Vom Bedürfnis nach dem schönen Schein der Herrschaft

Wien, 8. 4. 2021

Vor gar nicht so langer Zeit wurde Herr Kickl für die Aussage gerügt, dass nicht die Politik dem Recht unterworfen ist, sondern das Recht der Politik „folgt“. Das hat den Schönfärbern bürgerlicher Herrschaft gar nicht gefallen und daher für Aufregung gesorgt, wie ich in meinem Artikel über den skandalumwobenen Herrn Kickl[1] festgehalten habe.

Damals war der Auslöser für diese Debatte das Asylrecht, ebenso wie knapp zwei Jahre danach, als eine Familie nach Georgien abgeschoben wurde. Hier berief sich der zuständige Innenminister darauf, dass ihm aufgrund der gesetzlichen Regelungen die Hände gebunden seien, wurde nun aber nicht für seinen respektvollen gesetzlichen Gehorsam gelobt. Irmgard Griss warf ihm sogar eine „billige und faule Ausrede“[2] vor, da es ihm auch innerhalb bestehender gesetzlicher Regelungen möglich gewesen wäre, der Familie ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren. Darüber hinaus wandte sie sich gegen die Aussage, dass der Politik durch das Recht Grenzen gesetzt seien, indem sie feststellte, dass die Rechtslage zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen bzw. „nachzuschärfen“[3] sei. Sie sprach also genau jene Wahrheit aus, für die Herr Kickl zwei Jahre davor angefeindet wurde.

Nun mag man vielleicht einsehen, dass es im Fall der Frau Griss weniger verstörend wirkt, wenn sie Gesetzesänderungen andenkt, die dem Kindeswohl dienen sollen, während Herr Kickls Absichten ja genau dem entgegengesetzten Ziel dienen, dem Staat die Abschiebung unerwünschter Menschen zu erleichtern. Dem schönen Schein der Herrschaft entspricht das Bild einer fürsorglichen Gewalt, der das Kindeswohl am wichtigsten ist, natürlich eher als das Eingeständnis, dass diesem höhere staatliche Anliegen widersprechen. Rein sachlich besteht aber dennoch kein Unterschied zwischen den beiden Standpunkten: Beide behaupten völlig zutreffend, dass die staatliche Herrschaft sich ihren Gesetzen nicht für alle Ewigkeit unterwirft, sondern diese ihren Interessen gemäß anpasst. Um zu vermeiden, dass es hier zu voreiligen und daher letztlich unzweckmäßigen Anpassungen kommt, geht dem Ganzen eine Diskussions- und Entscheidungsprozess voraus, ein sogenannter Prozess der politischen Willensbildung. Willkür ist unerwünscht, die gewünschten Gesetzesanpassungen sollen schließlich den politischen Zwecken dienen, die diese herbeiführen.

Es ist wirklich bemerkenswert, dass keinem Berichterstatter diese Gemeinsamkeit der Positionen von Herrn Kickl und Frau Griss aufgefallen ist. Aber mit der Einsicht in ihren Überzeugungen widersprechende Zusammenhänge haben es die Haus- und Hofberichterstatter offensichtlich schwer, wie sich daran erkennen lässt, dass ihnen auch anlässlich des neuesten „Skandals“ um die Führung der ÖBAG kein Licht aufgeht. Hier wurde der Schriftverkehr bekannt, der mit der Besetzung des ÖBAG-Chefs Schmid einherging, sodass sich das unschöne Bild einer Herrschaft ergab, deren Personal es nicht nur um den Dienst an der Nation, sondern auch um ihr persönliches Wohl geht. Deutlich wurde dabei unter anderem auch, dass es Versorgungsposten gibt, die man nicht wegen persönlicher Leistungsfähigkeiten erhält und wofür andere Personen geopfert werden: „Wir schmeißen den (…) raus oder lassen ihn auslaufen“, hieß es hier etwa angesichts des Wunsches, einer Politikerin zu ihrem Einkommen zu verhelfen.[4]

Nun wüsste zwar niemand zu sagen, was denn so schön an einem Staat sein sollte, der niemandem von Nutzen wäre, aber dennoch scheint man es für ein schönes Bild zu halten, wenn Politiker nur als Diener des Staates erscheinen. Bemerkenswert ist an diesem Fall vor allem, dass der für seine Allmachtsphantasien auf Ibiza gerügte H. C. Strache hier insofern entlastet wird, als sich ja zeigt, dass es sich hier keineswegs um Phantasien gehandelt hat und dass die Entscheidungsgewalt von Politikers selbstverständlich verschiedene Gelegenheiten bietet, bei diesen Entscheidungen auch auf den persönlichen Vorteil zu achten. Es verhält sich also keineswegs so, wie Van der Bellen nach dem Ibiza-Video behauptet hat, als er sagte: „Wir sind nicht so!“

