Ayn Rands Formierung eines rationalen bürgerlichen Subjekts

1. Altruistische Moral – Negation des Eigennutzens

Ayn Rand kritisiert den Altruismus als Herrschaft einer zynischen Opfermoral. Er gilt ihr als Nachwirkung einer Stammesmoral, in der kein Mensch in der Lage war, sein Leben selbst zu gestalten, weshalb die Erhaltung der Gemeinschaft wichtiger war als die Lebenserhaltung des Einzelnen. Die bisherige Philosophie hält aber an diesem Altruismus selbst dann noch fest, als keine Stammesgesellschaft mehr existiert, für die er eine Notwendigkeit war. Selbst im Zeitalter der Aufklärung gilt Altruismus als Prinzip einer vernünftigen Moral, wie sich an Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer zeigen lässt.

Für Kant bedarf die Moral der Vernunft als ihrer Basis, denn was die Menschen von Natur aus tun, dient nur ihrem Eigennutz. Eigennütziges Verhalten kann aber anderen Menschen zum Schaden gereichen, deswegen müsse jeder prüfen, ob die von ihm in Erwägung gezogenen Handlungen auch allgemein gültig sein könnten oder ihm schaden würden, wenn er nicht deren Subjekt, sondern ihr Objekt wäre. Da aber eine Handlung einem allgemeinen Gesetz genügen und dennoch eigennützig sein kann, ist das Kriterium ihres moralischen Gehalts, dass sie frei von jeglichem persönlichen Interesse ist. Nicht der geringste Nutzen für die handelnde Person darf einer Handlung beigemischt sein; nur solche Handlungen, zu welchen ein Mensch keinerlei Neigung hat, die er daher wegen ihrer Vernunft vollzieht, haben einen moralischen Wert. Eigennützige Handlungen sind zwar nicht von vornherein amoralisch oder unmoralisch im Sinne von verwerflich, aber sie können keinen moralischen Wert beanspruchen, weil sie auch ohne moralische Gesinnung, allein wegen ihres subjektiven Nutzens stattfinden würden. Solche Handlungen können zwar pflichtgemäß sein, solange sie aber nicht aus Pflicht geschehen, also nicht auf reinem Pflichtbewusstsein beruhen, sind sie zwar nicht tadelnswert, besitzen aber keine moralische Qualität. Die folgende Aussage Kants ist hierzu ganz eindeutig: „Dagegen, sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen innern Wert, und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet, als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht, und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“[1]

Wenn die eben erwähnte Lebenserhaltung oder eine Handlung uns zwar unangenehm ist, wir aber dennoch daran festhalten sollen, weil die Vernunft uns dazu verpflichtet, dann ist es kaum erstaunlich, dass sich auf diese Weise ein unbehagliches, mühseliges Leben voller Leiden und Schmerzen einstellt. Auch das ist Kant nicht verborgen geblieben, er stellt daher fest: „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann (…).“[2] Nur ein Masochist könnte sich mit dieser Wirkung anfreunden, die hier geradezu als ein Merkmal moralisch bestimmten Handelns gilt. Umgekehrt müssten sich immer Zweifel an der moralischen Qualität einer Handlung einstellen, wenn sich diese nicht im Widerspruch zu den persönlichen Neigungen befinden und die entsprechenden Schmerzen daher ausbleiben würden. Neurotische Erkrankungen, die Sigmund Freud dem Widerspruch von Es und Über-Ich zugeschrieben hat, entstehen demnach aus dem Gegensatz von Neigung und Pflicht und dürfen zudem als Indiz für die Erfüllung der moralischen Ansprüche von Selbstlosigkeit und Altruismus gelten.

