Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen – Bemerkenswerte Einsichten zum Zusammenhang von Nationalismus und Demokratie

Wien, 6. 11. 2019

Julien Bendas Untersuchung der Veränderungen in der Haltung der Intellektuellen entstand zwischen den beiden Weltkriegen. Als Verrat der Intellektuellen gilt ihm deren Abkehr von einer Wissenschaft, die allein der theoretischen Neugier folgt, ohne nach deren praktischem Nutzen zu streben. Diese Haltung habe früher bewirkt, dass die Intellektuellen sich von den politischen Auseinandersetzungen fernhielten oder den herrschenden Verhältnissen widersprachen, während sie nun diesen dienen würden. Zu dieser Veränderung habe auch beigetragen, dass Intellektuelle es sich nicht mehr leisten könnten, auf eine bürgerliche Karriere zu verzichten, dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft also auch sie erreicht hatte. In der Renaissance dagegen sahen sich Intellektuelle als Mitglieder einer Weltrepublik der Gelehrten, da sie auch keine Veranlassung gehabt hätten, die Ansprüche einer Nation zu adeln, nachdem Nationen erst ansatzweise herausgebildet waren.

Man könnte sich natürlich auch fragen, ob die bis zu diesem vermeintlichen Verrat geltende Hingabe an die Ideale der Wissenschaft nicht bloß eine Heuchelei oder einen Selbstbetrug darstellte, womit nun Schluss gemacht wurde. Die unmittelbare Affirmation der politischen Herrschaft, in der Benda den Verrat der Intellektuellen erblickt, ist den früheren Standesgenossen allerdings wirklich nicht vorzuwerfen. In seiner Kritik der nationalen Ergebenheit seiner intellektuellen Zeitgenossen gelangt Benda darüber hinaus zu Einsichten, die es angesichts gegenwärtiger Zeugnisse fundamentaler Unbildung verdienen, wieder ins Gedächtnis gerufen zu werden. So weist er auf eine Unverschämtheit hin, die heutzutage unter Journalisten aller politischen Lager weit verbreitet ist, wenn man etwa an deren Haltung gegenüber sogenannten politischen „Störenfrieden“ wie Russland oder China denkt. Die von ihm mit dem französischen Begriff „Clercs“ bezeichneten Intellektuellen seiner Zeit beherrschten diese Unart ebenso und behaupteten, „die Kleinen müßten zwangsläufig die Beute der Großen werden, das sei das Gesetz dieser Welt, und wer die Kleinen auffordert, sich ihm zu widersetzen, der sei der wahre Störer des Friedens“.[1] Wie Benda treffend bemerkt, müsste man dann auch der Auffassung sein, „daß die Alliierten die wahren Verantwortlichen des Ersten Weltkriegs waren, weil sie es 1914 nicht verstanden hatten, Serbien davon zu überzeugen, daß es seine Pflicht war, sich von Österreich verschlucken zu lassen“.[2] Heutzutage vertreten die Medien diesen Standpunkt vor allem gegen Russland, aber auch gegen kleinere Staaten wie Venezuela, das von den USA für die Anmaßung bestraft wird, deren Weltordnung für eine Politik zu benutzen, deren Zweck sich nicht darin erschöpft, den Interessen der USA zu dienen.

Auch eine andere Dummheit kritisiert Benda, die vor allem Linke in ihrer widersinnigen, weil der Kritik des Nationalismus widersprechenden Begeisterung für nationale Befreiungsbewegungen betrifft. So wendet er sich gegen jene, die meinen, „es scheine ihnen wenig gerecht, einem jungen Staate Beutezüge verbieten zu wollen, die seine Vorgänger fett gemacht haben. Als ob es nicht darauf ankäme, mit diesen Urwaldsitten Schluß zu machen, die bis auf den heutigen Tag das zwischenstaatliche Leben bestimmen.“[3] Heutzutage geht dies ja so weit, dass es die Forderung gibt, man müsse Palästinensern die Leugnung des Holocaust gestatten, weil dies ein Ausdruck ihres Widerstandes gegen den Herrschaftsanspruch Israels sei. Ich zitiere hierzu aus meinem Buch über den an allen Orten blühenden Hass: „Den Vogel hat hier Gilbert Achcar abgeschossen, der zwar selbst nicht den Holocaust leugnet, diese Leugnung aber den Arabern gestatten will. Hier seine atemberaubende Begründung: ‚Sollte man nicht zwischen einer Leugnung, die von Unterdrückern kommt, und einer Leugnung aus den Mündern der Unterdrückten einen Unterschied machen, so wie der Rassismus der herrschenden Weißen vom Rassismus der unterdrückten Schwarzen zu unterscheiden ist?‘“[4] Es gebe demnach wohl so etwas wie revolutionären Rassismus und Imperialismus. Weniger vom Verrat, als vom geistigen Verfall der Intellektuellen müsste man angesichts solcher Tatsachen sprechen.

