Was soll die Ukraine denn sonst machen?

Diese Frage stellt sich sofort ein, wenn jemand die Ukraine dafür kritisiert, dass sie es auf einen Krieg ankommen ließ, ehe sie sich den politischen Forderungen der russischen Föderation unterwarf. Letzteres wäre doch nur ein Zurückweichen vor einem Despoten, der sich dadurch überdies ermuntert sehen würde, auch andere Nationen mit der Androhung von Krieg zum Gehorsam zu zwingen. Ganz unabhängig vom Inhalt der Forderungen Russlands gilt es als Herrschaftsstreben, dass es dieser Staat überhaupt wagt, Ansprüche gegenüber anderen Nationen zu erheben. Diese Ignoranz ist auch notwendig, sonst könnte es schon ein wenig irritieren, dass der Ukraine ein Bekenntnis zur Neutralität nicht zumutbar sei, weil sie unbedingt ein Mitglied der NATO sein will. Schließlich hat ein Staat, der nicht neutral sein will, auch nicht unbedingt friedfertige Absichten und will daher zumindest die Fähigkeit zur Kriegsführung hegen und pflegen, welcher die Neutralität Schranken setzen würde. Weil alle Einwände Russlands gegen die Aufrüstung der Ukraine ignoriert und deren Vorbereitungen zur Zurückeroberung annektierter und separatistischer Regionen offenkundig wurden, kam es zum Angriff Russlands, gegen den sich die Ukraine ja bloß verteidigen würde, weshalb sich auch jede Kritik an diesem Staat verbiete.

Als zu Beginn des Kriegs zwischen der Ukraine und der russischen Föderation das Argument vorgebracht wurde, die Ukraine solle besser kapitulieren, als sich auf einen Krieg mit dem militärisch überlegenen Gegner einzulassen, machten sich Hohn und Spott breit. So meinte Carolin Kebekus, die Schrack-Zimmermann des deutschen Kabaretts und daher auch Haus- und Hofkabarettistin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass dieser Vorschlag dazu führen würde, den Ukrainern mitzuteilen: „Sterbt!“ Dass es sich genau umgekehrt verhält, nämlich durch die Kapitulation das massenhafte Sterben verhindert werden soll, können sich solch schlichte Gemüter offensichtlich nicht vorstellen. Für Menschen solcher Geistesverfassung scheint der Zweck eines Krieges in der Vernichtung des Feindes zu bestehen, nicht in der Durchsetzung politischer Zwecke, für welche diese Vernichtung nur ein Mittel darstellt, dessen ein Staat nicht mehr bedarf, sobald er diese politischen Zwecke erreicht hat. Anders gesagt: Jeder Staat hätte nichts dagegen, wenn er seine politischen Ansprüche gegen andere Staaten auch ohne Krieg durchsetzen könnte, er würde dann auf kriegerische Anstrengungen verzichten, weil diese ja gar nicht erforderlich wären, um seine Ziele zu erreichen. Es ist gar nicht das Anliegen von Staaten, möglichst viele Menschen zu töten, auch wenn sie deren Vernichtung ohne jeden Skrupel in Kauf nehmen, sobald ihnen dies zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche erforderlich scheint.

Ein Staat hätte also immer die Möglichkeit, einen Krieg zu vermeiden, zugleich sind es aber auch gerade seine Interessen, die mit kriegerischen Mittel behauptet werden sollen und welchen seine Bürger im Krieg genauso zu dienen haben wie in Friedenszeiten. Keineswegs verhält es sich daher so, dass die Ukraine sich gegen Russland wehrt, um ihre Bürger vor der Vernichtung zu bewahren, sondern es wird gerade umgekehrt deren Leben zur Durchsetzung ihrer politischen Ansprüche eingesetzt, die im Gegensatz zu jenen der russischen Föderation stehen. Russland hätte natürlich ebenso nicht auf der Geltung seiner Ansprüche beharren müssen, aber genauso wie die Ukraine für ihren Erfolg in der nationalen Konkurrenz auf ihre Ziele nicht verzichten will, will dies auch Russland nicht. Allerdings stellt sich hier schon die Frage, inwiefern die Forderung nach Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine einen Beweis für die Aggression Russlands darstellen soll. Zeigt sich darin nicht vielmehr die Wahrnehmung der Ukraine als Bedrohung, die durch solche Maßnahmen beseitigt werden soll? Wer natürlich unbedingt sein Feindbild vom russischen Aggressor pflegen will, sieht darin nur den Versuch, die Ukraine zu schwächen, um sie danach umso leichter unterwerfen zu können. Die russische Föderation soll hingegen den beschwichtigenden Worten vertrauen, wonach die Stationierung von Waffen und Soldaten in der Ukraine nur der Verteidigung dienen solle. Ja, der Verteidigung der gegen Russland gerichteten Vorhaben in der Ukraine.