Schopenhauer setzt nicht wie Kant auf die Vernunft als Quelle der Ethik, sondern auf die Triebfeder des Mitleids, das sich ganz spontan bei allen Menschen angesichts fremden Leids regen kann. Da dies ein Wesenszug ist, der in der menschlichen Natur angelegt ist, auch wenn er zunächst in dieser nur schlummert, besteht hier ein Potential, dessen Erweckung, Förderung und Entwicklung zu moralischem Verhalten führt. Hierbei kann die Vernunft zwar als Mittel dienen und hilfreich sein, würde Moral jedoch allein auf Vernunft beruhen, also nur durch Vernunft bestimmt sein, so wäre sie zu praktischer Unwirksamkeit verdammt. Als Fundament oder Basis der Moral kann hingegen die spontane Triebfeder des Mitleids fungieren, weil diese genauso wie die übrigen menschlichen Triebe und Motive der menschlichen Natur angehört. Somit tritt an die Stelle von Kants Vernunftethik Schopenhauers Mitleidsethik. Kant folgt Schopenhauer jedoch darin, dass der moralische Wert einer Handlung sich im Altruismus zeige und keinerlei Bezug zum Interesse des handelnden Subjekts aufweisen dürfe: „Daher eben die Entdeckung eines eigennützigen Motivs, wenn es das einzige war, den moralischen Wert einer Handlung ganz aufhebt und, wenn es akzessorisch wirkte, ihn schmälert. Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Kriterium einer Handlung von moralischem Wert.“[3] Positiv ausgedrückt ist die Abwesenheit aller egoistischen Motive dann gegeben, wenn der Zwecke einer Handlung ausschließlich altruistischer Natur ist, wie Schopenhauer weiter ausführt: „Dieser Zweck allein drückt einer Handlung oder Unterlassung den Stempel des moralischen Wertes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines andern geschehe oder unterbleibe.“[4]

2. Kritik des Altruismus

Im Unterschied zu Kant gilt für Schopenhauer nicht mehr das eigene Leiden als Indiz dafür, dass eine Handlung moralisch bestimmt ist, sondern das fremde. Mit anderen Menschen Mitleid zu empfinden, deren Leid zu vermeiden oder durch Anteilnahme und Hilfe zu verringern, macht nun den moralischen Wert einer Handlung aus. Ohne Leid kann es in dieser Welt daher keinen moralischen Wert geben, weswegen umgekehrt zufriedene Menschen den Nachteil aufweisen, nicht zur Demonstration der eigenen moralischen Vortrefflichkeit geeignet zu sein. Schopenhauer stellt in diesem Sinne fest: „Die unmittelbare Teilnahme am andern ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht, wenigstens nicht direkt, auch durch sein Wohlsein erregt: sondern dieses an und für sich läßt uns gleichgültig.“ Oft bleibt es allerdings nicht bei einer gleichgültigen Reaktion, sondern es „kann der Anblick des Glücklichen und Genießenden rein als solchen sehr leicht unsern Neid erregen“.[5] Wenn jemand Beistand braucht, dann ist schließlich die Person, die ihm diesen gewährt, sich ihrer Bedeutung bewusst, umgekehrt darf sie sich nicht so wichtig fühlen, wenn dieser Beistand nicht erforderlich oder erwünscht ist. Nietzsche stellt daher in aller Deutlichkeit fest: „Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen haben sie nichts zu tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen deshalb leicht Missvergnügen.“[6]

Aber nicht nur der Demonstration moralischer Gesinnung kann zur Schau gestelltes Mitleid dienen, sondern auch der Demütigung einer des Mitleids bedürftigen Person, wie bereits Nietzsches Aussage einer sich im Mitleid darstellenden „Überlegenheit“ andeutet. So kann vorgetäuschtes Mitleid die Verhöhnung des leidenden Menschen bezwecken; die scheinbar mitleidige Handlung kann also auf den Schaden der von ihr betroffenen Person aus sein, sie erweist sich dann als Boshaftigkeit und Grausamkeit. Laut Schopenhauer gibt es mehrere Möglichkeiten für einen böswilligen Einsatz des Mitleids, „z. B. wenn ich einem wohltue, um einen andern, dem ich nicht wohltue, zu kränken oder ihm sein Leiden noch fühlbarer zu machen; oder auch um einen Dritten, der demselben nicht wohltat, zu beschämen; oder endlich um den, dem ich wohltue, dadurch zu demütigen“.[7]

Mitleid bedarf also zum einen des Leids anderer Menschen, um überhaupt wirksam zu werden, zum anderen beweist es nicht von vornherein ein gütiges oder wohlwollendes Verhalten, sondern kann auch umgekehrt böswilligen Absichten dienen. Soll die Handlung des Mitleids hingegen keinerlei Nutzen für die handelnde Person haben, so wird der Altruismus zur Opfermoral, die den Einsatz des eigenen Lebens zum Wohle anderer Menschen verlangt. Und wenn schon nicht das eigene Leben gefordert ist, um die moralische Qualität einer Person zu bezeugen, so muss diese zumindest im Widerspruch zu ihren Neigungen handeln, wie uns Kant erklärt hat, denn ein Mensch, dessen Handlungen nicht im Kampf mit seiner Natur liegen, folgt nur Letzterer und kann daher keinen Anspruch auf Tugendhaftigkeit erheben.

