Freiheit und Verbürgerlichung

Wien, 12. 6. 2023

In der Literatur linker Autoren ist immer wieder von einer Studie aus den 1970er-Jahren die Rede, die Paul Willis über englische Arbeiterjugendliche durchgeführt hat. Der englische Titel dieser Untersuchung lautet Learning to Labour, die Herausgeber der deutschen Übersetzung haben sich für den auffälligeren Titel Spaß am Widerstand entschieden. Die Arbeiterjugendlichen leisten nämlich Widerstand gegen das Angebot der Schule, durch eine bessere Ausbildung an bessere Jobs heranzukommen, denn sie verachten intellektuelle Arbeit als schwul und betrachten umgekehrt ihre schwere körperliche Arbeit als männlich. Indem sie bürgerliche Karriereangebote ablehnen, würden sie sich zur Subalternität verurteilen und genau die ungelernten, mühsamen und schlecht bezahlten Arbeiten erhalten, die für sie vorgesehen sind. Der Untertitel der englischen Ausgabe dieser Studie lautet daher „How Working Class Kids get Working Class Jobs“.

Es ist allerdings fraglich, ob sich diese Jugendlichen erst dadurch dazu verurteilen, die Jobs zu erhalten, die für sie vorgesehen sind. Spricht es nicht vielmehr für ihre Illusionslosigkeit, dass sie sich nichts vormachen und gar nicht erst versuchen, eine bürgerliche Karriere anzustreben? Was würde denn passieren, wenn sie alle eine bessere Ausbildung erlangen würden, danach aber auch keine anderen Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung stünden als davor, weil sich nun ein Ausbildungsstand verallgemeinert hat, den davor nur wenige erreicht hatten? Das Resultat wäre dann jener triste Bäckerjunge, den Pasolini in den Freibeuterschriften geschildet hat. Dieser zog früher in zerlumptem Gewand pfeifend und scherzend seine Runden, schämte sich seiner Bekleidung jedoch keineswegs, sondern verarschte mit anarchistischem Humor die reiche Kundschaft: „Der Welt des Reichtums hatte er seine Welt, mit eigenen Werten, entgegenzusetzen.“[1] Es ist jene Welt kleiner Landarbeiter und Bauern, welche die Brüder Taviani in ihrem Firm „Kaos“[2] schildern, die Welt der Cabiria in Federico Fellinis Film „Die Nächte der Cabiria“ oder auch jene in Peter Roseggers Romanen und Erzählungen, die Pasolini den Heilsversprechen des Warenkonsums entgegensetzt. Der langhaarige und schnauzbärtige Bäckerjunge der neueren Zeit trägt hingegen seinen Plastiksack mit kleinbürgerlichem Ernst durch die Gegend, denn „diese Jugendlichen sind traurig, weil sie – nachdem ihre Werte und ihre kulturellen Modelle zerstört wurden – sich ihrer kulturellen Unterlegenheit bewußt geworden sind“.[3] War ihnen früher bürgerlicher Erfolg egal, so ist er ihnen nun wichtig und sie leiden darunter, dass er ausbleibt: „Die solchermaßen gedemütigten Jugendlichen aus dem Subproletariat radieren aus ihren Personalausweisen die Bezeichnung ihres Berufs aus und ersetzen sie durch die Angabe ‚Student‘.“[4]

Die von Pasolini am Beispiel des Bäckerjungen geschilderte Entwicklung würde wohl auch auf die Arbeiterjugendlichen von Paul Willis zutreffen, wenn diese bürgerliche Karrieren anstreben und dann trotz ihrer besseren Ausbildung wieder auf jenen Arbeitsplätzen landen, die sie schon davor erhalten hatten. Zu den schlechten Jobs käme dann noch das Gefühl des Scheiterns hinzu, während sie davor ihre Arbeit immerhin als Kennzeichen ihrer Männlichkeit schätzten. Es mag zwar sein, dass diese Absage an bürgerlichen Karrierismus eine unzureichende Form des Widerstands darstellt, weswegen aber die Orientierung auf höhere Bildung hier vorzuziehen sei, ist nicht nachvollziehbar, stellt diese doch vielmehr das Bestreben dar, sich in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich einzurichten, ist also alles andere als eine Form des Widerstands. Es wird ja wohl kaum so sein, dass sie aufgrund ihres Strebens nach einer besseren beruflichen Ausbildung Karl Marx lesen wollen oder müssen.