Die Beschäftigung mit den politischen Absichten, die solche Gegensätze zwischen Staaten bilden, dass sich diese genötigt sehen, mit kriegerischen Mitteln deren Durchsetzung zu erzwingen, ist der Feindbildpflege natürlich nicht förderlich. Dann könnte man nämlich feststellen, dass der hochgeschätzte Frieden kapitalistischer Staaten bereits von kriegsträchtigen Gegensätzen geprägt ist, weswegen diese Staaten ja auch sehr schnell zum Krieg bereit sind, von dem die bürgerliche Öffentlichkeit dann immerzu überrascht ist, weil dies ihren schönen Vorstellungen von Demokratie und Weltordnung widerspricht, an denen sie unbedingt festhalten will.[1] Es muss daher auch sofort ein despotischer Herrscher mit einem autokratischen Staat ausgemacht werden, dem die „demokratischen“ Medien die Schuld am „Ausbruch“ eines Krieges zur Last legen, in diesem Fall stehen eben Putin und der russische Nationalcharakter unter Anklage. Dabei haben die Staaten nicht deswegen sofort ihre Armee einsatzbereit, um kriegerische Handlungen auszuführen, weil ja für den Krieg bereit sein müsse, wer den Frieden wolle. Es ist gerade umgekehrt so, dass die Ansprüche der Staaten, ihresgleichen für ihr kapitalistisches Wachstum zu benutzen, ohne die Fähigkeit zum „Schutz“ dieser Ansprüche nicht einmal erhoben werden können. Weil die Staaten sich in Konkurrenz zueinander für ihr Kapitalwachstum benutzen wollen, gibt es immer wieder Konflikte über die Handlungsbeziehungen, die sich bereits in deren Einrichtung geltend machen und für sehr lange Verhandlungen sorgen. Und auch nach einer Einigung auf allgemein gültige Handelsbedingungen ergibt sich immer wieder ein Bedarf für deren Überwachung oder Korrektur, sodass auch dann immer wieder Konflikte entstehen, zu deren kriegerischer Austragung die beteiligten Staaten jederzeit bereit sind, um ihre Macht zu behaupten oder zu erweitern, was für sie ohnehin aufs Gleiche hinausläuft.

Die von den USA seit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzte Weltordnung übt imperialistische Herrschaft nicht durch Aneignung von Kolonien, sondern durch freien Handel aus. Das hat auch den Vorteil, dass der Aufwand einer militärischen und zivilen Verwaltung der Kolonien entfällt und den neu gebildeten Nationen obliegt. Der Erfolg nationaler Befreiungsbewegungen in der Vertreibung ihrer Kolonialherren rief daher keine Intervention der USA hervor, sofern sich diese nicht kommunistisch betätigten, wie Vietnam, sondern sich in den freien Handel einzufügen und auf diese Weise ihren Erfolg anzustreben suchten. Keineswegs war und ist es somit natürlich für diese Staaten vorgesehen, eine Politik zu betreiben, die sich gegen diese Handelsordnung richtet oder deren Konditionen zu ihren Gunsten zu verändern trachtet. Änderungen der eingerichteten Handelsbeziehungen sind und bleiben das Privileg der USA, die sich dessen immer dann bedienen, wenn sich der nationale Erfolg nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelt. Das ist z. B. dann der Fall, wenn eine nicht zufällig als „Ölstaat“ bezeichnete Nation sich von diesem Status zu emanzipieren bestrebt ist, in welchem die Lieferung von Öl ihre einzige Funktion für den Weltmarkt darstellt. Weil deswegen zur Ausbeutung der Erdölquellen eingesetztes US-Kapital enteignet wurde, war das für die USA nicht hinzunehmen. Nachdem dann auch noch die zum Zeitpunkt dieser Enteignung hohen Ölpreise der Finanzierung eines Entwicklungsprogramms dienen sollten, um Unabhängigkeit von ausländischem Kapital zu erlangen, sahen die USA sich erst recht in ihrer Vormachtstellung herausgefordert und gingen dagegen durch Unterstützung oppositioneller Kräfte in Venezuela sowie durch Handelsboykotte in der bereits gegen Castros Kuba bewährten Art vor.

