2023

Lohn-Preis-Spirale

Wien, 11. 12. 2023

Nach einem langen Zeitraum niedriger Inflation, als eher die Angst vor einer Deflation umging, weist die kapitalistische Weltwirtschaft seit ungefähr zwei Jahren hohe Inflationsraten auf. Vor allem hohe Energiepreise werden dafür verantwortlich gemacht, welche dem Interesse der herrschenden Westmächte an einer Schädigung Russlands entspringen, weswegen ja für ein paar Jahre doch ein wenig Frieren für die Freiheit verlangt werden könne. Deswegen verbietet sich natürlich auch, sich gegen gestiegene Lebenshaltungskosten mit der Forderung höherer Löhne zur Wehr zu setzen. Darüber hinaus setzen die Hüter des Kapitalstandorts und ihre willfährigen Intellektuellen das Dogma in die Welt, dass höhere Löhne ohnehin nichts bringen würden, da sie die Inflation nur durch eine Lohn-Preis-Spirale weiter antreiben würden.

Abgesehen davon, dass im Bild dieser Spirale das Interesse der Kapitalisten an ihrem Profit wie ein davon unabhängiges Sachgesetz erscheint, könnte man am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung allein schon deshalb zweifeln, weil ja dann überhaupt nicht einzusehen wäre, weswegen sich die Führer kapitalistischer Unternehmen gegen Lohnerhöhungen wehren. Ihrer Logik zufolge könnten sie sich doch ohnehin gleich wieder durch Preiserhöhungen schadlos halten, sodass höhere Löhne nur zu höheren Preisen und somit zu einem Nullsummenspiel führen würden. Allein an dem Umstand also, dass kapitalistische Unternehmen sich höheren Löhnen widersetzen, lässt sich umgekehrt die Behauptung einer Lohn-Preis-Spirale als falsche Aussage entlarven. Dazu hat vor langer Zeit bereits Karl Marx alles Wesentliche in seiner Schrift Lohn, Preis, Profit erklärt, auf die ich bereits 2016 in meinem Buch „Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung hingewiesen habe. Schon zu Lebzeiten von Marx hieß es, „dass jede Lohnerhöhung eine entsprechende Preiserhöhung nach sich ziehen und daher wirkungslos verpuffen würde“.[1] Marx hat hingegen nachgewiesen, dass bei einer allgemeinen Lohnerhöhung, bei der also jeder Lohnabhängige eine Lohnerhöhung erhält, zunächst die Preise für Konsumgüter steigen würden, weil ja auch jene Lohnarbeiter über einen höheren Lohn verfügen, die in der Produktion von Luxusgütern für die „Bessergestellten“, also für die herrschende Klasse tätig sind. Die Kapitalisten im Bereich der Luxusgüterproduktion kämen dadurch aber zweifach unter Druck: zum einen durch die gestiegenen Lohnkosten, zum anderen durch die höheren Preise für Konsumgüter des täglichen Bedarfs. Selbst wenn die Kapitale der Produktion notwendiger Konsumgüter ihre gestiegenen Kosten durch höhere Preise weitergeben könnten, träfe dies für die Unternehmen der Luxusgüterproduktion also keineswegs zu. Weil zumindest die hier agierenden Kapitalisten nicht nur höhere Löhne, sondern auch höhere Preise für ihren eigenen Konsum aufbringen müssten, würde die Nachfrage nach Luxusgütern fallen, jene nach Konsumgütern hingegen steigen. In Marx Worten: „Da ihr Einkommen vermindert, würden sie weniger auf Luxusartikel zu verausgaben haben, und so würde ihre wechselseitige Nachfrage für ihre respektiven Waren abnehmen. Infolge dieser Abnahme würden die Preise ihrer Waren fallen. Daher würde in diesen Industriezweigen die Profitrate fallen, und zwar nicht bloß im einfachen Verhältnis zu der allgemeinen Steigerung der Lohnrate, sondern im kombinierten Verhältnis zu der allgemeinen Lohnsteigerung, der Preissteigerung der Lebensmittel und dem Preisfall der Luxusartikel.“[2]

Dadurch käme es entweder zu einer Umschichtung von Kapital aus der Produktion von Luxusgütern zu jener von Waren des alltäglichen Bedarfs oder es könnten sich auch Lohnabhängige nun ein wenig an Luxusgütern leisten, dann würde diese Umschichtung bloß geringer ausfallen. Marx hat auch nachgewiesen, dass eine solche Umstrukturierung der Produktion keineswegs von geringem Ausmaß wäre: „Wenn ihr bedenkt, daß 2/3 des nationalen Produkts von 1/5 der Bevölkerung – oder sogar nur von einem Siebtel, wie kürzlich ein Mitglied des Unterhauses erklärte – konsumiert werden, so begreift ihr, welch bedeutender Teil des nationalen Produkts in Gestalt von Luxusartikeln produziert oder gegen Luxusartikel ausgetauscht und welche Unmenge selbst von den Lebensmitteln auf Lakaien, Pferde, Katzen usw. verschwendet werden muß, eine Verschwendung, von der wir aus Erfahrung wissen, daß ihr mit steigenden Lebensmittelpreisen immer bedeutendere Einschränkungen auferlegt werden.“[3]