Der Hass zwischen Nationen ist laut Benda eine neuere Entwicklung. Während in früheren Zeiten auch bei langen Kriegen nationalistischer Hass kaum eine Rolle gespielt habe, genüge es nun, „allmorgendlich eine beliebige Zeitung aufzuschlagen, um festzustellen, daß die politischen Haßgefühle keinen Tag ruhen“.[5] Dies sei durch die „Kondensierung der politischen Leidenschaften zu wenigen, sehr schablonisierten Haßgefühlen“[6] zu erklären, die auf der Veränderung der Einstellung des einfachen Volkes zur Nation beruhen: „Bestand das Nationalgefühl früher, als es noch fast ausschließlich von Königen und Ministern empfunden wurde, hauptsächlich in der Wahrung bestimmter Interessen (Befriedigung territorialer Gelüste, Suche nach kommerziellen Vorteilen und gewinnbringenden Allianzen), so besteht es heute, da es (zumindest kontinuierlich) im Volk empfunden wird, zum größten Teil in der Bekundung eines Stolzes.“[7] Noch der Großteil des 19. Jahrhunderts war z. B. in der Steiermark „geprägt vom Honoratiorencharakter der Politik; das Interesse an ihr und das Engagement für sie blieb einer kleinen Elite gebildeter, wohlhabender Bürger vorbehalten“.[8] Den Volksmassen war die Nation gleichgültig, man war sich dessen bewusst, dass die herrschenden Gewalten nicht zum allgemeinen Nutzen eingerichtet waren. Die Leute leisteten zwar ihre Abgaben für die Obrigkeit, jedoch nicht in dem Glauben, dass diese letztlich dem allgemeinen Wohl dienen, also ihnen wieder zugutekommen würden. Auch für militärische Belange ließen sich die sogenannten „kleinen Leute“ einspannen, sei es durch Zwang oder als Söldner, es gab aber keinen nationalistischen Hass auf den Gegner, der auch nicht als Repräsentant einer verachtenswerten Kultur galt.

Mit der Idee der Demokratie ist das Bewusstsein über den Gegensatz von Obrigkeit und Untertan verloren gegangen, zumal die Demokratie ja auch den Anspruch erhebt, diesen Gegensatz zu beseitigen. Nun meinen auch Menschen einen Nutzen aus der Vormachtstellung ihrer nationalen Herrscher zu haben, bei welchen man diesen genauso wenig zu erblicken vermag wie zu jenen Zeiten, als es hierzu keine Illusionen gab. Dieses Interesse an der politischen Herrschaft hat auch damit zu tun, dass im Kapitalismus deren Entscheidungen unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Im Feudalismus hatte es kaum Folgen für das Leben der Bauern, was die Herrschaft mit den Erträgen, die sie abzuliefern hatten, machte. Wenn überhaupt, so waren die Auswirkungen des herrschaftlichen Handelns für die Bauern negativ, wenn etwa Kriege oder Kriegsniederlagen dazu führten, dass sie mehr Güter an die Herrschaft liefern mussten, auch wenn sie dabei zu verhungern drohten. Davon abgesehen, war die Lebenserhaltung der Bauern jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sofern ihre Herrschaft sich auf keine politischen Abenteuer einließ, begnügte sie sich mit dem Konsum dieser Überschüsse und musste sich nicht gegen konkurrierende Landesherrn auf einem Markt behaupten. Die Realität eines kapitalistischen Lohnarbeiters sieht hier ganz anders aus. Dessen Existenz ist abhängig davon, dass das Kapital erfolgreich ist, das seine Dienste in Anspruch nimmt, und selbst dieser Erfolg ist keine Garantie dafür, dass er weiterhin verwendet und bezahlt wird. Da der Erfolg des Kapitals auch von den Maßnahmen des Staates abhängt und der Staat zudem die damit einhergehende Armut verwaltet, interessieren sich nun auch die „kleinen Leute“ für die politische Gestaltung. Dass ihr Nutzen dabei immer von untergeordneter Bedeutung sein wird, bleibt manchen auch nicht verborgen. Diese werden dann als „politikverdrossen“ bezeichnet, andere versteigen sich nur noch mehr in Wahnvorstellungen darüber, wie sie „ihrer“ Nation zum Erfolg verhelfen könnten. Es lässt sich also festhalten, dass die unmittelbare Abhängigkeit bürgerlicher Existenz von den Zielen der politischen Herrschaft dazu führte, dass sich normale Bürger für deren Anliegen interessierten, während diese den Bauern des Feudalismus gleichgültig waren, die auch nicht permanent deren Auswirkungen zu bewältigen hatten.

