„Angriffskrieg“ – zur Karriere eines Pleonasmus

Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, ist es für schlichte Gemüter keine Frage, dass Russland für diesen Krieg verantwortlich ist. In der Rede von Russlands „Angriffskrieg“ soll daher dessen schuldhaftes Verhalten so deutlich gemacht werden, dass noch dem größten Einfaltspinsel klar sein möge, wer der „Böse“ ist. Niemand stellt sich die Frage, wie denn ein Krieg anders als durch den Angriff der einen Gewalt auf eine andere zustande kommen sollte. In einem Krieg wird angegriffen, was denn sonst. Von einem „Angriffskrieg“ zu sprechen, stellt daher einen Pleonasmus dar wie die Rede von einem „weißen Schimmel“ oder einem „schwarzen Rappen“. „Neu renoviert“ ist auch eine sich zunehmender Beliebtheit erfreuende Schöpfung dieser Art.

Wäre der Gegner nicht zu Widerstand fähig, müsste der Angreifer gar nicht gegen ihn Krieg führen, sondern würde diesen einfach seiner Gewalt unterwerfen. All dies ist bekannt, dennoch wird allgemein in der westlichen Öffentlichkeit von Russlands „Angriffskrieg“ gesprochen, weil sich so jeder Einwand gegen die Unterstützung des Angegriffenen verbieten soll. Durch diesen Krieg sei die mustergültige Friedensordnung unter dem Schutz der NATO gebrochen worden, in der es jedem Staat freistehe, wie er seine Interessen zu behaupten versuche. Es sei daher überhaupt kein Einwand vorstellbar, wenn ein Staat sich dafür entscheide, der NATO beizutreten, die Ukraine kämpfe somit für das Recht jedes Staates, seine eigene Zukunft selbst zu bestimmen, wie uns Annalena Baerbock[1] erklärt. Die Mitgliedschaft in der NATO, das hört sich so unschuldig und harmlos an, schließlich soll es ja nur der Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis sein. Auch dafür, dass jeder Staat sich frei für einen Beitritt zur NATO entscheiden könne, sei die Unterstützung der Ukraine im „Verteidigungskrieg“ gegen Russland notwendig, um diesen Staat bei seinem „Angriffskrieg“ so sehr zu schädigen, dass er zu militärischen Interventionen solcher Art zukünftig nicht mehr in der Lage ist.

Menschen, die angesichts populistischer Kritik sich darüber beklagen, dass einfach gestrickte Leute einfache Lösungen für schwierige Probleme verlangen würden, haben überhaupt kein Problem mit einfachen Vorstellungen über das „böse“ Russland und die „unschuldige“ Ukraine. Auch die Selbstdarstellung westlicher Angriffe als „Verteidigungskriege“ ist diesen Leuten keiner Kritik würdig, die sich doch als standfeste Kritiker begreifen, denen ein Autokrat wie Putin nichts vormachen könne. Der damalige Außenminister Joschka Fischer forderte und bekam 1999 die Bombardierung Serbiens, um angeblich einen Genozid im Kosovo zu verhindern; wenn Russland behauptet, einen Genozid in der Ostukraine zu verhindern, gilt das natürlich nur als dreiste Lüge oder als Verfolgungswahn. Angriffe der USA auf Afghanistan oder den Irak? Da wurden doch nur arme unschuldige Menschen von den Taliban oder von Saddam Hussein befreit, solch hehre „Befreiungsaktionen“ sind doch keine „Angriffskriege“! Eine Flugverbotszone der NATO in Libyen zur Beseitigung von Gaddafi? Wo der Westen zuschlägt, kann sich jeder sicher sein, dass es das Böse trifft. Und wo das Böse angegriffen wird, kann man den Guten doch keinen „Angriffskrieg“ vorwerfen, zumal sie solchen Vorwürfen durch ihre überlegene Kriegsführung mit den dadurch schnell erreichten Siegen rasch jede Grundlage zu entziehen vermögen. Wer bald für klare Gewaltverhältnisse zu sorgen weiß, der hat eben keinen „Angriffskrieg“ mehr nötig!

Man kann doch keinem Land verbieten, Mitglied der NATO werden zu wollen! Schließlich soll jeder Staat selbst entscheiden dürfen, wie er seine Interessen am besten zur Geltung bringt. In der Ukraine war sich die politische Führung lange nicht klar darüber, dass ein Anschluss an EU und NATO ihre beste Option wäre. Hier mussten westliche NGOs und Geheimdienste bei der Entscheidungsfindung helfen, indem sie Proteste gegen Wahlentscheidungen schürten, im Fall der Ukraine waren das die besonders „liebenswerten“ orangefarbenen Revolutionen. Weil das immer noch nicht genug war, wurde die Hilfe 2014 mit dem Putsch in Kiew gekrönt. Der war natürlich lupenrein demokratisch, weil durch faschistische Prügelknaben die Abstimmung geschützt wurde, die für die Einsetzung einer prowestlichen Staatsführung sorgte. Ab nun hätte auch dem einfältigsten Ukrainer klar sein sollen, dass die Zukunft der Ukraine nur in der Einbindung in die westliche Herrschaft liegen könnte, da sie im gegenteiligen Fall den Schaden hätte tragen müssen, den ihr die netten „Herrschaften“ der Weltordnung sonst zu bereiten gewusst hätten. Wären da nur nicht die störrischen Ostukrainer mit ihrer prorussischen Haltung! Diese wollen offensichtlich nicht die Mitgliedschaft in der EU als die große Chance erkennen, die vor allem jungen Menschen der Westukraine darin sehen, weil sie dann in führende Staaten der EU auswandern und dort ihre Karriere verfolgen wollen. Seither gibt es die Spaltung der Ukraine in einen russenfeindlichen Westen und einen prorussischen Osten.