Es ist doch gar nicht so ein schwieriges Unterfangen, die Lohn-Preis-Spirale als Propaganda im Interesse des Kapitals zu begreifen. Natürlich ist es den Kapitalisten immer recht, wenn die Löhne jener Unternehmen hoch sind, deren Lohnarbeiter bei ihnen einkaufen. Zwar könnten auch die Kapitalisten jener Unternehmen bei ihm einkaufen, aber die können nicht mehr essen als nötig, dafür aber besser und luxuriöser nicht nur essen, sondern ihr Leben insgesamt gestalten. Eine allgemeine Lohnerhöhung ist dagegen immer zum Schaden des Kapitals, weil ja insgesamt beim Verkauf seiner Produkte an Lohnempfänger nicht mehr Geld in seine Kassen gespült werden kann, als es davor in Form von Lohn ausgegeben hat. Der Profit von Kapitalisten als Klasse kann nur dadurch zustande kommen, dass sich diese wechselseitig ihre Überschüsse abkaufen. Dafür braucht es allerdings den Kredit und das Wirtschaftswachstum, denn die Kapitalisten müssen für die Erneuerung des fixen Kapitals (Gebäude, Maschinen) Rücklagen bilden, die sich als Ausfall ihrer Nachfrage auswirken würden, wenn sie nicht vom Bankkapital als Kredit wieder in den Kapitalkreislauf zurückgeführt würden. Dass sich hierbei immer wieder Kredit- und Absatzkrisen einstellen müssen, ist nicht erstaunlich und wird von den Kapitalisten zur Verdrängung von Konkurrenten aus dem Markt genutzt.   Inzwischen ist das Kapital auch mobil genug, um sein Kapital zwischen verschiedenen Standorten aufzuteilen und kann seine Tätigkeit auf Standorte mit billigeren Löhnen auslagern. Viel lieber erspart sich das Kapital jedoch Umzugskosten und da kommt ihm eine Inflation gerade recht, die seinen Profit erhöht, weil den höheren Preisen, die es dadurch verlangen kann, keine entsprechend gestiegenen Löhne gegenüberstehen, die Inflation sich bei ihm also als Lohnsenkung bezahlt macht. Damit das so bleibt, dürfen die Löhne natürlich keineswegs erhöht werden, und so wird wieder einmal die traditionsreiche Lüge von der Lohn-Preis-Spirale bemüht. Aus demselben Grund ist nebenbei bemerkt auch ein Mangel an Inflation, also eine Deflation ein viel schrecklicheres Gespenst, denn das bedeutet, dass das Kapital seine Preise senken muss und daher sein Profit fällt – eine für Kapitalisten natürlich unerträgliche Sache. Als Lohnempfänger ist man so oder so im Nachteil, weil das eigene Leben vom kapitalistischen Erfolg abhängt. Diese Abhängigkeit loszuwerden, ist also die nicht weniger traditionsreiche Notwendigkeit, die Marx und Engels mit folgenden Worten verkündet haben: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten.“[4]


[1] Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung, Wien 2016, S. 144

[2] Karl Marx: Lohn, Preis, Profit, in: MEW, Bd. 16, S. 107 f.; Hervorhebung im Original.

[3] Karl Marx: Lohn, Preis, Profit, a. a. O., S. 107; Hervorhebung im Original.

[4] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 493

Freiheit und Verbürgerlichung

Wien, 12. 6. 2023

In der Literatur linker Autoren ist immer wieder von einer Studie aus den 1970er-Jahren die Rede, die Paul Willis über englische Arbeiterjugendliche durchgeführt hat. Der englische Titel dieser Untersuchung lautet Learning to Labour, die Herausgeber der deutschen Übersetzung haben sich für den auffälligeren Titel Spaß am Widerstand entschieden. Die Arbeiterjugendlichen leisten nämlich Widerstand gegen das Angebot der Schule, durch eine bessere Ausbildung an bessere Jobs heranzukommen, denn sie verachten intellektuelle Arbeit als schwul und betrachten umgekehrt ihre schwere körperliche Arbeit als männlich. Indem sie bürgerliche Karriereangebote ablehnen, würden sie sich zur Subalternität verurteilen und genau die ungelernten, mühsamen und schlecht bezahlten Arbeiten erhalten, die für sie vorgesehen sind. Der Untertitel der englischen Ausgabe dieser Studie lautet daher „How Working Class Kids get Working Class Jobs“.

Es ist allerdings fraglich, ob sich diese Jugendlichen erst dadurch dazu verurteilen, die Jobs zu erhalten, die für sie vorgesehen sind. Spricht es nicht vielmehr für ihre Illusionslosigkeit, dass sie sich nichts vormachen und gar nicht erst versuchen, eine bürgerliche Karriere anzustreben? Was würde denn passieren, wenn sie alle eine bessere Ausbildung erlangen würden, danach aber auch keine anderen Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung stünden als davor, weil sich nun ein Ausbildungsstand verallgemeinert hat, den davor nur wenige erreicht hatten? Das Resultat wäre dann jener triste Bäckerjunge, den Pasolini in den Freibeuterschriften geschildet hat. Dieser zog früher in zerlumptem Gewand pfeifend und scherzend seine Runden, schämte sich seiner Bekleidung jedoch keineswegs, sondern verarschte mit anarchistischem Humor die reiche Kundschaft: „Der Welt des Reichtums hatte er seine Welt, mit eigenen Werten, entgegenzusetzen.“[1] Es ist jene Welt kleiner Landarbeiter und Bauern, welche die Brüder Taviani in ihrem Firm „Kaos“[2] schildern, die Welt der Cabiria in Federico Fellinis Film „Die Nächte der Cabiria“ oder auch jene in Peter Roseggers Romanen und Erzählungen, die Pasolini den Heilsversprechen des Warenkonsums entgegensetzt. Der langhaarige und schnauzbärtige Bäckerjunge der neueren Zeit trägt hingegen seinen Plastiksack mit kleinbürgerlichem Ernst durch die Gegend, denn „diese Jugendlichen sind traurig, weil sie – nachdem ihre Werte und ihre kulturellen Modelle zerstört wurden – sich ihrer kulturellen Unterlegenheit bewußt geworden sind“.[3] War ihnen früher bürgerlicher Erfolg egal, so ist er ihnen nun wichtig und sie leiden darunter, dass er ausbleibt: „Die solchermaßen gedemütigten Jugendlichen aus dem Subproletariat radieren aus ihren Personalausweisen die Bezeichnung ihres Berufs aus und ersetzen sie durch die Angabe ‚Student‘.“[4]

Die von Pasolini am Beispiel des Bäckerjungen geschilderte Entwicklung würde wohl auch auf die Arbeiterjugendlichen von Paul Willis zutreffen, wenn diese bürgerliche Karrieren anstreben und dann trotz ihrer besseren Ausbildung wieder auf jenen Arbeitsplätzen landen, die sie schon davor erhalten hatten. Zu den schlechten Jobs käme dann noch das Gefühl des Scheiterns hinzu, während sie davor ihre Arbeit immerhin als Kennzeichen ihrer Männlichkeit schätzten. Es mag zwar sein, dass diese Absage an bürgerlichen Karrierismus eine unzureichende Form des Widerstands darstellt, weswegen aber die Orientierung auf höhere Bildung hier vorzuziehen sei, ist nicht nachvollziehbar, stellt diese doch vielmehr das Bestreben dar, sich in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich einzurichten, ist also alles andere als eine Form des Widerstands. Es wird ja wohl kaum so sein, dass sie aufgrund ihres Strebens nach einer besseren beruflichen Ausbildung Karl Marx lesen wollen oder müssen.

