Antifaschismus als imperialistische Ideologie
In der Zeitschrift profil[1] findet sich ein Interview mit dem Autor Martin Pollack unter dem Titel „Wir sind gut beraten, mit dem Schlimmsten zu rechnen!“. Als unehelicher Sohn eines auf der Flucht vor den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ermordeten Nazis namens Gerhard Bast sieht er sich von der faschistischen Vergangenheit unmittelbar betroffen und zur Wachsamkeit gegenüber der Gefahr des Faschismus auserkoren. Mit dem Schlimmsten zu rechnen, meint daher das Erstarken autoritärer und faschistischer Staatsformen, von welchen die Demokratie bedroht sei. Mit dem Schlimmsten rechnen allerdings auch jene, welche vor islamischem Faschismus warnen, weil demokratische Staaten dessen Gefahr unterschätzen und vor notwendigen Gegenmaßnahmen zurückschrecken würden. Wenn Herr Pollack feststellt: „In der Disziplin des Zuwartens sind wir leider Weltmeister“ (S. 62), so würden ihm darin Politiker der AFD und der FPÖ gewiss zustimmen, nur dass diese das zögerliche Vorgehen gegen den politischen Islam und die illegale Migration beklagen, während Pollack sich gerade die konsequente Bekämpfung solcher Parteien wünscht, die ihm als ausländerfeindlich sowie rassistisch und daher als rechtsextrem gelten. Pollack kann sich anscheinend Faschismus nur als Werk weißer Menschen vorstellen, während ihm die Vorstellung eines islamischen Faschismus als Propaganda rechter Islamophobie gilt. Daher hat er kein Problem damit, Russland als „mörderisches Regime“ (S. 64) zu bezeichnen, auch wenn er damit die Russenfeindschaft der Nazis fortsetzt. Hierin vermag er keine „Geschichtsvergessenheit“ (S. 62) zu erblicken, die doch die Gefahr in sich berge, dass nochmals passieren könnte, was nur durch die Beschäftigung mit der Geschichte zu vermeiden sei. Originalton Pollack: „Wir sind gut beraten und aufgefordert, uns mit der Geschichte zu beschäftigen und genau hinzusehen, was geschehen ist. Sonst passiert es abermals.“ (S. 62)
Die Geschichte soll man sich also genau ansehen, weil nur dadurch die Gefahren zu erkennen seien, die in der Gegenwart bestehen. Das hört sich ungefähr so an, als wüsste Pollack an dieser Gegenwart gar nichts auszusetzen, wenn ihm nicht der Blick auf die Geschichte zur Verfügung stünde, der erst zeige, welche Gefahren diese Gegenwart aufweise und was hier erneut geschehen könnte. Dieser Gedanke ist insofern absurd, als einerseits die Gegenwart erst durch die Geschichte zu begreifen sei, andererseits aber diese Gegenwart erst begriffen werden muss, um eine Beziehung zur Geschichte herzustellen. Und hier kommt es sehr darauf an, welche Schlüsse sowohl aus vergangenen als auch aus gegenwärtigen Zuständen und Ereignissen gezogen werden. Der Blick auf die Geschichte klärt hier überhaupt nichts, denn es hängt immer von den Auffassungen des urteilenden Subjekts ab, welche Lehren es der Geschichte entnehmen will. Pollacks Hinweis, dass man genau hinsehen müsse, was passiert sei, nimmt die so zustande gekommene Differenz der Urteile zur Kenntnis, ohne deren Ursachen zu begreifen, und führt sie daher darauf zurück, wie genau die urteilenden Subjekte hingesehen haben. Allein der Umstand, dass für Pollack Russland als „Reich des Bösen“ gilt, ihm dabei aber keinerlei Übereinstimmung mit der Position der Nazis auffallen will, offenbart die Abhängigkeit seines historischen Blicks von seinen politischen Überzeugungen. Daher gilt ihm Russland als Wiedergänger des Nazi-Reichs, weil es ohnehin schon zu Zeiten der Sowjetunion genau wie dieses eine Diktatur gewesen sei und sich wieder zu einer autoritären Herrschaft entwickle. Dass die zahlreichen NGOs imperialistischer Mächte wegen ihrer Zersetzung der politischen Stabilität Russlands inzwischen großteils verboten oder staatlicher Kontrolle unterworfen sind, reicht ihm als Beweis für die Anklage Russlands als autoritäres Regime. Der Krieg in der Ukraine bestätigt erst recht seine Auffassung, dass hier eine Nation mit imperialistischen Ambitionen am Werk sei, die mit Gewalt darauf reagiere, dass sie den Herausforderungen einer freien Gesellschaft nicht gewachsen sei.