Ebenso wenig wie die Forderung einer „besseren“ Bildung wird das Verlangen nach mehr Freiheit zu einer vernünftigen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft führen. Wer mehr Freiheit fordert, wird schnell zu hören bekommen, dass es nur an ihm liege, wenn er aus seiner Freiheit nichts zu machen verstehe, und das vollkommen zu Recht, schließlich ist genau das der Inhalt von Freiheit, dass niemand zu einer Arbeit gezwungen wird, sondern sich selbst darum bemühen muss, eine Arbeit zu finden, für die er bezahlt wird. Wer mehr Freiheit im Zugriff auf gut bezahlte Arbeit oder wer mehr Umverteilung fordert, gilt als jemand, der die anderen Bürger zwingen wolle, sich seinen Interessen zu unterwerfen. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, man könne die Forderung nach Freiheit aus ihrer bürgerlichen Hülle herauslösen und zu einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nutzen, auch wenn sich die Bürger mit falschen Vorstellungen von ihrer Freiheit immer wieder als Störung bemerkbar machen. Zu mehr als zur Klage über den vermeintlichen Missbrauch der Freiheit durch andere Bürger oder den Staat bringen sie es in ihren Beschwerden konsequenterweise nicht und sehen sich daher umgekehrt mit derselben Anklage konfrontiert. Wer daher die Freiheit wegen ihrer allgemeinen Wertschätzung für seine politischen Ziele einzusetzen und sich auf die Fahnen schreiben zu können hofft, wird nicht mehr erreichen, als das Rechtsbewusstsein der Bürger anzurufen, das sich auch in deren rechtsradikalen Unmutsäußerungen zeigt, ohne dass Linke deswegen sofort von diesen begeistert wären, nur weil sie sich als Störung der bürgerlichen Ordnung erweisen.

Wenn also der Widerstand britischer Arbeiterjugendlicher bei aller Störung zumindest für die Schule des bürgerlichen Staates nicht ausreicht, um dessen Herrschaft in Frage zu stellen, sondern sogar eine positive Einstellung zu den für sie vorgesehenen schlecht bezahlten Jobs offenbart, so trifft das auf Freiheitsvorstellungen der Bürger ebenso zu, selbst wenn auch diese immer wieder zu Störungen im bürgerlichen Getriebe führen können. Auch mit ihren Urteilen über Freiheit nehmen die Bürger eine positive Haltung zu der Nötigung ein, die mit ihrer Freiheit verbunden ist. Nach der Logik der Linken, dass an die Freiheitsvorstellungen der Bürger anzuknüpfen sei, weil sie dem Staat die Einschränkung ihrer Freiheit vorwerfen, müsste man auch den Stolz der Arbeiterjugendlichen auf ihre Fähigkeiten das Anpackens und der darin offenbarten männlichen Stärke affirmieren, weil sich auch darin Widerstand zur herrschenden Ordnung zeigt. Anders gesagt: Die Freiheit hochzuhalten, ist genauso ungeeignet zur Entwicklung eines revolutionären Denkens, wie es der Stolz der Arbeiterjugendlichen auf ihre Belastbarkeit bei schwerer körperlicher Arbeit ist. Mit ihrem Stolz auf ihre Freiheit integrieren sich die Bürger genauso in in die bürgerliche Gesellschaft wie die britischen Arbeiterjugendlichen mit ihrem Stolz auf ihre Fähigkeiten zur Verrichtung schwerer körperlicher Arbeit.


[1] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1981, S. 38

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kaos_(Film), aufgerufen am 12. 6. 2023

[3] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, a. a. O., S. 38

[4] Ebd., S. 30 f.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*