Ebenso wenig wie die Forderung einer „besseren“ Bildung wird das Verlangen nach mehr Freiheit zu einer vernünftigen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft führen. Wer mehr Freiheit fordert, wird schnell zu hören bekommen, dass es nur an ihm liege, wenn er aus seiner Freiheit nichts zu machen verstehe, und das vollkommen zu Recht, schließlich ist genau das der Inhalt von Freiheit, dass niemand zu einer Arbeit gezwungen wird, sondern sich selbst darum bemühen muss, eine Arbeit zu finden, für die er bezahlt wird. Wer mehr Freiheit im Zugriff auf gut bezahlte Arbeit oder wer mehr Umverteilung fordert, gilt als jemand, der die anderen Bürger zwingen wolle, sich seinen Interessen zu unterwerfen. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, man könne die Forderung nach Freiheit aus ihrer bürgerlichen Hülle herauslösen und zu einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nutzen, auch wenn sich die Bürger mit falschen Vorstellungen von ihrer Freiheit immer wieder als Störung bemerkbar machen. Zu mehr als zur Klage über den vermeintlichen Missbrauch der Freiheit durch andere Bürger oder den Staat bringen sie es in ihren Beschwerden konsequenterweise nicht und sehen sich daher umgekehrt mit derselben Anklage konfrontiert. Wer daher die Freiheit wegen ihrer allgemeinen Wertschätzung für seine politischen Ziele einzusetzen und sich auf die Fahnen schreiben zu können hofft, wird nicht mehr erreichen, als das Rechtsbewusstsein der Bürger anzurufen, das sich auch in deren rechtsradikalen Unmutsäußerungen zeigt, ohne dass Linke deswegen sofort von diesen begeistert wären, nur weil sie sich als Störung der bürgerlichen Ordnung erweisen.

Wenn also der Widerstand britischer Arbeiterjugendlicher bei aller Störung zumindest für die Schule des bürgerlichen Staates nicht ausreicht, um dessen Herrschaft in Frage zu stellen, sondern sogar eine positive Einstellung zu den für sie vorgesehenen schlecht bezahlten Jobs offenbart, so trifft das auf Freiheitsvorstellungen der Bürger ebenso zu, selbst wenn auch diese immer wieder zu Störungen im bürgerlichen Getriebe führen können. Auch mit ihren Urteilen über Freiheit nehmen die Bürger eine positive Haltung zu der Nötigung ein, die mit ihrer Freiheit verbunden ist. Nach der Logik der Linken, dass an die Freiheitsvorstellungen der Bürger anzuknüpfen sei, weil sie dem Staat die Einschränkung ihrer Freiheit vorwerfen, müsste man auch den Stolz der Arbeiterjugendlichen auf ihre Fähigkeiten das Anpackens und der darin offenbarten männlichen Stärke affirmieren, weil sich auch darin Widerstand zur herrschenden Ordnung zeigt. Anders gesagt: Die Freiheit hochzuhalten, ist genauso ungeeignet zur Entwicklung eines revolutionären Denkens, wie es der Stolz der Arbeiterjugendlichen auf ihre Belastbarkeit bei schwerer körperlicher Arbeit ist. Mit ihrem Stolz auf ihre Freiheit integrieren sich die Bürger genauso in in die bürgerliche Gesellschaft wie die britischen Arbeiterjugendlichen mit ihrem Stolz auf ihre Fähigkeiten zur Verrichtung schwerer körperlicher Arbeit.


[1] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1981, S. 38

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kaos_(Film), aufgerufen am 12. 6. 2023

[3] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, a. a. O., S. 38

[4] Ebd., S. 30 f.

Kritik an Gramsci, dazu passend eine Bemerkung in eigener Sache

 Wien, 1. 5. 2023

Wer der Auffassung ist, dass jeder Mensch seines Glückes Schmied sei, dass allein von seinen Anstrengungen und seinem Geschick abhängig sei, was er in seinem Leben erreiche, dem ist offensichtlich nicht klar, dass dies für lohnabhängige Menschen nur in sehr begrenztem Ausmaß zutrifft. Die einzige Gewissheit, die im Zusammenhang von Lohn und Leistung gilt, besteht darin, dass fehlende Leistungsbereitschaft sicher keinen Erfolg bringt. Wer ein Dasein als Lohnabhängiger fristet und dennoch daran festhalten will, dass es nur von seinen Fähigkeiten abhänge, ob er damit erfolgreich ist, hat daher kein Klassenbewusstsein. Die Werbekampagnen der Wirtschaftskammer behaupten im Sinne obiger Auffassung, dass es allen gut gehe, wenn es der Wirtschaft gut gehe. Auch dies stimmt nur in der negativen Hinsicht, dass es niemandem gut geht, wenn das Kapital nicht erfolgreich akkumuliert, weil das gesamte Leben in der bürgerlichen Gesellschaft auf dem marktwirtschaftlichen Erfolg beruht. Umgekehrt verbürgt erfolgreiche Kapitalakkumulation noch lange nicht ausreichende Arbeitsplätze und Löhne für die Bedürfnisse derer, die von ihrem Lohn leben müssen. Die trostlose Wahrheit dieser Aussage ist also, dass das Leben der Bürger von der Kapitalakkumulation abhängt, deren Scheitern zwar die Anzahl derer vergrößert, die von sozialstaatlichen Almosen abhängen, deswegen aber den Lohnabhängigen noch lange kein gutes Leben beschert, wenn sie erfolgreich ist.

Warum bringe ich dieses Argument hier vor? Ich will damit nachweisen, dass proletarisches Klassenbewusstsein nichts ist, was sich automatisch aus der Stellung im Produktionsprozess ergibt. Und ich habe Gramsci immer so verstanden, dass es deswegen notwendig sei, solche Erkenntnisse unters Volk zu bringen sowie zu begreifen, dass auch davon scheinbar unabhängige kulturelle Bereiche von diesen grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhängen betroffen sind. Man muss daher immer auf die spezifischen Interessen der Bürger eingehen und sich mit den Urteilen auseinandersetzen, mit denen sie sich ihre gesellschaftlichen Verhältnisse erklären. Das kann natürlich nicht so geschehen, dass ich Menschen, die über ihr geringes Einkommen klagen, gleich mit der Analyse der Ware im „Kapital“ komme und z. B. sage, dass die Existenz des Reichtums als Warenansammlung ja schon alles andere als selbstverständlich sei. Damit würde ich nur verständnislose Blicke ernten. Es wäre hier allerdings möglich, darauf einzugehen, dass Waren der Bereicherung kapitalistischer Unternehmen dienen und deswegen teuer sind. Da muss ich natürlich damit rechnen, dass dies in eine Moraldiskussion über unersättliche Gierhälse abgleiten wird, und kann mich entsprechend darauf vorbereiten, wenn ich bereits gelernt habe, wie ich moralische Argumente widerlegen kann.[1]