Gemäß dem Altruismus haben nur negativ bestimmte Handlungen moralischen Wert. Sie müssen die eigenen Interessen und das Leid anderer Menschen negieren, eigenes Leid ist hingegen sogar ein Indiz für die moralische Qualität meiner Handlungen, wenn auch immerhin nicht deren Kriterium. Dafür reicht es nämlich aus, dass Handlungen frei von jeglichem eigenen Interesse sind, weswegen wiederum Schmerzen und somit eigenes Leid laut Kant ziemlich wahrscheinlich damit verbunden sind. Angesichts dieses Wesenszugs altruistischer Moral hat Ayn Rands Kritik des Altruismus einiges für sich. Auch ihr ist aufgefallen, dass dieser ein Leben voller Leid voraussetzt, dessen Linderung er sich widmen kann: „A morality that holds need as a claim, holds emptiness—nonexistence—as its standard of value; it rewards an absence, a defect: weakness, inability, incompetence, suffering, disease, disaster, the lack, the fault, the flaw—the zero.“[8] Wie Nietzsche stellt sie über die Mitleidigen fest, dass diese das Leid beflügelt: „When no actual suffering can be found, the altruists are compelled to invent or manufacture it.“[9]

Bereits der Ausgangspunkt des Altruismus ist für Ayn Rand irrational, denn weshalb soll eigentlich das Wohl anderer Menschen mehr gelten als das eigene: „Why is it moral to serve the happiness of others, but not your own? If enjoyment is a value, why is it moral when experienced by others, but immoral when experienced by you?“ Und warum sollte die Forderung, andere Menschen mögen sich altruistisch verhalten, nicht genau dem Egoismus jener dienen, die diese Forderung aufstellen? „Why is it immoral for you to desire, but moral for others to do so? Why is it immoral to produce a value and keep it, but moral to give it away? And if it is not moral for you to keep a value, why is it moral for others to accept it?“[10] In dieser Kritik des Altruismus stimmt Ayn Rand mit Nietzsche überein, der bereits die Heuchelei der altruistischen Moral bloßgestellt hat: „Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der ‚Nächste‘ lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat!“[11]

3. Rationaler Egoismus

Die Forderung altruistischen Verhaltens entspricht also dem Egoismus einer Person, die entweder unfähig oder unwillig ist, für sich selbst zu sorgen, und die Selbstlosigkeit und Altruismus deswegen lobt, weil ihr andere Menschen diese Aufgabe abnehmen sollen. Wie kommt es nun aber dazu, dass dieser sich verstellende Egoismus als moralisch beurteilt wird, während der unverblümte, ehrliche Egoismus als unmoralisch gilt? Das liegt zunächst daran, dass Egoismus als selbstverständliche, natürliche Haltung jedes Menschen gilt, wie wir das an Kants Beispiel der Lebenserhaltung gesehen haben: Zur Erhaltung seines Lebens habe jeder Mensch die Neigung, daher habe diese nur dann einen moralischen Gehalt, wenn sie trotz eines durch Leid unerträglich gewordenen Lebens praktiziert werde. Darüber hinaus gilt Egoismus nicht nur als von Natur her gegebene Haltung, die zu praktizieren kein Verdienst ist, sondern auch als Negation der Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen. Diesen sei ein Egoist zumindest gleichgültig, wenn nicht feindlich gesinnt, deren Leid bekümmere ihn nicht, weswegen umgekehrt der sich dessen annehmende Altruist moralische Wertschätzung genießt. Es ist also eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Egoismus, die dessen Geringschätzung hervorruft und die Ayn Rand als irrationalen Egoismus kritisiert, demzufolge „to injure, enslave, rob or murder others is in man’s self-interest – which he must selflessly renounce“.[12]

