Der beste Kanzler aller Zeiten
Nur hartherzige Menschen verspüren keine innere Rührung, wenn sie Zeuge des verantwortungsvollen Handelns von Sebastian Kurz werden! Ihm ist sein Land wichtiger als seine eigene Person! Deswegen ist er schweren Herzens als Bundeskanzler zurückgetreten, obwohl seinem Land eigentlich nie etwas Besseres als seine Führung passiert ist. Genauso war er sich davor keiner Handlungs- oder Ausdrucksweise zu schade, wenn sie dem wichtigen Ziel diente, ihn zum österreichischen Bundeskanzler zu machen und damit der Republik zu ihrem größten Glück zu verhelfen. Er scheute nicht davor zurück, sich die Hände schmutzig zu machen und wenn möglich ein Bundesland aufzuhetzen, wenn man dadurch erreichen konnte, das arme Land von „unfähigen Führern“ wie einem Herrn Mitterlehner zu befreien. Für Sebastian Kurz hat dieses Land jedes Opfer verdient, selbst seinen – in seiner Sicht hoffentlich nur vorübergehenden – Rückzug als Bundeskanzler, zumindest der Form nach, auch wenn es vielleicht nur den Anschein hat, dass dies erforderlich sei.
Dabei hat Sebastian Kurz in den veröffentlichten Chat-Protokollen doch nur bewiesen, dass er ein Mensch ist wie du und ich, kein abgehobener Politiker, sondern jemand, der die Sprache des Volkes spricht und nicht nur Volksnähe vortäuscht. Und für dieses „Sittenbild“ meint dieser Schnösel von Bundespräsident sich entschuldigen zu müssen? Etwa deswegen, weil dieser sich einer Elite zugehörig fühlt, der solch ehrlich empfundene Worte der Verunglimpfung wie „Arsch“ niemals über die Lippen kämen, weil ohnehin alles an diesen Menschen unehrlich ist? Weswegen sollte man sich selbst in privaten Nachrichten in Zurückhaltung üben, wenn man ehrlich empfundene Abneigungen hegt und pflegt? Das würde gewiss nicht der psychischen Gesundheit dienen und einen psychisch kranken Staatsführer kann doch niemand wollen! Darüber hinaus gehört es doch zur Grundausstattung eines bürgerlichen Subjekts zwecks Bewährung in der Konkurrenz, die daher schon in der Schule entwickelt werden soll, dass man von sich selbst überzeugt sein und voller Selbstvertrauen auftreten muss, wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich sein will. Wie sollte Sebastian Kurz mit dieser Überzeugung denn je auf die Idee kommen, dass sein persönlicher Erfolg als Politiker nicht mit dem höchsten staatlichen Nutzen zusammenfallen würde? Und gibt es denn für die Haus- und Hofberichterstattung in Zeitungen und Fernsehen hier irgendetwas auszusetzen? Hätten sie irgendeine Kritik an Herrn Kurz vorzubringen, wenn nicht dessen vermeintlich unschönes, diesem hohen Amte angeblich unwürdiges Innenleben in den Chat-Nachrichten offenbart worden wäre?
Kurz wird ja verdächtigt, Medien für eine ihm gewogene Berichterstattung bestochen zu haben. Manchmal muss man eben dem Weltgeist ein wenig nachhelfen, damit er erkennt, in welchem Subjekt er sich gerade zu verkörpern hat! Da darf man sich nicht durch falsche Rücksichtnahme vom rechten Weg abbringen lassen, denn darin besteht eben Führungsstärke, dass man erkennt, was es für den Erfolg braucht! Deswegen hat ja auch der Mitstreiter von Kurz namens Schmid sich so darüber gefreut, dass Herr Fellner weiß, wie der Kapitalismus funktioniert: Wer zahlt, der schafft an! Für dieses nüchtern-sachliche Bekenntnis zum Interesse haben ja bereits Marx und Engels die bürgerliche Gesellschaft gelobt, in der falschen Schlussfolgerung, dass deswegen auch mit heuchlerischer Selbstdarstellung Schluss sei. Auch Robert Musil nennt es einen zivilisatorischen Fortschritt, wenn man unverblümt zu seinen Interessen steht: „In Paris soll man z. B. heute schon bestimmte Theaterkritiker kaufen können, bei uns muß man noch mit ihnen befreundet sein, was oft viel unangenehmer ist.“[1] Vor allem ist dieses Verfahren viel aufwendiger und umständlicher, setzt Musil fort. So müsse man zwanzig Senatoren Vorteile gewähren, wenn man einen gewinnen wolle, während man Ärzte, Anwälte oder Journalisten einfach für ihre Dienste bezahlen könne. Schließlich gelangt er zu folgendem Urteil: „Ich weiß nicht, ob ehrlich am längsten währt, aber es währt jedenfalls lang und ist eine umständliche Währung. Und während bei uns immerhin noch in den meisten Dingen ein rückständiger Tauschhandel herrscht, scheint sich anderswo schon der völlige moralische Geldverkehr durchzusetzen.