Es kann also nicht zielführend sein, anderen Menschen fertige Urteile in einer Darstellung zu präsentieren, die ihnen fremd ist und nichts sagt. Ein erhellendes Beispiel für diesen Fehler habe ich in einem italienischen Film, dessen Titel ich leider nicht mehr weiß, in meiner Jugend gesehen. Da hielt ein Kommunist Arbeitern einen Vortrag, in dem er mit der Grundfrage der Philosophie begann, die sich darum dreht, ob die Welt materialistisch oder idealistisch aufzufassen sei. Bereits nach wenigen Minuten zeigten die Arbeiter ihre Unzufriedenheit mit diesem Vortrag und verlangten, dass er ihnen doch lieber etwas über die Ausbeutung erzählen solle, woraufhin sich dieser Kommunist empört an die Veranstalter wandte, die ihn zu diesem Vortrag eingeladen hatten, weil er nicht darauf hingewiesen worden sei, welch niedriges Bildungsniveau das Publikum hier aufweist. Auf diese Art und Weise kann man nicht darauf hoffen, andere Menschen zu erreichen, wenn man sich gar nicht mit ihren Gedanken und Urteilen auseinandersetzt, wobei ohnehin nicht einzusehen ist, welchen Nutzen hier eine Auseinandersetzung über die Grundfrage der Philosophie haben sollte.

In einem Gespräch über Antonio Gramsci[2] habe ich nun gelernt, dass ich diesen anscheinend bisher völlig falsch verstanden habe, viel habe ich von ihm ja auch nicht gelesen. Es gehe Gramsci nicht um einen Kampf um die Köpfe, also um die Urteile und Auffassungen der Bürger, habe ich dort erfahren, sondern um die konkrete gesellschaftliche Praxis. Und hier müsse man versuchen, bei den Bürgern Prozesse selbständigen Lernens in Gang zu setzen, sie hierbei jedoch mit eigenen Argumenten zu ihrer persönlichen Situation unterstützen zu wollen, habe etwas von Oberlehrerhaftigkeit und Bevormundung. Dagegen wäre natürlich einzuwenden, dass man ohnehin niemandem abnehmen könne, die ihm präsentierten Urteile eigenständig nachzuvollziehen, zu überprüfen und sich entweder anzueignen oder zu verwerfen. Und wie solche eigenständigen Lernprozesse denn anders als durch Diskussion und auch durch eine Streitkultur in Gang gesetzt werden sollten, wurde ja in einer Kritik dieses Gesprächs[3] schon vorgebracht. Es ist auch nicht einzusehen, warum ausgerechnet Intellektuelle sich vornehm zurückhalten und nur ja niemanden zu brüskieren trachten sollten, wo doch die Gespräche und Diskussionen unter den Bürgern nur so davon strotzen, Recht behalten zu wollen und sich als souveräner Meister aller Lebenslagen zu präsentieren, eben als konkurrenztüchtiges Subjekt.

Dass die Anforderungen der Konkurrenz Versagensängste unter den Bürgern erzeugen, worauf diese mit narzisstischen Verhaltensweisen reagieren, die sich dadurch auszeichnen, von allen Menschen bewundert werden zu wollen, um den eigenen Erfolg in der Konkurrenz sicherzustellen, ist daher Thema meines neuen Buches.[4] Auch hier gibt es Menschen wie „Mister Kritikaster“, der ohne Lektüre des Buches zu wissen glaubr, welchen grundlegenden Fehler dieses aufweise, nämlich einen ökonomischen Gegensatz mit psychologischen Begriffen zu befrachten bzw. aus ökonomischen psychologische Gegensätze zu machen. Deswegen findet sich in der Rezension auf Amazon auch folgende Behauptung über Narzissmus: „In der schlichten Bedeutung als Ich-Bezogenheit wäre daran noch gar nichts zu bemängeln.“ Völlig richtig, lieber „Mister Kritikaster“, und hättest du mein Buch gelesen, so wüsstest du auch, dass sich genau diese Aussage darin findet, dass es aber auch völlig falsch ist und von vollkommener Ahnungslosigkeit zeugt, Narzissmus „in dieser schlichten Bedeutung“ zu verstehen. Bereits zu meinem Buch aus dem Jahr 2020 hat sich dieser Rezensent ohne dessen Lektüre geäußert, als hätte er es auf mich abgesehen, und sich die Freiheit genommen, daran das zu kritisieren, was er darunter aufgrund des Titels und des Themas verstehen zu können glaubt. Letztlich scheint sein Einwand zu lauten, dass beide Bücher nicht die Konkurrenz, sondern die darin herausgebildeten Tugenden kritisieren würden. Ich würde mich also an diesen Tugenden stoßen anstatt die ganz nüchterne Konkurrenz zu erfassen, wonach die Konflikte der Bürger bloß geschäftlich und nichts Persönliches sind. Diese Kritik geht vollkommen am Inhalt meiner Bücher vorbei, welche vielmehr zeigen, dass eine Konkurrenz ohne solche Tugenden gar nicht zu haben ist.

Unter dem Pseudonym „Karla Kritikus“ verfasst dieser Rezensent selbst Bücher und rotzt darin Sätze hin, die er wohl nie einer Kontrolle unterzieht. Anscheinend hält diese Person für unantastbar, was auch immer durch ihren Kopf gehen mag. Hier eine besonders grauenhafte Kostprobe eines Satzungetüms, in dessen Weiten sich der Autor grammatikalisch und inhaltlich verliert:

(Karla Kritikus: Sozialpolitik und Sozialreformen 2001-2022: Analyse und Kritik des Sozialsystems der BRD, S. 10 der Leseprobe bei Amazon) Gemeint ist wahrscheinlich, dass der Staat in Nachvollzug der Berechnungen des nationalen Kapitals die Funktionalität des sozialen Betreuungseinsatzes für die Abhängigen verschärfend gegen diese (die Betroffenen) sortiert.

Wer solche verbogenen Sätze jenseits grammatikalischer Richtigkeit von sich gibt, muss sich erstens nicht wundern, wenn seine Bücher nicht gelesen werden, und hat zweitens wohl kein ernsthaftes Interesse daran, andere Menschen bei Lernprozessen zu unterstützen. Dem kommt es vielmehr wie jedem beliebigen Bürger nur darauf an, sich dadurch Befriedigung zu verschaffen, dass er sich als Durchblicker präsentiert, der immer nur Recht behalten kann. Die eigene Ignoranz für Aufklärung zu halten und Denkverbote zu erteilen, wonach sich nicht mit den psychischen und ideologischen Formen zu beschäftigen sei, in welchen die bürgerlichen Subjekte ihre Widersprüche austragen und zu bewältigen trachten, ist allerdings ein Fehler, der sich an „Mister Kritikaster“ alias „Karla Kritikus“ studieren lässt. Diese Person kritisiert, zumindest in meinem Fall, was sie für die Sache hält, ohne sich mit dieser zu befassen. Deswegen muss man ja nicht in abstrakter Negation den umgekehrten Fehler begehen und auch solche Kritik unterlassen, die sich mit der Sache beschäftigt.


