Die Demokratie ist in Gefahr!

So lautet die Klage angesichts einer angeblich wachsenden Anzahl von Menschen, die eine stabile Ordnung durch die starke Hand eines Diktators dem „Chaos“ vorziehen würden, das sie in einer freien und demokratischen Gesellschaft am Werk sehen. Damit steht auch schon fest, dass eine Kritik der Demokratie nur gegen deren Urheber sprechen kann. Diese seien nicht in der Lage, Verantwortung für ihr Dasein zu übernehmen, weder als wirtschaftliche noch als politische Subjekte. Und da es einen beklagenswerten Zustand darstellen soll, wenn die Demokratie in Gefahr sei, ist wohl auch kaum eine andere Schlussfolgerung möglich als jene, dass diese Gefahr nur ein Zeichen mangelnder demokratischer Reife sein könne. Da die Demokratie als ein bedingungslos hohes Gut gilt, dessen Kritik sich von vornherein verbietet, spricht deren Kritik nur gegen ihre Kritiker. Dennoch drängt sich hier die Frage auf, wie es sein kann, dass eine als derart vernünftig geltende Einrichtung wie die Demokratie so viel Feindseligkeit hervorruft. Dies einfach mit mangelnder demokratischer Reife abzutun, macht es sich hier wohl doch zu einfach.

Wäre die Demokratie jener zwanglose Zusammenhang, für den sie sich hält und als welchen sie sich darstellt, so ließe sich nicht erklären, wie es in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt zu Unstimmigkeiten, unüberbrückbaren Konflikten und Feindschaften, ja zu Hasstiraden und Feindbildern kommen könne. Umgekehrt lässt sich aus diesen Phänomenen darauf schließen, dass die Vorstellung nicht haltbar ist, wonach es sich bei der Demokratie um eine selbstbestimmte freie Gesellschaft und nicht um eine Form von Herrschaft handle. Dennoch denkt jeder bei der Warnung vor einer Gefahr für die Demokratie sofort an die Abschaffung von Selbstbestimmung und Freiheit, als deren Hort ja die bürgerliche Gesellschaft insgesamt gilt. Diese versteht sich als Zusammenhang, in welchem die Bürger allein gemäß ihren Interessen und daher ohne äußeren Zwang miteinander verkehren. Wozu es dann aber der Ermächtigung einer politischen Herrschaft bedürfte, müsste man sich nun fragen. Um dieser Frage zu entgehen, lohnt es sich zu bestreiten, dass es sich bei der Demokratie im Wesentlichen um nichts weiter als eine spezifische Form staatlicher Herrschaft handelt. Dann denken eben alle bei der Warnung, dass die Demokratie in Gefahr sei, an die drohende Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, nicht aber an eine Herrschaft, deren Nutznießer um ihren Nutzen bangen, den keineswegs alle Bürgern daraus ziehen, die zum Großteil als dessen Mittel zu agieren genötigt sind.

Würde eine sozialistisch orientierte Staatsmacht davor warnen, dass der Sozialismus in Gefahr sei, so bestünde die Reaktion keineswegs in der Anteilnahme an dieser Sorge, sondern es würde sich Genugtuung breitmachen, dass endlich eintreffe, was schon längst fällig sei. Genauso ist es ja geschehen, als die realsozialistischen Staaten ihre Staatsräson aufgaben, weil der Kapitalismus darin überlegen schien, sich als Herrschaft in einer Welt voller konkurrierender Staaten zu behaupten. Dass hier auch jede Menge von außen geschürte Unzufriedenheit und Verblendung der ehemaligen Volksgenossen wirkte, die alles für Propagandalügen hielten, was ihnen über den Kapitalismus erklärt worden war, sei hier nur am Rande erwähnt. Für die hier von mir vorgetragenen Erläuterungen genügt es festzuhalten, dass bei „Sozialismus in Gefahr“ hierzulande jeder sofort denkt: „Na, was denn sonst und na endlich und Gott sei Dank“, während bei dem Ruf „Demokratie in Gefahr“ jeder sofort erbleicht und sich von der maßlosen Herrschaft einer Diktatur bedroht sieht. Damit ergibt sich allerdings die Frage, wie und wodurch denn die Demokratie in Gefahr geraten könne, wenn sich doch alle für sie begeistern und angesichts ihrer Gefährdung sofort für ihre Rettung einsetzen. Wie soll diese Gefahr also möglich sein, wenn doch die Demokratie für alle nur Vorteile bringe?

Ist man der Auffassung, dass die Demokratie allen Menschen nützlich sei, so kann man sich die Abwendung von ihr nur so erklären, dass die Menschen diesen Nutzen gar nicht mehr erkennen und darüber hinaus die Demokratie für selbstverständlich halten würden. Letzteres sei vor allem deshalb gefährlich, weil dadurch das Bewusstsein verloren gehe, dass die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigt werden müsse. Wer aber sollen diese Feinde sein? Hier fallen dem demokratischen Sachverstand sofort psychische Abgründe ein, die in jedem Menschen schlummern würden. So könne es als mühsam erscheinen, mit Argumenten für die eigenen Auffassungen werben und um Beschlüsse ringen zu müssen, anstatt diese einfach machtvoll durchzusetzen. Viele würden einfach nicht die Geduld für demokratische Entscheidungsprozesse aufbringen, die ihnen daher nur als Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Interessen erscheinen. Oder es seien bestimmte Menschen deswegen mit der Demokratie nicht zufrieden, weil sie ihrer Herrschsucht keinen Raum gebe, während andere sich nur zu gerne einem Führer unterwerfen würden, weil sie sich lieber an Befehle klammern, anstatt selbst Entscheidungen treffen und verantworten zu müssen.

