Leben und Tod
In dem Märchen Die Bremer Stadtmusikanten der Gebrüder Grimm lädt der Esel den Hahn ein, ihn und seine Gefährten nach Bremen zu begleiten, weil diesem der Tod im Kochtopf droht. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“,[1] lauten die Worte des Esels, die den Hahn ermuntern sollen, sich ihnen anzuschließen. Das scheint nicht immer zuzutreffen, wenn man bedenkt, dass Don Quijote auf die Prügel, die er und Sancho Pansa bezogen hatten, diesen mit den Worten tröstete: Es gibt „keinen Schmerz, den der Tod nicht heilte“.[2] Es gibt also offensichtlich Formen des Leidens, denen der Tod vorzuziehen ist, weil dieser wenigstens auch das Verschwinden dieser Leiden zur Folge hat.
Für Schopenhauer ist ohnehin Leben mit Leiden identisch. Die Menschen seien nämlich wie die übrige Natur von einem blinden Willen beherrscht, der permanent neue Wünsche in ihnen hervorbringe, die sie jedoch niemals dauerhaft befriedigen würden. Sie würden daher andauernd vom Streben nach Lust beherrscht, leiden unter deren Abwesenheit, können ihre Lust aber höchstens für kurze Zeit befriedigen. So streben die Menschen nach Sicherheit, um die Gefahr des Todes zu bannen, leiden jedoch schnell an Langeweile, wenn sich diese Sicherheit einstellt. Es erweist sich daher laut Schopenhauer das Leiden als grundlegendes Merkmal menschlicher Existenz, dem sich entnehmen lasse, dass diese Existenz eigentlich nicht wünschenswert ist: „Wenn man, so weit es annäherungsweise möglich ist, die Summe von Noth, Schmerz und Leiden jeder Art sich vorstellt, welche die Sonne in ihrem Laufe bescheint, so wird man einräumen, daß es viel besser wäre, wenn sie auf der Erde so wenig, wie auf dem Monde, hätte das Phänomen des Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf jener die Oberfläche sich noch im krystallinischen Zustande befände.“[3] An anderer Stelle sagt Schopenhauer nicht weniger deutlich: „Wenn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch das bloße Daseyn desselben hinreichend, eine Wahrheit zu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken läßt, nämlich, daß wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben: – daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; – daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte; u. s. f.“[4]
Allerdings ist es nach Schopenhauer auch eine glückliche Fügung, ja eine Wohltätigkeit, dass mit zunehmendem Alter die Kräfte schwinden und der Tod daher nicht als Bedrohung, sondern als Erlösung erscheint: „Das Schwinden aller Kräfte im zunehmenden Alter, und immer mehr und mehr, ist allerdings sehr traurig: doch ist es nothwendig, ja wohlthätig: weil sonst der Tod zu schwer werden würde, dem es vorarbeitet.“[5] Er zieht daraus sogar den Schluss, dass dem Tod schließlich nicht mehr viel zu zerstören bleibe und ein letzter Schlummer genüge, damit der Tod eintritt.[6] Damit kommt er der Einsicht von Epikur nahe, dass das Verhältnis der Menschen zum Tod eigentlich kein großes Problem darstellt: „So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.“[7] Für Schopenhauer gibt es daher vom Standpunkt der Erkenntnis „keinen Grund, den Tod zu fürchten: im Erkennen aber besteht das Bewußtseyn; daher für dieses der Tod kein Uebel ist“.[8]
Was allerdings mit jedem Menschen verschwindet, das ist die Welt, die er in seinem Herzen trägt, die Welt seiner Vorstellungen, von der Schopenhauer bereits festgestellt hat, dass sie die einzige Welt ist, von der wir wissen, denn jenseits unserer Vorstellungen gibt es für uns keine Welt und mit uns und unseren Vorstellungen verschwindet diese. Auch Erwin Schrödinger teilte laut Rudolf Taschner die Auffassung der Einmaligkeit jedes Menschen und seiner Vorstellungen, weswegen „die Welt, die das Ich erfährt, auf dieses eine ‚ich‘ sagende Bewusstsein zugeschnitten ist“. Das, so meint Taschner weiter, sei der Grund dafür, dass der Tod eines Menschen erschüttere, während umgekehrt die Geburt eines Menschen Anlass zur Freude sei: „Weil wir wissen, dass eine neue Welt entsteht.“[9] Aus diesem Grund opfert sich in Ewald Christian von Kleists Gedicht „Die Freundschaft“ Selin für seinen Freund Leander, als er bemerkt, dass das rettende Brett sie nicht beide trägt, auf das sie im Meer nach einem Schiffbruch stoßen. Sein Verlust wäre größer für die Welt, nämlich für seine Welt, da es für ihn eine Qual wäre, wenn er ohne den Freund weiterleben müsste. Dass er damit dem genauso empfindenden Freund zuvorkommt, die Vorsehung jedoch für die Rettung beider Schiffbrüchiger sorgt, ist der allein der Dichtung vorbehaltene versöhnliche Schluss, wie Taschner berichtet.