[1] Deswegen halte ich eine Kritik der Moralphilosophie für sehr nützlich und habe dazu die Bücher „Ewig lockt die Bestie“ und „Die Tugend des Kapitals“ verfasst.

[2] Alltagsverstand bei Gramsci mit Uwe Hirschfeld – 99 ZU EINS – Ep. 215, https://www.youtube.com/watch?v=qQNffqx0Zuw, aufgerufen am 1. 5. 2023

[3] (Un)taugliche Praxis? – Gramsci, Hirschfeld und der Alltagsverstand – 99 ZU EINS – Ep. 247, https://www.youtube.com/watch?v=5RwUJnQQek0, aufgerufen am 1. 5. 2023

[4] Das narzisstische bürgerliche Subjekt. Zwischen Größen- und Verfolgungswahn, https://lektoratsprofi.com/buecher/, aufgerufen am 1. 5. 2023

Marx und Moral

Wien, 26. 4. 2023

Bei einer Diskussion über die Kritik der Moralphilosophie wurde die Frage aufgeworfen, wie es mit dem Verhältnis von Marx zur Moral bestellt sei. Ist nicht auch seine Kritik des Kapitalismus moralisch motiviert? Oder ist die Moral nicht vielleicht sogar die Grundlage dieser Kritik? Da sich heutzutage Kapitalismuskritik ohnehin auf wenige moralische Einwände gegen ein übermäßiges und daher als Gier verdammtes Profitstreben beschränkt, liegt offensichtlich der Gedanke nahe, dass Kapitalismuskritik eine moralische Ausrichtung haben müsse.

Hierzu gilt es anzumerken, dass Marx zu seiner Kritik des Kapitalismus keines moralischen Anstoßes oder Gewissens bedarf. Es braucht hierfür nichts anderes als den Anspruch, sich die Welt, in der man lebt, zu erklären. Natürlich hat Marx wie jeder andere auch die als „soziale Missstände“ angeprangerten Zustände wahrgenommen, nur hat er sich nicht mit gedankenlosen Urteilen über diese zufriedengegeben, die z. B. das Elend anderer Menschen deren „Faulheit“ zuschreiben, sodass sie selbst dafür verantwortlich seien, wenn es ihnen nicht gut geht. Und selbst wenn die Kapitalismuskritik von Marx moralisch motiviert gewesen wäre, so ist nicht zu erkennen, welchen Einfluss das auf die Durchführung dieser Kritik haben sollte, da es hier doch darauf ankommt, sich mit der Sache ganz unabhängig von moralischen Ansprüchen zu beschäftigen. Da kann man schon auf den Gedanken kommen, dass eine Gesellschaft, in welcher Armut und Not herrschen, nicht vernünftig eingerichtet ist. Wenn man dies darauf zurückführen will, dass in dieser Gesellschaft nicht nach moralischen Prinzipien gehandelt wird, so beschäftigt man sich gerade nicht damit, inwiefern der Kapitalismus für dieses Elend verantwortlich ist, sondern hat bereits entschieden, dass dies nur auf ein moralisches Defizit zurückgeführt werden könne. Was auch immer an den herrschenden Verhältnisses Missfallen erregen würde, würde dann von vornherein als Resultat unmoralischen Verhaltens gelten.

Damit kann man es sich natürlich recht einfach machen. Kapitalisten zahlen geringe Löhne und entlassen Arbeiter für ihren Profit? Die sind dann natürlich „gierig“ und deswegen unmoralisch, während sie dies gerade als ihre Verantwortung für den Erhalt ihres Unternehmens und der von diesem eingerichteten Arbeitsplätze darstellen. Eine moralisch motivierte Kapitalismuskritik ist ohne jede Befassung mit der Sache immer schon mit dieser fertig, weil sie ja nur darauf aus ist, moralische Verfehlungen zu entdecken, die sich aber umgekehrt genauso gut als moralisch gerechtfertigt darstellen lassen, wie im eben erwähnten Beispiel eines auf die Verantwortung für seine Konkurrenzfähigkeit pochenden Unternehmens. Marx weist in seiner Kritik des Kapitals nach, dass diese „Verantwortung“, die ein kapitalistischer Betrieb für sich in Anspruch nimmt, tatsächlich den kapitalistischen Verhältnissen entspricht, in denen sich die Bürger zu bewähren haben. Mit einer moralischen Verdammung von Massenentlassungen kommt man daher nicht weit, weil man sich dadurch nur weigert einzusehen, dass diese tatsächlich eine kapitalistische Notwendigkeit darstellen und keineswegs einer unmoralischen Haltung entspringen.

Wie eine moralische Kritik des Kapitalismus aussieht, zeigen die sogenannten neuen Rechten in ihrer Aneignung von Marx, die Norbert Wohlfahrt in dem Buch „Revolution von rechts?“ kritisiert hat. Diese sehen in der Kritik des Profits eine Kritik des Materialismus und treten daher ganz wie die Nazis für die Einschränkung des Kapitals auf seine nationale Nützlichkeit ein, weswegen dessen globale Herrschaft einzudämmen sei. So wie schon die Nazis das internationale Finanzkapital als raffendes Kapital verdammt haben, wollen auch die neuen Rechten dieses auf seine nationale Nützlichkeit verpflichten und ihm dadurch sein raffgieriges Wesen nehmen, nur dass sie im Unterschied zu den Nazis dabei Marx nicht als Gegner sehen, sondern sich auf diesen berufen zu können glauben. Materialismus gilt ihnen als Eigennutz, der die Gesellschaft spalten würde, diesem Eigennutz seien daher diensteifrige und opferbereite Bürger entgegenzusetzen, die im Dienst an der nationalen Gemeinschaft ihre Erfüllung finden. Wer aber einmal den Eigennutz als Wurzel des Bösen ausgemacht haben will, wird immer wieder einen Schuldigen finden, wenn sich Konflikte ergeben, das wissen wir dank Hegels Kant-Kritik. Da keiner Handlung anzusehen ist, dass sie auf Pflichtbewusstsein beruht, da sie nur zufällig der Pflicht gemäß, in Wirklichkeit aber eigennützig sein kann, wird hier jeder fündig, wenn er nur will, und weist diesen Eigennutz nach, der sich nur heuchlerisch als Dienst darstellen würde. Diese moralische Unduldsamkeit und Unversöhnlichkeit hat auch Adorno an Kant geschätzt und ihn deswegen Hegel vorgezogen, schließlich ist der haltlose Anspruch der Uneigennützigkeit nie zufriedenzustellen und lässt sich daher nicht besänftigen. So kann man sich dessen gewiss sein, dass das Werk der „Kritik“ nie zu einem Ende kommt, und es besteht auch keine Gefahr, dass die Bedeutung des Kritikers geschmälert werden könnte, die Adornos Geschäftsprinzip war.