“[2] Wenn sich Sebastian Kurz hier eines Vergehens schuldig gemacht haben könnte, dann wohl höchstens dessen, dass er sich noch nicht auf der Höhe des moralischen Geldverkehrs befindet, sondern teilweise noch dem rückständigen Tauschhandel gehorcht. Denn wie sonst sollte man es sich erklären, dass er seinem Kumpel Benko angeblich dazu verholfen habe, ein Haus in Wien weit unter dem tatsächlichen Wert zu erwerben? Zählt diese Form der Günstlingswirtschaft bereits zum Geldverkehr oder gehört sie noch dem Tauschhandel an? Angesichts des keineswegs edlen Antlitzes des Herrn Benko, das durchaus eine von innen kommende Hässlichkeit offenbart, könnte es ja auch sein, dass Herr Kurz sich hier altruistisch betätigt und Mitleid für eine von der Natur stiefmütterlich behandelte Kreatur gezeigt hat. Aber die böswillige Kammerdienerperspektive der Moral sieht in allem nur den schnöden persönlichen Nutzen und nicht das Große und Verantwortungsvolle, das im Wirken eines Herrn Benko besteht. Auch ich habe mich soeben dieser kleinlichen Kammerdienerperspektive schuldig gemacht und Herrn Benko böswillig als innere Hässlichkeit ausgelegt, was nur der Last seiner großen Verantwortung zugeschrieben werden kann. Dabei befinde ich mich glücklicherweise in bester Gesellschaft, hat doch eine Journalistin über den ORF-Reporter Hans Bürger mit folgenden Worten gelästert: „Einmal möcht‘ ich so verliebt sein wie der Hans Bürger in den Herrn Kurz!“[3] Anstatt diese Dame dafür zu bedauern, dass sie nicht zu solchen tiefen Gefühlen wie er fähig ist, hat der angesprochene Herr Bürger sich angegriffen gefühlt. Einem echten Hofberichterstatter in der Demokratie geziemt eben Respekt nur vor dem hohen Amt, nicht aber vor der Person, die der Würde dieses Amtes ohnehin nie gerecht werden kann. Dem Amtsträger gegenüber muss zumindest der Anschein kritischer Distanz gewahrt bleiben.
Nun ist es also erst einmal vorbei mit dem Glanz des Herrn Kurz, der mit seinem Ruf nach „echter Veränderung“ für orgiastische Begeisterungsstürme unter seinen Anhängern gesorgt hatte, wie man sie seit Hitlers und Jörg Haiders Zeiten nicht mehr gesehen hat. Das gelang Kurz, ohne dabei sagen zu müssen, an welche Veränderung er da eigentlich denkt. Offensichtlich sind in dieser besten aller möglichen Welten die Bürger von solchen Drangsalen beherrscht, dass erstens jeder sich nach Veränderung sehnt, egal welche, und zweitens anscheinend alle dasselbe darunter zu verstehen glauben. Echte Veränderung – ist das eine Drohung oder eine Verheißung? Wollte Kurz in Österreich den rückständigen Tauschhandel bei der Durchsetzung von Interessen zum moralischen Geldverkehr weiterentwickeln und ist damit nun gescheitert? Wie dem auch sei, nun ist er glanzvoll vom Amt des Bundeskanzlers zurückgetreten und hat diesem Amt damit wieder jene Würde verliehen, die dem Ex-Kanzler wegen der Identifikation seiner politischen Karriere mit dem Wohl der Republik Österreich nicht mehr zugesprochen wird. Darauf legt man nämlich hierzulande Wert, dass man dem Allgemeinwohl nur zu dienen hat, womit sich allerdings schon die Frage stellen würde, wer etwas von diesem Allgemeinwohl haben darf. Aber solche Fragen sind nicht erwünscht, schließlich könnten sie zu einer Kritik der herrschenden Verhältnisse führen, die nicht in der Sorge um deren Fortbestand und Entwicklung bestehen würde. Selbst in dieser Sorge müssen die Bürgerinnen allerdings noch dazulernen und endlich einsehen, dass nicht zimperlich sein darf, wer „echte Veränderung“ will! Andererseits weiß ohnehin jeder, dass sich die politische Herrschaft auch dienstbar macht, wer sich diese Herrschaft verdient hat, indem er sie innehat – nur darf man dabei nicht so respektlos vorgehen und sich auch noch erwischen lassen! Diese Lektion wird unser Ex-Wunderknabe Sebastian Kurz vermutlich nun gelernt haben.
[1] Robert Musil: Zivilisation, in: Fred Lönker (Hg.): Musil zum Vergnügen, Stuttgart 2017, S. 101
[2] Ebenda
[3] https://www.heute.at/s/orf-star-beflegelt-kollegin-du-bist-letztklassig–44071871, aufgerufen am 11. 10. 2021
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