Die Menschen gelten diesem Egoismus als Bestien von Natur aus, die sich permanent in die Quere kommen und einen allseitigen Krieg (Hobbes) heraufbeschwören würden; sie erscheinen als irrationale Wesen, die einen irrationalen Egoismus praktizieren, mit dem sie anderen schaden, wenn sie sich nicht selbst beherrschen, wie schmerzhaft das auch für sie wäre. Diese Selbstbeherrschung aber würde erst ein Zusammenleben der Menschen ermöglichen, auch wenn mit ihr das „Unbehagen in der Kultur“ verbunden sei. Diese lebensfeindliche Vorstellung, in der man entweder andere Menschen opfert oder selbst deren Opfer wird, zeigt sich in der lebensfeindlichen Moral Kants, die Ayn Rand sehr treffend in folgender Aussage kritisiert: „Only a vicious represser, who feels a profound desire to lie, cheat and steal, but forces himself to act honestly for the sake of “duty,” would receive a recognition of moral worth from Kant and his ilk.“[13] Diesen „Repressor“ hält der Altruismus für die unmittelbare Wahrheit des Egoismus, den er deswegen ablehnt. Für Ayn Rand ist dies allerdings ein irrationaler Egoismus, der seine Interessen nicht vernünftig bestimmt. Der Altruismus ist für sie im Grunde eine Erscheinungsform dieses irrationalen Egoismus, auch wenn sie das so nirgendwo ausspricht. Nietzsche lässt hier nichts an Deutlichkeit vermissen, wenn er den Altruismus zu einer heuchlerischen Form des Egoismus erklärt. Allerdings dreht er nun die Sache einfach um und setzt an die Stelle des heuchlerischen den sich offen bekennenden Egoismus, was bereits seine Schwärmerei von der „blonden Bestie“ bezeugt. Wenn der Mensch schon eine Bestie ist, dann soll er sich darüber auch nichts vormachen und den Willen zur Macht anerkennen, der sich darin offenbart und in dessen Dienst auch die Vernunft steht, die daher für Nietzsche keineswegs dem Egoismus zu einer rationalen Gestalt verhilft, sondern höchstens zu einer effektiven.

Nietzsche hebt die Dichotomie von Egoismus und Altruismus nicht auf, sondern setzt der Herrschaft des Altruismus jene des Egoismus entgegen. Er akzeptiert damit das Menschenbild des Altruismus und stellt sich auf die andere Seite, nämlich jenen irrationalen Egoismus, gegen den der Altruismus seine Notwendigkeit erklärt. Für solche Psychopathen, die statt ihrer selbst die anderen Menschen opfern, hat Ayn Rand nichts übrig: „The men who accept that dichotomy but choose its other side, the ultimate products of altruism’s dehumanizing influence, are those psychopaths who do not challenge altruism’s basic premise, but proclaim their rebellion against self-sacrifice by announcing that they are totally indifferent to anything living and would not lift a finger to help a man or a dog left mangled by a hit-and-run driver (who is usually one of their own kind)“.[14]

Der rationale Egoismus kennt keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen den Interessen der Menschen. Andere Menschen gelten ihm nicht prinzipiell als Feinde, sondern können auch im Sinne gegenseitiger Bereicherung zusammenwirken, wie dies allein durch die Arbeitsteilung geschieht. Während der Altruismus meint, um anderen Menschen von Nutzen zu sein, müsse man selbstlos handeln, sieht der rationale Egoismus die Möglichkeit gegenseitigen Nutzens, wie er in einem ganz banalen Tauschhandelsgeschäft zustande kommt. Der Altruismus unterstellt „that a man can have no personal interest in others – that to value another means to sacrifice oneself – that any love, respect or admiration a man may feel for others is not and cannot be a source of his own enjoyment, but is a threat to his existence, a sacrificial blank check signed over to his loved ones“.[15] Da andere Menschen nur Gegner der eigenen Zwecke seien, könne man sich an diesen auch nicht erfreuen. Um sich anderen Menschen zuzuwenden, müssten diese solcher Zuwendung bedürfen und würden diese nur von selbstlosen Altruisten erhalten. Niemand könnte also das persönliche Interesse erwecken, das in einem anderen Menschen eine Bereicherung des eigenen Lebens erblicken würde. Liebe aber ist keineswegs selbstlos, selbst wenn jemand sein Leben riskiert, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten, macht er dies nicht aus Selbstlosigkeit, sondern weil sein Leben durch den Verlust des Geliebten nicht mehr lebenswert wäre. Auch das hat Ayn Rand ganz klar und richtig gesehen, wenn sie verkündet, dass es nicht gerade schmeichelhaft für jemanden wäre, wenn dieser erführe, dass ihm nicht das Interesse an seiner Person Aufmerksamkeit verschafft, sondern das Mitleid mit seinem Bedürfnis nach dieser. Während Schopenhauer nur Mitleid als Ursache für die Hinwendung zu einer anderen Person anerkennt, ist dies bei der Liebe die Freude an deren Existenz. So stellt Ayn Rand unmissverständlich klar: „When you are in love, it means that the person you love is of great personal, selfish importance to you and to your life. (…) It is for your own happiness that you need the person you love, and that is the greatest compliment, the greatest tribute you can pay to that person.“[16]