Marx hingegen hat die Konkurrenz um kapitalistischen Reichtum und die Urteile der Bürger kritisiert, die falsch sein müssen, wenn sie diese Gesellschaft gutheißen wollen, und deswegen als notwendig falsches Bewusstsein zu kritisieren sind. Zu diesem falschen Bewusstsein gehören auch die moralischen Urteile, die nicht einsehen wollen, dass die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse das Leid hervorbringen, das sie nicht als deren notwendiges Resultat begreifen, sondern einem moralischen Fehlverhalten zuschreiben wollen.

Jordan Petersons Kritik des Manifests der kommunistischen Partei

Vortrag auf Youtube[1]

Wien, 17. 4. 2023

Peterson schlägt vor, ohnehin von allen Ideen anzunehmen, dass sie falsch seien und daher zu überprüfen, ob sie nicht falsch sein könnten. Marx hingegen würde Ideen von vornherein für richtig halten, sofern sie einen neuen Blickwinkel aufzeigen. Hier eine Auseinandersetzung mit einigen Denkfehlern, die Petersons Auseinandersetzung aufweist, ohne auf alle Dummheiten einzugehen, die er in diesem Vortrag präsentiert.

1. Peterson untersucht die These, dass die Geschichte von Klassenkämpfen beherrscht sei: „History is to be viewed primarily as an economic class struggle.“ (Minute 4,14) Übersetzung: Geschichte muss im Wesentlichen als ökonomischer Klassenkampf verstanden werden.

Das gilt ihm natürlich als eingeschränkt, weil Menschen auch andere als ökonomische Motive hätten. Die Frage, was die aber zählen und welche Rolle sie spielen, deren Beantwortung zum Ausschluss solcher Motive als irrelevant geführt hat, stellt Peterson sich nicht. Ihm genügt es hier festzustellen: Wenn Marx die ökonomischen Verhältnisse hervorhebt, dann schließt er ja etwas aus und macht sich dadurch der Ignoranz schuldig. So gebe es statt ökonomischen Wettbewerbs auch ökonomische Zusammenarbeit, als hätte Marx das je bestritten und nicht vielmehr sein Interesse darin bestanden zu klären, wer da zu welchem Zweck zusammenarbeitet. Petersons Einwand ist ungefähr so sinnvoll, als würde er behaupten, dass sich im Krieg die Menschen nicht nur töten, weil ja die verbündeten Soldaten zusammenarbeiten und nur die Feinde getötet werden.

Während Peterson sich mit der Bestimmung menschlicher Verhältnisse als Kampf aber bestens anfreunden kann, ist ihm diese nicht pessimistisch genug, sie geht ihm in ihrer Einschränkung auf die Ökonomie nicht weit genug. Geschichte sei nämlich hierarchischer Kampf, dieser Kampf sei jedoch nicht auf die menschliche Geschichte beschränkt, sondern es sei die Biologie selbst (5,16), die sich hierin manifestiere. Für Peterson ist das Leben ein Kampf, genauso wie für Hitler, und wenn Marx diesen auf die Ökonomie einschränkt und durch deren Umgestaltung abzustellen hofft, so vergehe er sich damit nur gegen das menschliche Leben. Alle Organismen würden sich in hierarchischen Strukturen mit hierarchischem Wettbewerb organisieren, deren Führung sich in einer „winner take all situation“ (5,26) einrichten würde. Die kapitalistische Aneignung des Reichtums würde also jeder hierarchischen Ordnung entsprechen, jede Ordnung sei aber nur als Hierarchie zu haben und daher sei dieses Resultat unvermeidbar, wenn nicht allseitiger Krieg und Chaos herrschen sollen. Aber auch diese hierarchische Ordnung kann den Kampf nicht dauerhaft bannen, sie gilt für Peterson vielmehr als „eternal form of motivation for struggle“ (5,55), ewige Form des Anlasses zum Kampf. Diese Form sei keine menschliche Konstruktion, sondern finde sich auch im Tierreich. Für Peterson sind Menschen also auch nicht anders als Tiere und daher könne man sich von diesen auch nichts anderes erwarten als von Tieren. Aus demselben Grund gebe es diesen hierarchischen Kampf ja nicht nur im Kapitalismus, sondern auch in der ganzen menschlichen Geschichte. Dass Marx diese deswegen als Vorgeschichte der Menschheit galt, ist Peterson wahrscheinlich nicht bekannt.

2. Marx sehe nicht den Kampf der Menschen mit der Natur, den „struggle for life in a cruel and harsh natural world“. (7,57)

Nicht nur mit dem Klassenkampf und dem hierarchischen Kampf seien Menschen aber beschäftigt, sondern auch mit dem Kampf mit sich selbst, mit ihren inneren Dämonen. Darüber hinaus würden die Menschen auch mit der Natur im Kampf liegen, sie müssten in einer grausamen und brutalen Natur um ihr Leben kämpfen. Man fragt sich geradezu, ob der Kampf der Menschen gegeneinander im Krieg eine Folge dieses Kampfes mit der Natur ist oder auch unterbleiben könnte, weil ohnehin schon die Natur als Feind zur Verfügung stünde. Von Naturzerstörung, die sich rächt, scheint Peterson auch noch nie gehört zu haben, denn deren Folgen gelten ihm vermutlich als Naturkatastrophen. Menschen würden einsam und hungrig auf die Welt kommen und hätten deswegen immer um ihr Leben zu kämpfen. Von mütterlicher Zuwendung und Sorge der Familie für ihre Nachkommen scheint Peterson demnach noch nie etwas gehört zu haben. Die Hierarchien der Menschen seien nun zur Lösung dieses Problems geschaffen worden und diesen ihren positiven Beitrag würde Marx auch ignorieren, wenn er sie zur Ursache der menschlichen Konflikte erkläre. Es ist die alte Leier, dass doch gearbeitet werden müsse, damit die Menschen ihr Leben erhalten und gestalten können, die sich zu der Behauptung versteigt, dass der Kapitalismus zwar vielleicht nur wenigen Menschen Reichtum verschaffe, es ohne ihn jedoch gar keinen gäbe. Obwohl ewige Form der Veranlassung zum Kampf um die Verteilung des Reichtums, seien hierarchische Strukturen also unerlässlich zur Lösung komplexer sozialer Probleme: Wir müssen uns auf irgendeine Weise organisieren („we have to organize ourselves in some manner“; 8,46).

