Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“

Wien, 8. 2. 2021

Imperialistische Leichenberge und haltlose „Querdenker“

Wenn es um die Leichenberge geht, die für die imperialistischen Ambitionen einer Nation immer wieder einmal fällig sind, denkt man üblicherweise zunächst an den Holocaust. Dieser soll sich ja dadurch hervorheben, dass er besonders konsequent eine zum Feind erkorene Menschengattung eliminieren wollte und daher eine besonders hohe Anzahl an Leichenbergen produziert habe. Nur das Ausmaß der Vernichtung ragt also heraus, womit auch wieder klar ist, dass Leichen sozusagen zum imperialistischen Alltag gehören.

Kaum jemand weiß allerdings, dass sich Hitler in seinen Maßnahmen zur Vernichtung der Juden durch die Türkei ermutigt sah, gegen deren Vernichtung der Armenier während des Ersten Weltkriegs ja auch kein Einspruch erhoben wurde. Weswegen sollte es also bei ihm anders sein, wenn er nun zur Vernichtung der Juden ansetzte? Dennoch wehrt sich die Türkei bis zum heutigen Tag gegen den Vorwurf, dass es in ihrer Geschichte einen Völkermord an Armeniern gegeben habe. Schließlich seien ja höchstens 300.000 Armenier umgekommen, heißt es da, auch wenn niemand weiß, wer da so genau Buch geführt haben will. Eine solche Anzahl von Toten sei jedoch ganz einfach der Tatsache geschuldet, dass eben gerade der Erste Weltkrieg geherrscht habe, und im Krieg würden eben ein wenig mehr Menschen sterben als unter normalen Umständen. Wahrscheinlich wurden die Armenier ja nur deswegen in die Wüste getrieben, weil man sie vor dem Krieg in Sicherheit bringen wollte – was kann denn die türkische Obrigkeit dafür, wenn diese zu dumm sind, Wasser mit sich zu führen!

Solche lächerlichen Einwände werden gegen Kritik an der Ermordung der Armenier vorgebracht. Und gemessen an den vielen Leichenbergen, die eine imperialistische Weltordnung im Laufe einiger Jahrzehnte produziert hat, mag es ja tatsächlich erstaunen, warum ausgerechnet die Türkei einen Genozid zu verantworten habe, die USA jedoch nicht, die im Vietnamkrieg drei Generationen von Vietnamesen vernichtet haben. So gesehen müsste man als Regel des Imperialismus anerkennen, dass dessen Notwendigkeiten schnell einmal kriegerische Interventionen mit entsprechenden Leichenbergen hervorrufen. Man könnte sozusagen feststellen, dass der Imperialismus eine Million Tote pro Jahr frei habe, dass man es ihm nicht kleinlich vorhalten dürfe, wenn für die höheren Notwendigkeiten einer imperialistischen Weltordnung immer wieder einmal eine größere Anzahl von Menschen über die Klinge springen müsse. Schon angesichts der mächtigen Waffenarsenale, die dann zum Einsatz kommen, kann es relativ schnell zu einer größeren Anzahl von Toten kommen, wie ja schon dem Begriff des „Kollateralschadens“ zu entnehmen ist. Dieser lasse sich leider nicht vermeiden, wenn ein Staat seine Interessen wahre. Von Völkermord spricht man daher auch immer nur dann, wenn es einem Staat nicht gelingt, sich gegen andere Staaten zu behaupten. Seine Kriegsniederlage stellt ihn ins Unrecht und dafür taugen dann natürlich Hinweise auf Morde, die kriegstechnisch vielleicht gar nicht notwendig gewesen wären, bestens, um diesen Staat auch moralisch wegen seiner „Kriegsverbrechen“ zu verdammen.

Es gab auch einmal ein Staatenbündnis, dem es natürlich überhaupt nicht zustand, auch nur einen Menschen zur Durchsetzung seiner Zwecke zu beseitigen. Das war natürlich der sogenannte „Ostblock“ des realen Sozialismus. Da wurde noch jeder tatsächlich oder vermeintlich an der Mauer der DDR erschossene Mensch minutiös verbucht, um die „Menschenverachtung“ dieses „Unrecht“-Regimes unter Beweis zu stellen. Aber nicht nur jene Gewalt, die jeder imperialistische Staat als sein selbstverständliches Recht betrachtet, wurde den Staaten des realen Sozialismus zum Vorwurf gemacht. Da genügten schon viel geringere „Vergehen“ – etwa die Inhaftierung von Systemgegnern. Auch diese behalten sich imperialistische Staaten als ihr Privileg vor. In den 1970er-Jahren wurde es daher auch als Verbrechen angeklagt, als die DDR Wolf Biermann die Einreise verweigerte, um sich dieses Querulanten zu entledigen. Dass in diesem Fall einem Menschen der Zugang zum angeblichen „Völkergefängnis“ DDR nicht gestattet wurde, wurde nämlich nicht als dessen Befreiung gefeiert, sondern als „Raub“ seines Rechtes auf Opposition gegen die DDR beklagt.

