Unorganisiertes Leben – unwertes Leben?

IWien, 23. 3. 2020

In seiner Novelle „Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk“[1] schildert Stefan Zweig die Erlebnisse des Erzählers, der die unerwartete Gelegenheit erhält, einen Taschendieb bei der Ausübung seines „Handwerks“ zu beobachten. Möglich wird diese Beobachtung nur dadurch, dass der Erzähler ohne ein bestimmtes Ziel durch Paris schweift und sich ganz den Erscheinungen hingeben kann, die diese Stadt zu bieten hat. In den Worten des Erzählers: „Ich machte keinerlei Plan, ich gab mich frei, schaltete jeden Kontakt auf Wunsch und Ziel ab und stellte meinen Weg ganz auf die rollende Scheibe des Zufalls, das heißt, ich ließ mich treiben, wie mich die Straße trieb (…).“[2] Eine Haltung wie diese wird in unserer durchorganisierten Gesellschaft den Kindern immer mehr von vornherein ausgetrieben, immerzu müssen sie strebsam ihre Aufmerksamkeit auf die Erlangung bestimmter Fähigkeiten richten und können sich nicht ihrer Umgebung ganz interesselos und jenseits von Zweckgebundenheit hingegeben. So verlieren sie die Fähigkeit, sich zu entspannen und den Blick für Neues freizubekommen, für Dinge jenseits des von einem bestimmten Interesse eingeschränkten Gesichtskreises.

Ein „interesseloses Wohlgefallen“, wie Kant den ästhetischen Genuss genannt hat, ist in einer Gesellschaft verpönt, in der das ganze Dasein dem Interesse der Verwertung zu dienen hat. Es darf in der Schule keine Tätigkeit geben, die nicht in irgendeiner schulischen Leistung verwertbar wäre. Sich nur einmal dem unmittelbaren Dasein hinzugeben, ohne dass dies zumindest durch einen Erlebnisaufsatz im Deutschunterricht gerechtfertigt würde, darf einfach nicht sein. Anscheinend muss jeder seine Erlebnisse veräußern und den anderen Menschen zugänglich machen, sie für sich behalten zu wollen, erschiene als anstößig und als abweichendes Verhalten, das vielleicht sogar eines therapeutischen Eingriffs bedürfen würde. Die Sorge, dass die Schüler zu sehr in den Tag hineinleben könnten, hat vermutlich auch manche Lehrer dazu veranlasst, diese nun mit Arbeitsaufgaben einzudecken, die sich richtig einzuteilen bereits eine Herausforderung darstellt. Nachdem es wegen der Corona-Pandemie notwendig wurde, die Schüler zu Hause mit Arbeitsaufträgen zu versorgen, sind manche Lehrer diesem Gebot nämlich derartig engagiert nachgekommen, dass man sich wahrlich keine Sorgen um eine mögliche Unterbeschäftigung der Schüler machen muss.

Nun soll hier keineswegs dafür Partei ergriffen werden, nur in den Tag hineinzuleben, sich nur treiben zu lassen und das Leben nicht zweckmäßig einzurichten. Es kommt aber schon darauf an, welche Zwecke hier organisiert werden und wie das Verhältnis zwischen Arbeit und Muße ausfällt, das heutzutage unter dem Schlagwort Work-Life-Balance thematisiert wird. In dieser modernen Fassung ist das Verhältnis allerdings ganz klar so bestimmt, dass das Leben der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit dienen soll, während es sich in einer vernünftigen Gesellschaft genau umgekehrt so verhielte, dass die Arbeit dem Leben dienen würde. In einer kapitalistischen Gesellschaft dient die Arbeit aber der Kapitalverwertung, die an den Lebenskräften zehrt, sodass es gezielter Maßnahmen bedarf, um diese wiederherzustellen. Zu solchen Maßnahmen zählt mittlerweile die Eindämmung der dank neuer Kommunikationsformen gegebenen permanenten Verfügbarkeit. Das Kapital macht vom totalen Zugriff auf das Leben der Lohnabhängigen, den Internet und Mobiltelefone ermöglichen, rücksichtslosen Gebrauch und seinen Knechten damit das Leben auch in der „Freizeit“ schwer, die auf diese Weise zu verschwinden droht. Damit nähert sich das Kapital wieder der Erkenntnis von Karl Marx, laut welchem das Kapital die Frage nach der täglichen Arbeitszeit auf folgende Weise beantwortet: „Der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt.“[3] Auch hier erweist sich die Schule als Ausbildung für das kapitalistisch bestimmte Leben, denn auch die Schüler werden zu Hause mit Material versorgt. Sie müssen das elektronische Klassenbuch überprüfen, um sich auf dem aktuellen Stand hinsichtlich ihrer Hausübungen zu halten. Da gibt es immer wieder unliebsame Überraschungen, wenn nach 18 Uhr plötzlich eine Hausübung vermerkt ist, die vorher nicht eingetragen war. Wenn man hier nicht immer wieder die Eintragungen kontrolliert, kann es schon einmal vorkommen, dass man so eine Aufgabe erst am Tag ihrer Fälligkeit bemerkt.