Peterson macht damit genau den Fehler, den Marx an Hegels Rechtsphilosophie kritisiert hat: Weil ja auch eine hierarchische Ordnung eine Ordnung ist, so hat sie auch etwas Vernünftiges aufzuweisen und ist daher als vernünftig hinzunehmen. Statt der Logik der Sache sich anzunehmen, erklärt er diese zu einer Sache der Logik und damit der Vernunft, weil sie ja auch logische Bestimmungen enthält. Irgendeine Ordnung braucht es schließlich, also ist auch jede recht. Mit diesem Standpunkt hätte aber auch die sozialistische Herrschaft für sich werben können. Diese macht es sich aber nicht so leicht, den Gegensatz von Arm und Reich zur unvermeidbaren Konsequenz jeder hierarchischen Ordnung zu erklären, gegen den man daher auch nichts einwenden dürfe, wenn man eine funktionierende Ordnung und nicht Chaos haben wolle. Petersons Argument lässt sich also so zusammenfassen, dass es für eine gesellschaftliche Ordnung einer Hierarchie bedarf, auch wenn damit der Gegensatz von Arm und Reich verbunden ist, der daher zu akzeptieren sei. Bei aller Ordnung würde diese nämlich nichts daran ändern, dass das Leben nun einmal von Kampf bestimmt sei, eben auch vom Kampf Arm gegen Reich. Deswegen würden Hierarchien Menschen enteignen und dennoch zugleich eine effiziente Art der Verteilung von Ressourcen sein: „Hierarchies dispossess people (8,51) … that’s the fundamental problem of inequality, but it’s also the case that hierarchies happen to be a very efficient way of distributing resources.“ (8,58)[2] Enteignung von Menschen ist eine gute Verteilung von Ressourcen – so einen Widerspruch muss man auch einmal hinkriegen, ohne sich daran zu stoßen.

Peterson dreht sich im Kreis, er konstruiert einen double bind. So ist mit dem Leben ein Kampf verbunden, was sich auch in der hierarchischen Struktur der Ordnung widerspiegelt, welche die Menschen zugleich zur Bewältigung dieses Kampfes einrichten. Die gesellschaftliche Ordnung gilt also gleichzeitig als Widerspiegelung und Einhegung der von Konflikt und Kampf bestimmten menschlichen Natur. Die widersprüchliche Natur der Menschen führt zu einer hierarchischen Ordnung, in der sich der Lebenskampf im Kampf von Arm gegen Reich fortsetzen würde. Je nach Bedarf können Gewalt und Leid dann als Folge dieser Natur oder als Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung dargestellt werden. Was auch immer an Ärgernissen in dieser Gesellschaft auftritt, ergibt sich aus der Unvermeidbarkeit des Lebenskampfes in der hierarchischen Struktur gesellschaftlicher Ordnung. Von jeder Gesellschaft sei daher auch nichts anderen als ein Lebenskampf um die Stellung in ihrer hierarchischen Ordnung zu erwarten, diese Stellung wäre wiederum abhängig von der Fähigkeit zur Durchsetzung in diesem Kampf. Peterson erklärt den Menschen, dass sie vom Leben nichts anderes als die Konkurrenzkämpfe erwarten dürfen, in denen sie sich täglich zu bewähren haben. Dass in menschlichen Gesellschaften ein Kampf herrscht, gefällt ihm daher an der Auffassung der Geschichte als Klassenkampf, die Einschränkung dieses Kampfes auf die Existenz von Klassen, deren verschwinden auch diesen Kampf beenden würde, missfällt ihm dagegen.

Dem Dilemma einer hierarchischen Ordnung würden auch kommunistische Gesellschaften nicht entkommen, der Unterschied zur kapitalistischen Gesellschaft bestehe allerdings darin, dass Letztere nicht nur eine Hierarchie, sondern auch Reichtum produzieren würde: „… the one thing you can say about capitalism is that although it produces inequality … it also produces wealth.“[3] (26,41) In Petersons Sicht ist es gerade der Versuch, den Lebenskampf als Klassenkampf zu bestimmen und mit den Klassen eliminieren zu wollen, der zwar nicht eine hierarchische Ordnung vermeide, aber die Reichtumsproduktion einschränke. Und damit ist die Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Erscheinungsformen fertig. Wer sich an ihr stößt, ist nur nicht bereit, den Lebenskampf zu führen, wer die Verteilung des Reichtums beklagt, der soll den Kampf darum aufnehmen, denn wenn er diesen abstellen will, so wird es schließlich gar keinen Reichtum mehr geben. Damit kann man jede gesellschaftliche Herrschaft legitimieren, viel besser jedenfalls als ein realsozialistischer Staat, der den Anspruch erhebt, für Frieden und Wohlstand zu sorgen. Damit würde er ja nur Langeweile bei den Menschen erzeugen, die dann auch gleich selbstzerstörerisches Verhalten zeigen würden, um mehr Aufregung in ihrem Leben zu haben. (23, 02) Diese bietet ihnen aber der Kapitalismus mit seinen Existenznöten und Konkurrenzkämpfen doch viel besser, weswegen sie mit ihm zufrieden sein können.

Petersons Legitimationsideologie läuft darauf hinaus, dass die Menschen darüber aufgeklärt werden müssen, wie gut sie es mit dem Kapitalismus bei all seinen Mängeln doch getroffen hätten, die letztlich ohnehin nur die Mängel der menschlichen Natur wären. Damit lässt sich natürlich wunderbar Staat machen, wenn auch nicht unbedingt ein sozialistischer, der den Anspruch erhebt, die „aufregende“ Existenznot einer proletarischen Existenz zu beseitigen, nicht mehr und nicht weniger. Wer danach immer noch ein selbstzerstörerisches Verhalten praktizieren will, damit sein Leben aufregend und spannend ist, kann dies immerhin nun selbst bestimmen und ist dazu nicht durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse genötigt.


[1] https://www.youtube.com/watch?v=j_MXSE3wUT4, aufgerufen am 14, 4, 2023

[2] Übersetzung: Hierarchien enteignen Menschen … das ist das grundlegende Problem der Ungleichheit, aber es ist auch der Fall, dass Hierarchien sich als eine sehr effiziente Art der Verteilung von Ressourcen erweisen.