Dass „wir“ so nicht seien, gilt zumindest nicht für die politische Elite, das zeigt sich im Fall der ÖBAG nicht zum ersten und gewiss auch nicht zum letzten Mal – und das weiß auch jeder; nur zugeben darf man es nicht, sich dabei erwischen lassen darf man nicht. Und dies ist nur deswegen so, weil es bei allem unausgesprochenen oder inoffiziellen Wissen um solche Verhältnisse den Bürgern anscheinend ein Anliegen ist, an dem schönen Schein der bürgerlichen Herrschaft festzuhalten, dass diese allen Bürgern diene, wenn auch keiner genau anzugeben wüsste, wozu. Es ist so, als würden die durchschnittlichen Bürger die Hoffnung hegen, dass es in Wirklichkeit doch nicht so schäbig zugehe, wie sie andauernd befürchten, dass sie doch nicht nur willige Knechte wären. Umso größer ist daher die Aufregung, wenn diese Hoffnung wieder einmal zunichte gemacht worden ist, obwohl man sich schon die Frage stellen könnte, was z. B. an einem Folterer weniger schlimm ist, wenn er diese Folter nicht zu seiner eigenen Befriedigung durchführt, sondern allein zu dem Zweck, belastbares und leistungsfähiges Personal heranzubilden. Warum sollte man keinen Einwand gegen eine Herrschaft vorbringen können, wenn niemand von dieser einen Nutzen hat? Das wäre doch die absurdeste Form einer Herrschaft, in der alle Menschen nur Knechte sind. Darauf können nur Menschen Wert legen, die sich auf diese Weise damit abfinden wollen, dass sie Knechte sind. Einen schönen Schein hat für diese die bürgerliche Herrschaft also dann, wenn es zumindest dem Anschein nach keine Herren gibt, die sich dieser Herrschaft zu ihrem persönlichen Vorteil bemächtigen. Daher sind das Entsetzen und der Skandal immer groß, wenn dieser schöne Schein sich als die Illusion entlarvt, deren die Bürger gleichwohl zu bedürfen scheinen. Das mit der Auflösung dieses Scheins verbundene Eingeständnis, dass sie nichts weiter als dem Staat unterworfene Knechte sind, die sich in den ihnen auferlegten Rechten und Pflichten bewähren dürfen und müssen, ist ihnen offensichtlich unerträglich und nicht zumutbar.

Auch die Personen in Machtpositionen scheuen davor zurück, vor den übrigen Bürgern ganz offen zu bekennen, dass diese Macht natürlich ihrem Vorteil dient, dass sie also die der Staatsgewalt unterworfenen Bürger ganz selbstverständlich als nützliche Idioten betrachten. Sie wollen vielmehr den Interessensgegensatz verbergen, der nun einmal zwischen Herren und Knechten besteht, denn sonst würde zwischen ihnen offene Feindschaft und damit ein permanenter Kriegszustand bestehen. Daher legen sie Wert darauf, dass ihnen erstens ihre besonderen Fähigkeiten ihre Führungspositionen einbringen, also der berechtigte Lohn für die Leistungen seien, die sie erbringen würden; zweitens pflegen sie deswegen den Anschein, dass ihre Leistungen im Dienst an jenen Menschen bestehen würden, deren Dienste in Wirklichkeit sie in Anspruch nehmen, wenn sie diese auf die Selbstbehauptung als Privateigentümer festlegen. Weil beiden Seiten die heuchlerische Pflege dieses Scheins ein solches Anliegen ist, stellt es immer wieder einen Skandal dar, wenn dieser Schein als Heuchelei entlarvt wird. Schließlich kann man so als normaler Bürger nicht mehr darauf hoffen, durch eigene Leistungsfähigkeit in die Chefetagen vorzudringen, sondern man muss zerknirscht und verbittert zur Kenntnis nehmen, dass dies von den persönlichen Beziehungen abhängt. Und das ist ein schwerer Schlag für Personen, die an der bürgerlichen Gesellschaft nur das auszusetzen haben, dass ihnen der Erfolg darin verwehrt bleibt, darüber hinaus jedoch nichts dagegen einzuwenden wüssten, dass die bürgerliche Konkurrenz die Bürger in Sieger und Verlierer scheidet.


[1] Der skandalumwobene Herr Kickl,15. 2. 2019, https://lektoratsprofi.com/2019/02/15/der-skandalumwobene-herr-kickl/, aufgerufen am 6. 4. 2021

[2] Griss: „Die Frage ist: Müssen die Kinder dafür einstehen?“, 5. 2. 2021, https://www.diepresse.com/5933085/griss-die-frage-ist-mussen-die-kinder-dafur-einstehen, aufgerufen am 6. 4. 2021

[3] ZIB 2 Leiterin Griss zur Kindeswohlkommission Do., 4. 2. 2021, https://www.youtube.com/watch?v=56GqPac0pkQ, aufgerufen am 6. 4. 2021

[4] https://kontrast.at/thomas-schmid-chats/, aufgerufen am 8. 4. 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*