In ihrer Begeisterung für die Durchsetzung „ihrer“ Nation sind die Bürger schnell für Kriege zu haben und diese Kriege werden mit Erbitterung und Hass geführt, da sie darauf aus sind, die gegnerische Nation zur Gänze in die Knie zu zwingen. Sie haben daher nicht mehr ihr Maß in den oben erwähnten Kriegszielen der Eroberung eines Territoriums oder der Durchsetzung kommerzieller Vorteile. Die Konflikte drehen sich nicht mehr ausschließlich um bestimmte Interessen, sondern sie werden zu grundlegenden nationalen Konflikten überhöht, wie Benda nicht müde wird zu betonen: „Das Nationalgefühl ist, indem es volkstümlich wurde, vor allem zu Nationalstolz und nationaler Empfindlichkeit geworden. Um zu ermessen, wieviel es dadurch an reiner Leidenschaftlichkeit, an totaler Irrationalität und folglich an Kraft gewonnen hat, braucht man nur an den Chauvinismus zu denken, jene recht eigentlich erst von den Demokratien erfundene Form des Patriotismus.“[9]

Diese Erkenntnisse erweisen Kants Hoffnung als Illusion, dass mit der Demokratie die Kriege ein Ende haben würden, weil nun jene darüber entscheiden könnten, die die Folgen kriegerischer Handlungen zu erleiden hätten: Da die Bürger in einer Demokratie „alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen)“, würden sie sich nämlich „sehr bedenken (…), ein so schlimmes Spiel anzufangen“.[10] Ein Fürst hingegen würde, da er nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer sei, „an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das mindeste“ einbüßen und „diesen also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen“.[11] Die Vorstellung, dass Fürsten in Kriegen nicht ihre Herrschaft riskieren und zumindest einiges an ihren Schlössern einbüßen könnten, ist ja ohnehin an Albernheit kaum zu überbieten. Viel schwerer wiegt jedoch, dass Kant den mit der Demokratie heraufbeschworenen Nationalismus nicht zu erkennen vermochte, der sein Maß eben nicht mehr im Nutzen des Fürsten hat, der seine wirtschaftliche und politische Macht vergrößert. Nun, wo der Nutzen nationaler Herrschaft dank demokratischer Agitation für die Nation nicht mehr einer politischen Elite vorbehalten scheint, sondern jeder etwas davon zu haben glaubt, verhält es sich laut Benda so, „daß dieses nationale Ressentiment den Staatschefs ein neues und sicheres Mittel bietet, Kriege je nach Bedarf vom Zaun zu brechen“.[12] Da muss man wohl noch von Glück sprechen, wenn sie dies nicht nach Art einer „Lustpartie“ machen …

Abschließend ist noch festhalten, dass Bendas Klage über den Verrat der Intellektuellen Ähnlichkeiten mit Pasolinis Klage über die Auflösung einer eigenständigen proletarischen Kultur aufweist. Die Verbürgerlichung der Intellektuellen hat dazu geführt, dass sich diese nicht mehr als Widerspruch zur politischen Herrschaft verstanden, sondern sich dieser anbiederten und ihr nützlich sein wollten. Die Kultur einer Weltrepublik der Gelehrten war damit ebenso zu Ende gegangen wie die Kultur des städtischen Subproletariats, unter dem Pasolini in den 1950er-Jahren in Rom lebte. Dieser bedauerte, dass dieses Subproletariat, wie er es nannte, ein Jahrzehnt später auf bürgerliche Karrieren zu spekulieren begann und jenen bürgerlichen Charaktermasken nacheiferte, für die es davor nur Spott und Hohn übrig hatte. Alle diese Entwicklungen lassen sich mit der Durchsetzung bürgerlicher Herrschaft in allen gesellschaftlichen Bereichen erklären.

Auch André Glücksmanns Kritik der Meisterdenker ist als Fortsetzung von Julien Bendas Kritik der Intellektuellen zu begreifen – beide würden sich allerdings auch den Vorwurf einhandeln, einen abstrakten Intellektualismus zu predigen, der sich leicht damit tut, seine Ideale hochzuhalten, da er ja nicht in die Verlegenheit kommt, sich praktisch bewähren zu müssen, dies vielmehr als Zumutung zurückweist.


[1] Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, Kindle E-Book, Mainz 2013, Positionen 314 f.

[2] Ebenda, Positionen 320–322

[3] Ebenda, Positionen 331–333

[4] Hass – Opium der Völker: Rechte und linke Ideale im Kampf um die bürgerliche Gesellschaft, Wien 2018, S. 67

[5] Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, a. a. O., Positionen 1498 f.

[6] Ebenda, Positionen 1509 f.

[7] Ebenda, Positionen 1572–1575

[8] Martin Moll: Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918, Wien/Graz/Klagenfurt 2014, S. 27

[9] Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, a. a. O., Positionen 1580–1583

[10] Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Kant-Werke, Bd. 11, S. 205 f.

[11] Ebenda, S. 206

[12] Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, a. a. O., Positionen 1593 f.

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