[3] Übersetzung: … die eine Sache, die man über Kapitalismus sagen kann, ist, dass, obwohl er Ungleichheit erzeugt, produziert er auch Reichtum.

Sarah Bosetti über Precht/Welzer: Die vierte Gewalt

Auszug aus dem 4. Kapitel meines Buches Das narzisstische bürgerliche Subjekt

 

Besondere Verdienste in der auf das eben erwähnte Buch folgenden Schelte hat eine Dame auf Youtube vorzuweisen, die unter dem Titel „Bosetti will reden“ auftritt. Sie weist gleich zu Beginn ihres Beitrags darauf hin, dass sie nun „hauptsächlich über das Ego von Herrn Precht sprechen“ will, um kurz darauf zu ergänzen, dass es um die Diskussion bei Markus Lanz geht, die dort mit „den beiden Medienfiguren, die behaupten, die Medien von außen zu betrachten“ und „mit den beiden Herren mit der Arroganz im Blick und der gekränkten Eitelkeit auf der Zunge“[1] stattfand. Den „Medienfiguren“ sollen nämlich kein Blick von außen auf die Medien möglich sein, sodass gemäß dieser Logik wohl auch niemand sein Haus von außen betrachten könnte. Hier soll als Zeichen von Befangenheit gelten, was üblicherweise als Nachweis dafür verlangt wird, dass sich die Autoren mit dem Gegenstand auskennen, mit dem sie sich befassen. Bosetti aber muss den beiden Autoren unbedingt am Zeug flicken, daher fällt ihr auch nicht die Beliebigkeit des Verfahrens auf, je nach Bedarf die Vertrautheit mit einer Sache als Befangenheit oder als Kompetenznachweis zu nehmen. Ebenso wenig fällt ihr auf, dass sie mit ihrer Verurteilung der beiden Autoren als arrogant und in ihrer Eitelkeit gekränkt deren Vorwurf an die Medien bestätigt, die argumentative Widerlegung eines missbilligten Standpunkts durch einen „Hang zur Diffamierung Andersdenkender“[2] zu ersetzen, obwohl sie diese Formulierung kurz danach als Beispiel für ein „fröhliches Skandalbegriff-Bingo“ erwähnt. Und weil sie das Diffamieren nun bereits so gut beherrscht, wirft sie dem Buch auch reißerische Thesen vor, die nur auf die Etablierung eines Bestsellers aus und daher dem schnöden Mammon geschuldet seien. Dabei können wir noch von Glück reden, dass dieses Vorhaben gelungen ist, da wir sonst gar nicht Bosettis weiser Worte teilhaftig geworden wären, denn diese will sich nicht des Verfahrens schuldig machen, dummen Leuten eine Plattform zu bieten und dadurch deren Publikationen zum Erfolg zu verhelfen. Nur weil es in diesem Fall „eh egal“ ist, weil der Erfolg schon eingetreten ist, lässt sich diese Geistesgröße zur Auseinandersetzung mit dem Werk von Precht und Welzer herab und uns daran teilhaben.

Da es den beiden Autoren nur darum gegangen sei, mit einem Bestseller abzusahnen, sei ihr Buch auch schlecht, teilt uns Bosetti des Weiteren mit. So hätten sie es unterlassen, uns mit empirischen Zahlen zu ihren Behauptungen über die deutsche Medienlandschaft zu langweilen, und bieten daher keine „Datengrundlage, die über das persönliche Empfinden der Autoren hinausgeht“ und sich demnach wohl mit Bosettis persönlichem Empfinden viel besser vereinbaren ließe. Da sie mit dieser Datengrundlage anscheinend von Natur aus bestens vertraut ist, weiß Bosetti auch, dass es sich um ein „nur mittelgut recherchiertes Buch“ handle. So aber leide das Buch am Mangel einer „Faktenbasis“ und habe nicht den „Kern der Sache“ herausgearbeitet, mit dem Bosetti offensichtlich auch bestens vertraut ist, da sie sonst nicht feststellen könnte, dass es diesen nicht gäbe, obwohl dieser doch wohl in den angeprangerten reißerischen Thesen besteht. Aber das ist es ja eben, die sind deswegen nicht einmal „halbwegs vertretbar“ und so gipfelt Bosettis Schmährede in dem endgültigen Urteilsspruch: „Über eine Sache, die dir wichtig ist, schreibst du kein schlechtes Buch.“ Wenn es nur um den Verkauf von Büchern gehe, sei das hingegen nicht unbedingt ein Nachteil. Sachlich reduziert sich ihr Einwand somit darauf, dass sie gerne mehr Fakten gehabt hätte, vermutlich deswegen, weil Precht und Welzer dann viel länger an ihrem Buch gearbeitet hätten. Vielleicht würde sie ja fordern, dass diese ein Jahr lang ihre Recherche auch auf jedes noch so kleine Käseblatt in Deutschland erweitern müssten, um glaubwürdig zu erscheinen. Dann hätten sie auch nicht die einige Front gegen Russland und die damit verbundene Feindbildpflege gestört, der sich die dominanten Medien widmen und der sich das Buch widersetzt. Weil ihnen das Thema wichtig ist, haben Precht und Welzer vielleicht auf eine schnelle Veröffentlichung Wert gelegt und daher auf eine exakte quantitative Analyse ihrer Einschätzung der öffentlichen Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg verzichtet, was ihnen ohnehin nur jene anlasten, die ihre Kritik für ungehörig halten, mit oder ohne eine quantifizierte empirische Basis. Und selbst wenn es stimmen sollte, dass ein paar Medien in ihrer Verurteilung Russlands zurückhaltender sind und nicht so vehement mehr und schwerere Waffen für die Ukraine fordern, so ist es wohl kein Zufall, dass diese eine kaum wahrgenommene Minderheit darstellen. Von Kritik der Waffenlieferungen oder der Ukraine ist hier ohnehin kaum etwas zu sehen und wer sich nicht in die Verurteilung Russlands fügt, hat mit beruflichen Konsequenzen zu rechnen, wie die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl zu berichten wüsste, wenn diese denn jemand fragen würde, nachdem sie zur Unperson erklärt worden ist. Da kann von Glück reden, wer in seiner ökonomischen Existenz nicht von den öffentlich verbreiteten Urteilen über seine Person abhängig ist und daher nicht geschädigt werden kann.


[1] Sarah Bosetti: Bosetti will reden: Precht, Welzer und die Meinungsmache der Medien (ZDF-Satire), https://www.youtube.com/watch?v=Sfz7y7vXb4k&ab_channel=ZDFSatire, aufgerufen am 16. 2. 2023

[2] Richard David Precht/Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, Kindle E-Book, München 2022, S. 11