Pollacks historischer Blick erweist sich als blind gegen die politischen Veränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Vorstellung, dass sich eine faschistische Herrschaft genau auf jene Weise wie die Nazis artikulieren und vielleicht sogar noch deren Symbole übernehmen würde, ist ohnehin an Albernheit nicht zu überbieten. Mit der ängstlichen Fixierung auf ein Wiedererstarken des Faschismus in seinen bekannten historischen Formen entgeht Pollack daher, dass sich imperialistische Politik auch ganz hervorragend mit demokratischer Herrschaft vereinbaren lässt und autoritäre Regierungsformen eher eine Sache unterlegener Nationen sind, die durch mehr staatliche Eingriffe die Produktivität ihres nationalen Standorts für das Anlage suchende Kapital zu erhöhen versuchen. Abgesehen davon haben auch führende imperialistische Staatsmächte keinerlei Skrupel beim Durchgreifen, wenn demonstrierende Massen ihren politischen Anliegen in die Quere kommen. Hier gilt das aber als Verteidigung der Demokratie gegen den undemokratischen Pöbel oder Mob, während solche Maßnahmen beim nationalen Gegner natürlich nur die Unterdrückung der demokratischen Ambitionen eines nach Freiheit dürstenden Volkes offenbaren können.
In seiner begriffslosen Verehrung der Demokratie als antifaschistisches Bollwerk kann sich Pollack auch die Existenz als faschistisch geltender Parteien und Politiker nur begriffslos erklären. Es könne „keine Rede mehr davon sein, dass Menschen durch Arbeitslosigkeit und triste soziale Umstände in die offenen Arme radikaler Parteien getrieben werden“ (62 f.), da auch junge Menschen, die sich unter Alkoholeinfluss mit Hakenkreuzschmierereien für Tabubrecher halten, nicht hungern müssten. Weshalb triste soziale Umstände kein Motiv für politische Radikalisierung abgeben können, unmittelbares Elend im Hunger aber schon, bleibt allerdings Pollacks Geheimnis. Weil er aber keinerlei Ursachen dafür auszumachen vermag, dass sich Menschen von der demokratischen Herrschaft abwenden, muss dafür ein Mangel an geschichtlichem Bewusstsein herhalten, eben die bereits zitierte „Geschichtsvergessenheit“, der nur dadurch beizukommen sei, dass „wir“ die Geschichte nicht verdrängen und vergessen, sondern „uns ehrlich damit auseinandersetzen, nichts zudecken, verschweigen, nicht zu lange zuwarten“ (S. 62). Wenn die Demokratie als faschistisch geltende Maßnahmen ergreift, kann es in dieser Sichtweise nur daran liegen, dass nicht genau hingesehen wurde, die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht ehrlich gewesen, sondern immer noch von Verdrängung, Zudecken und Verschweigen geprägt sei. So muss man überhaupt nichts von den Zusammenhängen demokratischer und faschistischer Herrschaft mit kapitalistischen und imperialistischen Entwicklungen begreifen und kann völlig begriffslos immer wieder eine mangelnde Bereitschaft zur schonungslosen „Auseinandersetzung mit der Geschichte“ für solche Erscheinungen verantwortlich machen.
Zu lange gewartet zu haben, ist eine Klage, die sich in allen politischen Lagern finden lässt. Wo auch immer ein politisches Anliegen nicht durchgesetzt wurde, soll die fehlende Durchsetzungsfähigkeit dafür verantwortlich sein, soll es am rechten Willen gefehlt haben und man habe aus Bequemlichkeit zu lange gewartet. Dabei hätte man aus der Geschichte doch lernen können, wohin das führe, nämlich zu Exzessen der Gewalt, weil diesen nicht rechtzeitig durch dann wohl besonnene Gewalt Einhalt geboten worden sei, meint Pollack vermutlich. Welche Lehren zieht er also aus der Geschichte, so als würden diese durch das bloße Protokollieren historischer Entwicklungen und Ereignisse sich ganz automatisch ergeben? Kritisiert er etwa die Militäreinsätze der NATO, ganz im Gegensatz zu Nazideutschland, das seine Militäreinsetze keineswegs kritisierte, sondern feierte? Kritisiert er die Konstruktion des Feindbildes „Russland“ oder teilt er den Hass Russlands bzw. damals der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland? Ist er nicht der Auffassung, dass diesmal Deutschland auf der richtigen Seite stehe, weil diese Nation im Bunde mit den Westmächten gegen den aktuellen Hitler, der diesmal Putin heiße, kämpfe? Hier zu lange gewartet und ganz im Sinne von Chamberlains Appeasement-Politik weiter mit Putin verhandelt und wirtschaftliche Beziehungen unterhalten zu haben, also nicht rechtzeitig zur Gewalt als der einzigen Sprache, die ein Despot verstünde, gegriffen zu haben, lautet schließlich die Kritik Pollacks an den Westmächten. Originalton Pollack: „Europa war Russland gegenüber viel zu weich und nachgiebig.“ (S. 64) Diese Kritik gibt es auch umgekehrt, auch in Russland existiert die Klage, sich zu lange die Expansion der NATO und der EU bieten gelassen zu haben, ebenso deren Hinhalte-Taktik hinsichtlich der Ukraine mittels der Minsker Abkommen.