Es gibt aber auch Stimmen, die befürchten, dass demokratische Prozesse den Staat der Unvernunft seiner Bürger ausliefern würden. Anstatt vernünftig zu sparen und den vorhandenen Reichtum für zukünftige Generationen zu bewahren, würden die Bürger diesen verschwenden und über ihre Verhältnisse leben. So ist das eben bei verantwortungslosen Menschen, denen es an der richtigen Härte zur Selbstbehauptung in der Konkurrenz mangelt. Solche Charaktere wollen nicht nur, dass andere für sie entscheiden, was zu tun sei, sondern sie wollen sich auch in der sozialen Hängematte gehen lassen. Und weil die Führer des Staates wieder gewählt werden wollen, würden sie eher die Pleite des Staates riskieren, indem sie die Bürger mit Sozialleistungen verwöhnen, als ihre Bestätigung im Amt zu riskieren. Seltsamerweise wird der Vorwurf, dass die Demokratie die Herrschaft des Staates gefährde, allerdings nicht als Gefahr für die Demokratie beurteilt. Das könnte natürlich daran liegen, dass insgeheim jeder weiß, wie sehr demokratische Ermächtigung und staatliche Herrschaft zusammenhängen. Denn um mehr als die Bestätigung dieser Herrschaft geht es ja in einer demokratischen Wahl nicht. Deswegen ist ja auch keine Partei zur Wahl zugelassen, die nur ein Anliegen durchsetzen will, denn ein solches „imperatives Mandat“ ist in der Verfassung verboten. Jede Partei, die sich um die Führung des Staates bewirbt, muss konsequenterweise ein Herrschaftsprogramm vorweisen, in dem sie präsentiert, welchen Gebrauch sie von den Ämtern machen will, um die sie sich in der Wahl bewirbt. Und dieser Gebrauch ist natürlich durch die staatliche Funktion dieser Ämter bestimmt. Darüber ist auch kein Politiker an irgendeinen Auftrag bzw. ein imperatives Mandat seiner Wähler gebunden, denn das würde als Unterwerfung unter partikulare Interessen und daher als undemokratisch gelten.

Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass die bürgerliche Demokratie nicht jenes Paradies ist, als welches sie gelten will. Die staatlichen Funktionen, für die sich Politiker bewerben, stehen fest und beschränken deren Handlungsspielraum. Was auch immer sich ein Wähler bei seiner Stimmabgabe denkt oder davon erhofft, spielt in Wirklichkeit keine Rolle und daher handeln sich die Politiker den Vorwurf der Lüge und der Heuchelei ein. Die Haus- und Hofberichterstattung in Gestalt der Medien klagt daher über Politikverdrossenheit, weil mangelnde Zustimmung zur bürgerlichen Herrschaft als Gefahr für diese betrachtet wird. Und spätestens hier könnte einem auffallen, dass die Klage um eine Gefahr für die Demokratie nichts anderes als die Sorge um die Aufrechterhaltung bürgerlicher Herrschaft ist. Zu dieser aber passt die Demokratie viel besser als eine Diktatur, weil sie dem Anspruch der Selbstbestimmung entspricht, der sich in der bürgerlichen Konkurrenz als Nötigung zur Selbstbehauptung geltend macht. So wie die Bürger an der Konkurrenz trotz all der Misserfolge, die sie hierin erleiden, als Mittel ihrer Selbstbehauptung festhalten sollen, weil ganz abstrakt oder prinzipiell ihr Erfolg darin möglich wäre, sollen sie in der diese Konkurrenz überwachenden und regulierenden Staatsgewalt ihr Mittel sehen und sich für die demokratische Ermächtigung ihrer Staatsführung begeistern. Richtig begeistert und daher um den Fortbestand dieser Herrschaft besorgt sind natürlich die Nutznießer dieser gesellschaftlichen Verhältnisse, während die Konkurrenzverlierer eher keinen Grund haben, an diesen festzuhalten.

Um für die Herrschaft der Demokratie zu werben, soll sich jeder deren Abwesenheit als tyrannische, diktatorische oder auch autoritäre Herrschaft, somit als totale Unterwerfung seiner Person vorstellen, angesichts deren er mit der Demokratie doch bestens bedient sei, weil diese der Herrschaft Schranken setze. Da trifft es sich auch gut, dass es so etwas wie das Bedürfnis nach Herrschaft an sich nur als Ersatzprogramm für ausbleibenden Konkurrenzerfolg in sadomasochistischen Beziehungen gibt. Üblicherweise dient Herrschaft nämlich bestimmten Zwecken, die im Falle der bürgerlichen Gesellschaft eben für eine große Mehrheit alles andere als bekömmlich sind und daher herrschaftlicher Einrichtungen bedürfen. Die Schädigung anderer Menschen ist zwar in der Regel nicht der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sie wird aber sofort in Kauf genommen, wenn sie für die Maximierung von Profit erforderlich ist oder auch nur scheint. Um diese Schädigungen als vertretbar hinzustellen, ist es natürlich auch hilfreich, sich noch viel schlimmere Leiden vorzustellen, die einen erwarten würden, wenn nicht die Demokratie herrschte, sondern ein Diktator. Weil dieses Mittel aber zunehmend seinen Dienst versagt, was mit dem zunehmenden Elend zusammenhängen könnte, das auf dieses Mittel angewiesene Menschen zu bewältigen haben, wird die Gefahr für die Demokratie von jenen beschworen, die dieses Mittels nicht bedürfen, weil sie zu den Nutznießern bürgerlicher Herrschaft gehören. Diese einfache Wahrheit soll natürlich niemand begreifen, sondern in der Gefahr für die Demokratie einen Schaden für sich sehen, obwohl dieser bereits in der Demokratie vorhanden ist.

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