Welche Besonderheiten muss aber eine Person aufweisen, um das Gefühl der Liebe zu erwecken? Selbstachtung ist dafür wohl eine Voraussetzung, denn eine sich selbst verachtende, in Selbstzweifeln verharrende und sich daher nicht entwickelnde Person könnte wohl höchstens Mitleid auslösen. Und Selbstachtung bedeutet, dass man um die Bedeutung des eigenen Lebens weiß und um die Notwendigkeiten, die zu Erhaltung und Entwicklung eines anregenden Lebens notwendig sind. Um dies zu erreichen, müssen die Menschen Gebrauch von ihrem Verstand machen und sich um die Erkenntnis der von ihnen unabhängig und objektiv gegebenen Welt bemühen. Ein rationaler Egoist ist des Interesses anderer wert, weil er sich der Mühe des Denkens unterzieht und dadurch die objektiv gegebenen Möglichkeiten der Welt zu seinem Nutzen zu verwenden und zu gestalten weiß. Er vollbringt jene Leistungen, die für ein gutes und interessantes Leben erforderlich sind, sei es in der Produktion innovativer Technik oder in der Pflege der Künste.

Da ein rationaler Egoist nicht von den Leistungen anderer Menschen leben, sondern eigenständig sein Leben durch seine Leistungen gestalten will, übernimmt er für sein Leben die Verantwortung. Der Altruist ist hierin genauso sein Gegenteil wie der irrationale Egoist, denn diese wollen von den Leistungen anderer leben und sie rücksichtlos für ihre Interessen benutzen – der Altruist, indem er die Sorge für seine Bedürfnisse zur moralischen Pflicht erklärt, der irrationale Egoist, indem er sich rücksichtlos mittels Gewalt fremder Leistungen und Güter bemächtigt.

4. Objektivismus

Ayn Rand nennt ihre Philosophie und ihre Ethik objektivistisch, weil sie die Bedeutung objektiver Wahrheit für die Lebenserhaltung betonen und sich vom Subjektivismus Nietzsches abgrenzen will, der sich z. B. in der Aussage zeigt, dass Wahrheit und Falschheit keine Rolle spielen würden, weil es nur auf den Nutzen ankäme: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist;“ schließlich wäre „Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens“.[17] Wie ein falsches Urteil nützlich sein soll, bleibt Nietzsches Geheimnis. Für Ayn Rand ist ein falsches Urteil alles andere als lebensfördernd, sondern gefährlich und lebensbedrohlich, wenn etwa eine falsche Heilungsmethode zum Einsatz käme, die eine Krankheit durch den Tod „heilen“ würde. Gerade weil das Leben der Menschen ihrer Anstrengungen bedarf, weil es darauf angewiesen ist, die Wahrheit einer von ihnen unabhängigen Realität zu erfassen, kann den Menschen nur die Wahrheit nützen. Das einzige Mittel zur Erfassung dieser Realität ist der menschliche Verstand, der in verbesserten Produktionsmethoden zur Anwendung kommt. Einen auf diese Weise sein Leben selbstverantwortlich und durch eigene Leistungen rational gestaltenden Menschen als Egoisten zu denunzieren, ist daher lebensfeindlich: „Since nature does not provide man with an automatic form of survival, since he has to support his life by his own effort, the doctrine that concern with one’s own interests is evil means that man’s desire to live is evil – that man’s life, as such, is evil.“[18]