Zu weich und zu nachgiebig gewesen zu sein gegen den politischen Gegner, gegen solche „Kritik“ hätte auch Hitler nicht das Geringste einzuwenden gehabt. Der Unterschied zu den herrschenden imperialistischen Mächten besteht hier allerdings darin, dass Nazideutschland seine Expansion nicht dank überlegener Gewalt mit wirtschaftlichen Methoden vollziehen konnte. Das haben die EU und die USA hingegen so lange vermocht, bis es in der Ukraine zur militärischen Gegenwehr Russlands gekommen ist. So war das ja mit dem Assoziierungsabkommen der EU gemeint, das die Ukraine 2014 hätte unterzeichnen sollen, denn dadurch wäre die gesamte Ukraine dem Zugriff des EU-Kapitals ausgeliefert geworden. Nachdem hinsichtlich des nationalen Nutzens dieser Assoziierung unter den politischen Eliten der Ukraine keine Einigkeit herrschte, kam es zu den Gewaltexzessen des Maidan und zum Bürgerkrieg, der trotz der Minsker Abkommen fortgesetzt wurde, bis 2022 Russland offiziell als Kriegspartei für die russische Bevölkerung in der Ostukraine eingriff. Weil jedoch die Expansion der EU großteils mittels ökonomischer Erpressung stattfindet, gilt Russlands militärische Gegenwehr als Aggression und als Imperialismus. Nachdem die kapitalistische Weltordnung die Abhängigkeit aller Nationen von ihrem kapitalistischen Erfolg durchgesetzt hat, den diese gerne als Mittel zur Steigerung ihrer Macht nutzen, solange sich dieser Erfolg auch einstellt, ist es eine entscheidende Frage, welche Bedingungen diesen Erfolg am besten fördern. Soll man sich zum Partner der EU und der USA machen, damit aber auch deren Interessen dienen, oder stellt man sich diesen besser entgegen, wenn man als kapitalistische Nation erfolgreich sein will? Um weitere „Argumente“, also Fakten erfolgreicher Gewalt zur Entscheidung dieser Frage herzustellen, wird derzeit der Krieg zwischen Russland und der Ukraine geführt. Die Ukraine muss sich durch militärische Erfolge und die Schwächung Russlands das zweifelhafte „Privileg“ verdienen, Mitglied von EU und NATO zu werden.
Solche Zusammenhänge sind Pollack allerdings völlig fremd, er ist das beste Beispiel einer schönen Seele, die angesichts der bösen „faschistischen“ Welt verrückt und zum harten Herzen wird, sodass er jede Handlung politischer Gegner verurteil und sich zum Einsatz seiner als rechtmäßig verstandenen gerechten Gewalt gegen diese berufen glaubt, die kein anderes Maß als deren Vernichtung kennt. Weil die imperialistische Expansion heutzutage nicht unter der Hakenkreuz-Fahne stattfindet, sondern mit der Regenbogen-Fahne sich als Durchsetzung der Minderheitenrechte der Lgbtq+-Gemeinde und somit der Menschenrechte präsentiert, sieht auch Pollack darin den weltweiten Kampf der Demokratie gegen den Faschismus, obwohl sich dieser von Hitlers Krieg gegen den Bolschewismus nur in seinen Erscheinungsformen und seinem Selbstverständnis unterscheidet.
[1] profil, Heft 17, 24. 4. 2024, S. 60–64; alle weiteren Seitenangaben in Klammern stammen von dort.mern stammen von dort.
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