilbert Achcar, zit. n. Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, Springe 2017, S. 241
2 Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft, S. 242
3 https://lektoratsprofi.com/2021/10/19/rassismus-ist-ein-fehler-unabhaengig-von-der-person/, aufgerufen am 12. 9. 2025
4 Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner, in: Kalendergeschichten, Berlin 2013, S. 140
5 Kongolesische Frau sendet eine harte Botschaft an palästinensische Demonstranten, https://www.youtube.com/watch?v=-8qwZ90NXYU, aufgerufen am 14. 9. 2025
6 Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“, https://lektoratsprofi.com/2021/02/08/imperialistische-leichenberge-und-haltlose-querdenker/, aufgerufen am 14. 9. 2025
7 99 zu eins: Judenfetisch mit Deborah Feldman, https://www.youtube.com/watch?v=xheEIBN4HRo&t=3439s, Minute 50,40, aufgerufen am 14. 9. 2025
8 Vgl. dazu auch mein Buch Von Nutzen und Nachteil des Faschismus für die Demokratie, Wien 2013
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