Für das Überleben der Menschen ist es also wichtig, dass sie sich zutreffende Vorstellungen von ihrer Lebenswirklichkeit machen, daher muss ihnen die objektive Wahrheit wichtig sein. Objektivismus bedeutet also keineswegs, dass die Urteile der Menschen immer richtig sein müssen, ganz im Gegenteil, es ist immer möglich, sich zu irren, weshalb ein Mensch umso mehr zu schätzen ist, wenn er wahre Urteile erlangt. Genau jene Menschen, die sich solchen Anstrengungen unterziehen, trotz aller Rückschläge nicht aufgeben und weitermachen, schließlich auch noch erfolgreich sind, zeigen diese Haltung auch in ihrer Körperhaltung und ihrer Körpersprache, erscheinen deswegen als attraktiv und liebenswert. Die ihnen zugewandte Liebe ist daher eine Wertschätzung ihrer Person und ihrer Verdienste, weswegen die weibliche Hauptfigur in Ayn Rands Roman Atlas Shrugged sich auch nur mit solchen Männern einlässt. Der produktive Mensch ist auch kreativ, er erfreut sich seines Lebens, weiß um dessen Notwendigkeiten, legt seine Ziele entsprechend fest und verfolgt sie konsequent, genauso konsequent geht er auch in zwischenmenschlichen Beziehungen vor und seine Selbstachtung würde ihm verbieten, erst einmal um Erlaubnis zu fragen, wenn er sich einer Person mit sexuellen Absichten nähert.

Ein rationaler Egoist gibt sich nicht beliebigen Launen hin und ist daher sehr zielstrebig in der Verfolgung seiner Interessen: „Just as man cannot survive by any random means, but must discover and practice the principles which his survival requires, so man’s self-interest cannot be determined by blind desires or random whims, but must be discovered and achieved by the guidance of rational principles. This is why the Objectivist ethics is a morality of rational self-interest—or of rational selfishness.“[19]

5. Rationaler Egoismus und Kapitalismus

In aller Kürze folgen hier noch ein paar Bemerkungen über das Verhältnis des rationalen Egoismus zum Kapitalismus. Ayn Rand ist ja der Auffassung, dass sie mit ihrer Philosophie des Objektivismus und des rationalen Egoismus dem Kapitalismus endlich zu jenem philosophischen Fundament verhilft, das ihm bisher gefehlt und ihn auch angreifbar gemacht habe. Den Kapitalisten will sie damit ein angemessenes Klassenbewusstsein verschaffen, sodass sie sich nicht mehr vom Altruismus des Egoismus bezichtigen und Schuldgefühle auferlegen oder ein schlechtes Gewissen verschaffen lassen. Das kapitalistische Eigentum gilt ihr als Resultat der geistigen Errungenschaften herausragender Menschen, die mit ihren technologischen Innovationen den verdienten Ertrag erhalten und erfolgreicher als ihre Konkurrenten sind. Dass wissenschaftliche Forschung und deren kapitalistische Anwendung in Form neuer Produktionsmittel in der Regel kaum von einzelnen Menschen betrieben werden können, ficht sie nicht an. Auch den Umstand, dass wissenschaftliche Forschung zunächst einmal für einen mehr oder weniger langen Zeitraum nur Kosten verursacht und deswegen von staatlichen Institutionen betrieben wird, blendet sie aus.