Nicht zufällig stellt sich Joseph von Eichendorff den Anforderungen bürgerlicher Konkurrenzfähigkeit entgegen, wenn er seine berühmte Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ nennt, denn schließlich ist deren Hauptperson eine einfältige Künstlerseele. Zwar verhält es sich keineswegs so, dass der „Taugenichts“ zu nichts taugt, schließlich versteht er es ja, seine Geige zu spielen. Ein Taugenichts ist er jedoch gemessen am Zweck des bürgerlichen Gelderwerbs und des entsprechenden Schaffensdrangs. Allerdings ist die Welt des „Taugenichts“, die Eichendorff schildert, von dessen kindlicher Einfalt geprägt, die niemandem etwas Böses will und auch von niemandem Böses fürchtet. Diese heile Welt wird auch durch nichts erschüttert, da glückliche Fügungen immer wieder dafür sorgen, dass der „Taugenichts“ nicht Not leiden muss, dass ihm durch fremde Menschen kein Leid geschieht, sondern diese ihm wohlgesinnt sind. In der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren unversöhnlichen Gegensätzen und Konkurrenzkämpfen verhält es sich gerade umgekehrt, daher wirkt die Welt der Novelle Joseph von Eichendorffs als Märchen. Die Romantik insgesamt lässt sich in diesem Sinne als bürgerliche Erbauungsliteratur verstehen, in welcher die bürgerlichen Gegensätze versöhnt oder schicksalshaft überhöht, weil höheren Mächten geschuldet erscheinen.

Auch bei Goethe spielt der Konflikt zwischen Gelderwerb und brotloser Kunst eine Rolle, nämlich in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Dort versucht Wilhelm Meisters Schwager immer wieder, diesen von seiner Leidenschaft für das Theater abzubringen und für die Schönheiten des „natürlichen Erwerbsstrebens“ zu begeistern. Es handelt sich hier allerdings um einen Konflikt, den sich Wilhelm Meister nur als Angehöriger einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie leisten kann, den meisten Bürgern ist eine solche Wahl nämlich nicht gegeben, sondern sie sind den Zwängen des Gelderwerbs unterworfen. Damit schließt sich der Kreis zu den Erfahrungen mit der Schule in der bürgerlichen Gesellschaft, der man wahrlich nicht vorwerfen kann, die Kinder nicht bei der Einübung bürgerlicher Verhaltensweisen zu unterstützen, worunter insbesondere der Gehorsam gegen die Obrigkeit fällt. Einwände gegen ein durch und durch auf kapitalistische Funktionalität angelegtes Leben sind eher selten anzutreffen, vielmehr wird dies im Utilitarismus zum genuin menschlichen Dasein verklärt. So bleibt es den Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft vorbehalten, ihr Unbehagen mit dieser Lebensführung zu formulieren, wie etwa Rolf Dieter Brinkmann schreibt: „(…) ich habe immer darunter gelitten, dass alles, was einer macht, über den Leisten der sofortigen Nützlichkeit gezogen werden muss – überhaupt: dass die erste Einstellung von Menschen, egal worauf sie treffen, immer vom Nützlichkeitsaspekt, der sofortigen Verwertung für Konkretes, aber nicht als Material zum Träumen und Weitergehen und Weiterentwickeln bestimmt ist – so sehen sie alles nur als Fressen an.“[4] Damit, so Brinkmann weiter, würden sich die Menschen nicht von Tieren unterschieden, die „ja unter der andauernden Anspannung der Nahrungsbeschaffung“ stehen. Auch hierin bereitet die bürgerliche Schule bestens auf das Dasein vor, das für die meisten Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft vorgesehen ist. Ein wacher Geist ist dort nur für die Wahrnehmung von Geschäftsgelegenheiten gefragt, die intellektuelle Tätigkeit ist darauf eingeschränkt, diese zu erkennen und zu ergreifen. Sich wie der Erzähler in Stefan Zweigs Novelle treiben zu lassen und Dinge zu beobachten, ohne dass diese Beobachtungen zu Geld gemacht werden können, gilt hier als Zeitvergeudung.


[1] Stefan Zweig: Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk, in: Die unsichtbare Sammlung – Novellen, in: Stefan Zweig: Gesammelte Werke, zusammengestellt von Jürgen Schulze, Kindle E-Book, Neuss 2013

[2] Ebenda, Positionen 84801 ff.

[3] Karl Marx: Das Kapital, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, S. 280

[4] Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Hamburg 1979, S. 448 f.; an neue Rechtschreibung angepasst.

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