Heutzutage gefallen sich Oppositionelle vom Schlag eines Wolf Biermann bekanntlich als Querdenker und betrachten ihren Eigendünkel, der sich vor nichts beugt und keinerlei Schranken auferlegen lässt, auch wenn diese noch so vernünftig wären, als Garant kritischen Denkens. Wie man solch dreister Dummheit eines Menschen, der über das Trotzalter nicht hinausgekommen ist, begegnen muss, hat bereits Peter Hacks am Beispiel Biermanns vorgeführt. Auch in diesem Fall war es keine vernünftige Kritik, die Biermann vorzutragen hatte, sondern dieser legte es auf einen Konflikt mit dem Staat geradezu an, um seinem Geltungsdrang zu genügen. „Wenn man sich ungeheuer anstrengte, gelang es einem, mit der Stasi in Knatsch zu kommen, da musste man aber wirklich provozieren und musste man Krieg führen (…)“,[1] stellt Peter Hacks daher fest. Ohne solche Herausforderung habe sich die Stasi der DDR ja damit begnügt, über die Aktivitäten ihrer Bürger Buch zu führen, was ja ganz nützlich sein könnte, denn wenn man sich an irgendeine Begebenheit oder Aussage nicht mehr erinnern kann, hätten da vielleicht die Aufzeichnungen der Stasi hilfreich sein können. Peter Hacks kommentiert daher auch die Überwachungsmaßnahmen der Stasi auf folgende Weise: „Wissen Sie, Autoren sind eitel, die freuen sich, je mehr Leute mitschreiben.“[2] Wolf Biermann aber war das nicht genug, der wollte unbedingt im Mittelpunkt stehen und seine Bedeutung dadurch unter Beweis stellen, dass er die Stasi gegen sich aufbrachte, er „… ist ein Mensch, der für öffentliche Aufmerksamkeit alles tun würde, eingeschlossen seine eigene Hinrichtung. Wenn genug Publikum ist, würde er sie verlangen. Das ist ein pathologischer Geltungssüchtiger.“[3] Hacks hat nun richtig Fahrt aufgenommen und führt den vernichtenden Schlag gegen Biermann: „Dieser Mensch störte jede heitere Geselligkeit. Faschingsfeste bei Fritz Cremer wurden gesprengt von Biermann, welcher, wenn alle Leute unmittelbar vor dem Beischlaf standen, zu seiner Gitarre griff und den Leuten, ohne zu ermüden, stundenlang tragische Lieder vorsang. Der kannte keine Rücksicht. Er singt auch seinem Postboten vor. Er ist grauenhaft. Natürlich sang er auch der Stasi vor.“[4]

Diese erheiternden und treffenden Bemerkungen zu Biermann haben die ach so „kritische“ Presse der sich für ihre Demokratie rühmenden imperialistischen Staaten natürlich nicht davon abgehalten, den Umgang der DDR mit Oppositionellen vom Schlage eines Biermann als Verbrechen hinzustellen, das in seiner „Menschenverachtung“ beinahe einem Genozid gleichzusetzen sei. Auch in unseren Tagen spricht noch jeder Oppositionelle gegen einen Staat, wenn dieser Staat sich als Gegner der hiesigen politischen Ziele betätigt. Man muss daher über Herrn Nawalny überhaupt nichts weiter wissen, sondern hat deswegen für ihn Partei zu ergreifen, weil er von Putin nicht geschätzt wird. Muss es einen da wirklich wundern, wenn sich sogenannte Querdenker dazu ermutigt fühlen, sich dem Tragen einer Schutzmaske gegen Corona zu widersetzen, um sich beim Einschreiten der Polizei demonstrativ filmen zu lassen und so deren „Menschenverachtung“ zur Schau zu stellen? In ihrem Idealismus der reinen Opposition vermögen sie eben nicht zu begreifen, dass beim politischen Gegner noch die lächerlichsten Motive dadurch geadelt werden, dass sie dem Gegner gelten, dieses Verfahren für die „eigene“ politische Führung jedoch nicht gilt. Hier verhält es sich umgekehrt vielmehr so, dass selbst vernünftige Kritik mit einem „Querdenken“ gleichgesetzt wird, das ohne Gegner ohne jeden Inhalt wäre.

So lässt sich einmal mehr festhalten, dass aus Fakten nicht zwangsläufig bestimmte Urteile folgen, sondern umgekehrt bereits feststehende Urteile sich jene Fakten beschaffen, in denen sie sich bestätigt sehen. Nur so kann es schließlich gelingen, dass die Opfer von Kriegen im einen Fall als Akte berechtigter Notwehr, in anderen Fällen dagegen als „Kriegsverbrechen“ oder Genozid gelten, welche die „Menschenverachtung“ ihrer Urheber beweisen würden. Viel wichtiger als das Zählen der Leichenberge wäre daher die Klärung der Frage, welche Urteile und Überzeugungen bei jenen Menschen vorliegen, die sich zur Anwendung solcher Gewalt berechtigt glauben. Diesem Anliegen gerecht zu werden, ist der Anspruch meiner Bücher.


[1] Peter Hacks: Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955–2003, Berlin 2018, S. 283

[2] Ebenda, S. 282

[3] Ebenda, S. 283

[4] Ebenda

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