Solange allgemein kapitalistisches Wachstum in Form einer beschleunigten Kapitalakkumulation herrscht, haben auch untergeordnete Nationen einen Nutzen davon. Diesen bleibt ohnehin keine andere Wahl, als einen Anteil am allgemeinen Kapitalwachstum zu erhalten, denn eine alternative Erwerbsquelle steht ihnen nicht zu und daher auch nicht zur Verfügung. Versuchen sie alternative Wege zu beschreiten, führt das in der Regel zu einem Ordnungsruf der Weltordnungsmächte, dem auch mit begrenzten Militärinterventionen Nachdruck verliehen werden kann. Spätestens nach dem Umschlag der beschleunigten Akkumulation in die Überakkumulation von Kapital ist allerdings kein allgemeines Wachstum mehr möglich, an welchem die sogenannten Entwicklungsländer zwar in geringerem Maße partizipieren als die führenden Nationen, das aber immerhin auch bei ihnen noch stattfindet. Mit dem Beginn der Überakkumulation ist allerdings Kapitalwachstum nur noch durch eine Verdrängung anderer Kapitale möglich, also durch eine Kapitalvernichtung, die vor allem in den untergeordneten Nationen stattfindet. Solche Verdrängungsprozesse einzuleiten war das Ziel des Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, dessen Scheitern im Jahr 2014 für die USA ein solches Ärgernis war, dass diese einen Staatsstreich in der Ukraine förderten, um eine „westlich orientierte“ Regierung einzusetzen. Die seither bestehende Auseinandersetzung zwischen der Ukraine als imperialistischem Vorposten der Westmächte und der russischen Föderation hat den fundamentalen Gegensatz gezeigt, in welchem die beteiligten Staaten es vorziehen, ihre Interessen mit kriegerischen Mitteln zu behaupten, ehe sie auf deren Durchsetzung verzichten. Offensichtlich halten sie es für notwendig, ihren Interessen um jeden Preis Geltung zu verschaffen, um als kapitalistisch erfolgreiche und politisch einflussreiche Macht bestehen zu können. Wenn das nicht gegen die Herrschaft solcher Mächte spricht, dann ist diese wohl durch nichts zu erschüttern!

Man muss übrigens gar nichts über die widersprüchliche Entwicklung der Kapitalakkumulation wissen, um die Ideologie zu entkräften, dass internationaler Handel dem wechselseitigen Vorteil der Handelspartner diene. Wenn sich nämlich ein Entwicklungsland tatsächlich entwickelt und zum kapitalistischen Konkurrenten aufsteigt, wird das von den maßgeblichen Nationen keineswegs als Erfolg verbucht, in dem sich wieder einmal die Unschlagbarkeit des kapitalistischen Systems erweisen würde. So gilt der Aufstieg Chinas keineswegs als erfreulich: „Offensichtlich ist es nicht so, dass sich der Rest der Staatenwelt und mit ihm die Völker unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen.“[2] Im Gegenteil: „Weil in dieser Welt der Marktwirtschaft und Staatenkonkurrenz jeder Erfolg des einen letztlich auf Kosten anderer geht, gibt China als Newcomer auf dem Weltmarkt neben allen Geschäftsmöglichkeiten, die es anderen eröffnet, ganz offensichtlich auch Grund zur Sorge um die eigenen Erfolgsaussichten und damit Anlass zu einer immer auch latent feindseligen Stellung zu ihm.“[3]

Die Frage, was die Ukraine denn sonst machen solle, nachdem sie von Russland angegriffen wurde, zeugt angesichts all der hier vorgebrachten Argumente von nichts als Ignoranz. Wer so denkt, dem ist die Geltung nationaler Interessen eine Selbstverständlichkeit, deren Verteidigung er mit dem Schutz unschuldiger Menschen gleichsetzt, die man ohne Krieg nur einem blutrünstigen Mörder ausliefern und der Vernichtung preisgeben würde.


[1] Vgl. dazu die Ausführungen von Freerk Huisken: FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass, Hamburg 2023

[2] Renate Dillmann: Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, Kindle E-Book, Köln 2025, S. 229

[3] Ebd., S. 229 f.

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