Es ist also weniger der eigene Tod, der unser Dasein belastet, als der Tod der anderen. Niemand hat das deutlicher und daher schöner zum Ausdruck gebracht als Mascha Kaléko in ihrem Gedicht Memento:
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.[10]
Vielleicht betrübt an der Vorstellung des eigenen Todes ja weniger das Ende des eigenen Daseins als der Umstand, dass man den Seinen nicht mehr beistehen kann, dass man um den Verlust weiß, den man diesen mit dem eigenen Ableben bereitet? Hier mag jedoch die nüchterne Betrachtung eines George Bernard Shaw hilfreich sein, der trocken festhält: „Do away with death and you do away with the need for birth: in fact if you went on breeding, you would finally have to kill old people to make room for young ones.“[11] Eine ähnliche Aussage findet sich bei jemandem, von dem man das vielleicht weniger erwartet hätte, nämlich bei Peter Rosegger: „Unsere Vorfahren haben uns Platz gemacht, haben das, was sie auf Erden errungen, uns zum Erbe hinterlassen. Dasselbe leisten wir den Nachkommen, welche in junger Liebe heute wohl weinen werden um uns, die sie – lebten wir auch nur um fünfzig Jahre länger – von der Erde vertilgen müßten.“[12] Halten wir es daher mit Epikur und nützen wir das Leben, das wir nur einmal leben, solange und so gut wir es können. Tragen wir unseren Vers zum Leben und zum Spiel der Mächte bei, wie Walter Whitman vorgeschlagen hat. Alles hat seine Zeit, auch das Leben und der Tod.
[1] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Wien, o. J., S. 40 f.
[2] Miguel de Cervantes: Don Quijote, Würzburg 2006, S. 54
[3] Arthur Schopenhauer: Das Gesamtwerk. In chronologischer Reihenfolge, herausgegeben von Berthold Schwamm, Kindle E-Book, ohne Ort und Jahresangabe, Positionen 45955–45958 (Parerga und Paralipomena, Bd. 2, § 157)
[4] Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürcher Ausgabe, Bd. 2/2, Zürich 1977, S. 674 f.
[5] Arthur Schopenhauer: Das Gesamtwerk. In chronologischer Reihenfolge, a. a. O., Positionen 40304 f. (Parerga und Paralipomena, Bd. 1, Kapitel VI, Vom Unterschiede der Lebensalter)
[6] Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2/2, a. a. O., S. 550; Volker Spierling: Kleines Schopenhauer-Lexikon, Ditzingen 2010, S. 219
[7] https://www.uni-hildesheim.de/~stegmann/epikur.htm, aufgerufen am 27. 4. 2019
[8] Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2/2, a. a. O., S. 548
[9] Rudolf Taschner: Gerechtigkeit siegt – aber nur im Film, Kindle E-Book, Salzburg 2011, S. 182 f.
[10] Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 9
[11] George Bernard Shaw: A Treatise on Parents and Children, in: The Collected Works of Bernard Shaw: The Complete Works, PergamonMedia, Kindle E-Book, ohne Ort und Jahr, Positionen 350–352; Übersetzung: Man entferne den Tod und man entfernt den Bedarf nach Geburt: Tatsächlich müsste man, wenn man mit der Fortpflanzung fortsetzte, schließlich alte Menschen töten, um Raum für junge zu schaffen.
[12] Peter Rosegger: Der Gottsucher, in: Gesammelte Werke, Kindle E-Book, e-artnow 2015, Positionen 11153–11156
Schreibe einen Kommentar