Der rationale Egoismus hat einiges für sich, da er jede Gewalt zurückweist und für eine freiwillige, auf wechselseitigem Nutzen beruhende Zusammenarbeit der Menschen argumentiert, ganz so wie sich Marx die Assoziation freier Produzenten vorgestellt hat. Diese gewaltfreie Zusammenarbeit ist für Ayn Rand aber nur im Kapitalismus gegeben, denn da würden die Menschen über den Austausch von Leistungen zueinander finden, niemand würde andere zu diesen Leistungen zwingen können. Der Vertrag zwischen zwei Vertragspartnern, wie er in jedem Tauschgeschäft zur Geltung kommt, ist das Prinzip dieses rationalen Egoismus. Hier verhält sich Ayn Rand ignorant gegen den Fall, dass solche Vertragsbeziehungen auf Nötigung beruhen, wenn sie die Notlage eines Vertragspartners ausnutzen. Genau hier setzt ja die marxistische Kritik an, da Marx im Kapital selbst deutlich ausspricht, dass der Bereich des Tauschverhältnisses noch geradezu als ein wahres Eden der Menschenrechte erscheint, wenn man ihn mit dem Produktionsbereich vergleicht, in dem der seine Arbeitskraft gegen Lohn zur Verfügung stellende Bürger seine Haut zu Markte trägt und nichts anderes erwarten darf als die Gerberei.[20]

Ayn Rands Versuch einer Rationalisierung des Kapitalismus stellt letztlich nichts weiter als eine jener Utopien dar, die am real existierenden Kapitalismus alles ignorieren, was dem Ideal widerspricht, das sie sich von diesem machen. Die Sehnsucht nach dem rationalen Egoisten entspricht der Forderung nach dem neuen Menschen im realen Sozialismus. Um den Kapitalismus weißzuwaschen, erklärt Ayn Rand den Staat zum Übeltäter, der die Entfaltung der segensreichen Wirkungen des Kapitalismus verhindere, indem er das Kapital mit seinen Steuern ausbeuten und diese Praxis als Altruismus rechtfertigen würde. Jeder sei seines Glückes Schmied und nur faule sowie verwahrloste Bürger würden ihr eigenes Unglück erzeugen und dann auf den Altruismus als ihre Lebensgrundlage setzen. Würde der Altruismus des Sozialstaats diese Haltung nicht begünstigen, so wären diese Menschen genötigt, ihre Verwahrlosung zu überwinden.

Dabei ist Ayn Rand insofern Recht zu geben, als ganz gewiss nicht über ein revolutionäres Bewusstsein verfügt, wer vom Kapital verlangt, dass es auf seine Interessen Rücksicht nehme und die Verteilung des Profits zur Versorgung der Armen akzeptiere. Es wäre schon eher im Sinne eines rationalen Egoismus, Verhältnisse abzuschaffen, welche die auf Lohnarbeit angewiesenen Bürger vom Zugriff auf die Produktionsmittel ausschließen, der ihnen nur unter der Voraussetzung gestattet wird, dass ihre Arbeit deren Eigentümer reicher macht. Ein rationaler Egoismus wäre in einer kommunistischen Gesellschaft viel besser aufgehoben, wo eine altruistische Moral ohnehin überflüssig und sogar schädlich wäre. So machen „die [Ko]mmunisten weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend“, sondern offenbaren die „materielle Geburtsstätte“ dieses Gegensatzes, „mit welcher er von selbst verschwindet“.[21]


[1] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Kant-Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 198910, S. 23 (= BA 10)

[2] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Werke (herausgegeben von Wilhelm Weischedel):, Bd. 7, a. a. O., S. 192 f. (= A 129)

[3] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch (herausgegeben von Rüdiger Safranski), Kindle E-Book, Frankfurt am Main 2011, S. 237 f., siehe auch die beiden Schriften Schopenhauers: Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral (herausgegeben von Philipp Theisohn), Stuttgart 2013, S. 259

[4] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 241; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 263

[5] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 244 f.; vgl. Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral, a. a. O., S. 266 f.

[6] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1, Nr. 321, in: Sämtliche Werke (herausgegeben von Siegfried König), Kindle E-Book, Nürnberg 2013, S. 561 f.

[7] Arthur Schopenhauer: Das große Lesebuch, a. a. O., S. 253

[8] Ayn Rand: Atlas Shrugged, Kindle E-Book, New York 1996, S. 1032; Übersetzung: Eine Moral, die Bedürftigkeit für einen Anspruch hält, nimmt das Leere – Nicht-Existenz – als ihren Richtwert; sie belohnt eine Abwesenheit, einen Defekt: Schwäche, Unfähigkeit, Inkompetenz, Leiden, Krankheit, Unheil, den Mangel, den Fehler, den Makel – die Null.

[9] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, Kindle E-Book, New York 1986, S. 8; Übersetzung: Wenn kein gegenwärtiges Leid gefunden werden kann, sind die Altruisten genötigt, es zu erfinden oder herzustellen.