Diese scheinbar so harmlose und selbstverständliche Rede von der freien Selbstbestimmung der Nationen, denen es freistehe, sich der EU und der NATO anschließen zu wollen, hat es in sich. Nebenbei bemerkt beruft sich auch Donald Trumps viel gescholtenes „America first“ auf ebendiese Freiheit nationaler Souveränität. Will ein Staat wie die Ukraine sich den Bündnisangeboten führender Nationen verschließen oder sich gar deren Politik widersetzen, hat dieser natürlich die Konsequenzen zu tragen, und das hat durchaus den Gehalt einer Erpressung. Ob eine Nation wirklich den erhofften nationalen Erfolg dadurch erreicht, ist eine andere Frage, dass sie ihn mit einer alternativen Politik aber sicher nicht erreicht, dafür versuchen die Führungsmächte dieser Bündnisse zu sorgen. Wenn westliche Politikerinnen wie Baerbock eine NATO-Mitgliedschaft als harmlose Selbstbestimmung einer Nation darstellen, so könnte man genauso gut die Beschaffung von Kolonien als Selbstbestimmung hinstellen. Imperialismus besteht heutzutage allerdings nicht in der Beschaffung von Kolonien zur exklusiven Verwertung einer Kolonialmacht. Eine der Stärke ihres Kapitals bewusste Nation will auf die ganze Welt zugreifen und setzt dafür ihre Weltordnung durch. Diesem Zweck dienten die vorhin erwähnten „Angriffskriege“ der USA und der NATO, die kein Mensch so nennen will, weil ja niemand Imperialismus darin sehen will, wenn dort Freiheit, Demokratie und Menschenrechte durchgesetzt werden. Da spricht auch niemand von Ethno- oder Eurozentrismus, auch wenn diese Begriffe sonst bei jeder unpassenden Gelegenheit in Gebrauch sind. Diese „Werte“ gelten als unantastbar, als das Gute, Wahre und Schöne, an dem keinerlei Kritik vorstellbar ist, obwohl ein etwas genauerer Blick auf die Bestimmungen der Menschenrechte für diese Auffassung nicht sehr hilfreich sein dürfte.

Jeder Nation steht es also frei, sich der Weltordnung der Weltmächte zu unterwerfen und im Falle der Ukraine als Frontstaat gegen Russland Karriere zu machen, das sich nicht in die Rolle fügen will, die für diesen Staat in dieser Weltordnung vorgesehen ist, nämlich am besten als Rohstofflieferant, dessen wirtschaftliche Entwicklung vom Bedarf der führenden kapitalistischen Nationen abhängig ist. Um Russland wirtschaftlich zu schwächen, wurde die Ukraine zunächst umworben und wurden die Gegner einer auf Russland ausgerichteten Politik gefördert, schließlich ihr Putsch geschürt und unterstützt. Gegen eine Ukraine, zu deren Staatsräson Russenfeindschaft gehört, führt Russland nun seinen „Angriffskrieg“, der hier im Unterschied zu den oben erwähnten Fällen auch entsprechend bezeichnet wird. Damit auch noch der letzte Idiot begreift, wer hier der Böse ist, wird zugleich das Bild einer von Verblendung beherrschten russischen Führung gezeichnet, die jeden Widerspruch mit rücksichtsloser Gewalt im Keim ersticken würde. Da ist es ganz egal, was für Vorstellungen russische Oppositionelle verfolgen mögen, ihre Feindschaft zum „Autokraten“ Putin setzt sie prinzipiell ins Recht und macht sie zu „unseren“ Verbündeten. Dieselben Menschen, die sich hierzulande als Querdenker brüsten und als „Schwurbler“ belächelt werden, sind sofort als Freiheitshelden willkommen, wenn ihr Gegner eine Staatsmacht ist, die sich nicht der westlich bestimmten Weltordnung fügen will. Deren „Werte“ gelten als vorbildlich, genauso wie zu Zeiten des Kolonialismus das Christentum, mit dem die „Heiden“ in den Kolonien beglückt wurden.

All diese Einwände werden an dem Mantra vom „Angriffskrieg“ nichts ändern, dessen sich Russland schuldig mache, zumal es ja nicht die Fähigkeit von USA und NATO besitzt, diesen schnell zu gewinnen. Das ist auch nicht erstaunlich, denn mit Ausnahme des direkten Einsatzes eigener Soldaten im Kampf sind diese mit der Ukraine an der Front der Gegner von Russland. Allerdings ist auch Russland nicht so schwach wie Husseins Irak und so werden wir Zeugen eines langwierigen Krieges, in dessen Folge die NATO eine nachhaltige Schwächung Russlands zu erreichen hofft. Aber das gilt ja als gut und recht bei einem Subjekt, das einen „Angriffskrieg“ zu verantworten hat. Bei gegnerischen Herrschaften können sich kritisch wähnende Geister gar nicht einkriegen, da ist Zerstörung angesagt und von der Kritik wird auch keinerlei „Konstruktivität“ gefordert. An der eigenen Herrschaft hat so ein kritischer Journalist daher auch höchstens auszusetzen, dass sie nicht konsequent durchgesetzt wird.[2] Welch immenser Unterschied zur verpönten faschistischen Herrschaft!


[1] https://www.youtube.com/watch?v=MbCho00uj1c, aufgerufen am 10. 10. 2022

[2] Hierzu empfehle ich folgenden künstlerischen Beitrag: https://www.youtube.com/watch?v=aeoFzb1ZyB8, aufgerufen am 10. 10. 2022

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