[10] Ayn Rand: Atlas Shrugged, a. a. O., S. 2031; Übersetzung: Warum ist es moralisch, dem Glück anderer zu dienen, aber nicht deinem eigenen? Wenn Genuss ein Wert ist, warum ist dieser moralisch, wenn er von anderen erlebt wird, aber unmoralisch, wenn von dir erlebt? – Warum ist es für dich unmoralisch zu begehren, aber für andere moralisch, dies zu tun? Warum ist es unmoralisch, etwas Wertvolles zu produzieren und zu behalten, aber moralisch, es wegzugeben? Und wenn es für dich nicht moralisch ist, etwas Wertvolles zu behalten, warum ist es moralisch für andere, es zu empfangen?

[11] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Erstes Buch, Nr. 21, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1159

[12] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 446; Übersetzung: (…) andere zu verletzen, zu versklaven, zu berauben oder zu ermorden entspricht dem Interesse eines Menschen für sich selbst – das er selbstlos aufgeben muss.

[13] Ebd., S. 131; Übersetzung: Nur ein bösartiger Unterdrücker, der ein tiefes Verlangen zu lügen, zu betrügen und zu stehlen empfindet, aber sich selbst zwingt, der Pflicht zuliebe ehrlich zu handeln, würde von Kant und seinesgleichen eine Anerkennung seines moralischen Werts erhalten.

[14] Ebd., S. 11; Übersetzung: Die Menschen, die diese Dichotomie akzeptieren, aber ihre andere Seite wählen, die letzten Produkte des entmenschlichenden Einflusses des Altruismus, sind jene Psychopathen, welche die grundlegende Prämisse des Altruismus nicht anfechten, aber ihre Rebellion gegen ihre Selbstaufopferung verkünden, indem sie angeben, dass ihnen jedes Lebewesen vollkommen gleichgültig ist und sie keinen Finger rühren würden, um einem Menschen oder einem Hund zu helfen, die von einem fahrerflüchtigen Lenker (der üblicherweise einer von ihrer Art ist) verstümmelt zurückgelassen worden sind.

[15] Ebd., S. 10 f.; Übersetzung: “ (…) dass ein Mensch kein persönliches Interesse an anderen haben kann, dass andere zu schätzen bedeute, sich selbst zu opfern – dass jegliche Liebe, Respekt oder Bewunderung, die jemand für andere empfinden möge, nicht eine Quelle seines eigenen Vergnügens ist oder sein kann, sondern eine Bedrohung seiner Existenz darstellt, einen Blankoscheck der Opferbereitschaft, den er seinen geliebten Menschen überschreibt.

[16] Ebd., S. 452; Übersetzung: Wenn du jemanden liebst, bedeutet das, dass die Person, die du liebst, von großer persönlicher, eigennütziger Wichtigkeit für dich und dein Leben ist. (…) Du brauchst die Person, die du liebst, für dein eigenes Glück, und das ist das größte Kompliment, die höchste Anerkennung, die du dieser Person zollen kannst.

[17] Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 4, in: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 1646

[18] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 7; Übersetzung: Da die Natur den Menschen nicht mit einer automatischen Form des Überlebens versorgt, da er sein Leben durch seine eigene Anstrengung erhalten muss, bedeutet die Lehre, wonach die Sorge um das eigene Interesse böse sei, dass die Sehnsucht des Menschen zu leben böse sei – dass das Leben des Menschen an sich böse sei.

[19] The Ayn Rand Lexicon: Objectivism from A to Z, a. a. O., S. 448 f.; Übersetzung: Genauso wie der Mensch nicht durch irgendein zufällig erlangtes Mittel überleben kann, sondern die Prinzipien, die sein Überleben erfordert, entdecken und praktizieren muss, so kann das Eigeninteresse des Menschen nicht durch blinde Sehnsüchte und zufällige Launen bestimmt sein, sondern muss unter der Leitung rationaler Prinzipien entdeckt und verwirklicht werden. Deshalb ist die objektivistische Ethik eine Moral des rationalen Eigeninteresses – oder des rationalen Egoismus.

[20] Karl Marx: Das Kapital, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 23, S. 189 f.

[21] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 229

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